„Worum geht es in Ihrer Predigt?“

Predigtentwurf
Kernaussage hervorgehoben

Die Frage, worum es in der eigenen Predigt ging, überrascht einen meist kalt. Zum Beispiel, wenn jemand von der Zeitung nach einem besonderen Gottesdienst fragt, über was man denn gepredigt hat. Meistens kommen dabei bloss Allgemeinplätze heraus. Mir geht die Sache seit dem WDR2-Gespräch nicht mehr aus dem Kopf. Warum ist das so schwer, spontan aber pointiert etwas zum eigenen Text zu sagen?

Mit dem Problem stehen Predigerinnen und Prediger nicht allein. Neulich haben Giovanno di Lorenzo und Hannelore Hoger bei „3 nach 9“ über „Babettes Fest“ gesprochen. Di Lorenzo wollte eine kurze Zusammenfassung, worum es in dem Buch geht, das Hoger gerade als Hörbuch eingesprochen hatte. Hannelore Hoger hat erzählt, was ihr an der Geschichte wichtig ist. Di Lorenzo war dies zu weitschweifig. Es war ein amüsanter Dialog darüber, was an einer Geschichte wichtig ist. Interessant war vor allem, dass Hoger auch deshalb ausholen musste, weil di Lorenzo die Geschichte und die handelnden Figuren anders verstanden hat, als Hoger selbst. Knapp sagen zu können, worum es geht, setzt offenbar die Überzeugung voraus, dass der Gesprächspartner die knappen Andeutungen richtig versteht.

Oft endet die kurze Bündelung in Allgemeinplätzen. In der Zeitung liest man dann Sätze wie „Bischof ruft zu Frieden und Mitmenschlichkeit auf“ – auch wenn der Schwerpunkt der Predigt ein ganz anderer war. Als ich neulich gefragt wurde, worum es in meiner Weihnachtspredigt ginge, fing ich an von Licht und Dunkelheit zu erzählen. Das war zwar nicht verkehrt, aber darum ging es nicht. Es war nur die Leitmetapher für den Gedanken: „Es gibt in der Weltgeschichte und im eigenen Leben genug Gründe dafür, dass es Gott nicht geben kann. Weihnachten bedeutet, mitten in diesen Gründen zu entdecken: Gott ist da – mitten in dieser Welt, die voll ist von Gründen, warum es Gott nicht geben kann.“ Weil der Gedanke paradox ist, schien er mir vielleicht zu komplex, um ihn direkt sagen. Also folgte die Flucht in die Metapher vom Gott als Licht mitten in der Dunkelheit – eine Metapher, die alles und nichts sagt. Ein Allgemeinplatz eben.

Bekanntlich sagt eine Bild mehr als tausend Worte. Für die Predigtarbeit ist es aber wichtig, die bildhaften Allgemeinplätze und abgegriffenen Metaphern zu reflektieren und ihre Aussagemöglichkeiten zu reduzieren. Ich habe eine zeitlang versucht, über jedes Predigtmanuskript meine Hauptaussage zu formulieren – und zwar so, dass sie eine interessante Spannung enthält. Vergleichen kann man das vielleicht mit den Untertiteln in manchen Zeitungen. In der ZEIT z.B., steht unter der Überschrift in der Regel in ein oder zwei Sätzen beschrieben, worum es im Artikel geht. Diese Beschreibung macht das Lesen das Artikels nicht überflüssig. Im Gegenteil: Wenn die Beschreibung gut formuliert ist, weckt sie das Interesse für die Lektüre. Mein Versuch, solche Predigt-Unterüberschriften für meine Predigtentwürfe zu formulieren, zielten allerdings nicht auf die Predigthörer, sondern auf mich als Prediger: So habe ich mir vor der Predigt noch einmal in Erinnerung gerufen, worum es mir beim Vorbereiten ging.

Predigtvorbereitung kann insgesamt als Arbeit an solch einer Aussage verstanden werden. Es ist wie die Arbeit an einer These in einem wissenschaftlichen Aufsatz: Man schreibt dieses These nicht einmal auf und hat sie dann, sondern schreibt die These dauernd um und weiter, bis sie möglichst pointiert die Antwort auf eine Frage oder ein Problem liefert. So beschreibt z.B. Frank Cioffi das Vorgehen beim Schreiben eines Essay. Es hilft dabei, die Linie für die eigene Arbeit zu halten. Bei der Predigt ist es nicht anders, auch wenn die Predigt auf andere Form- und Stilelemente zurückgreift als der wissenschaftliche Aufsatz. Ich habe in meiner Weihnachtspredigt z.B. auf eine Geschichte von Margret Rettich zurückgegriffen. Und als ich beschrieben habe, was Dunkelheit alles konkret bedeuten kann, ging das Licht in der Kirche für eine Zeit aus. Techniken der Inszenierung meiner zentralen Predigtidee. Aber es ging in der Predigt weder um Licht und Dunkelheit noch um die Rettich-Geschichte vom Herrn Probst, sondern um meine Interpretation der Weihnachtsbotschaft. Vielleicht – wenn ich mir wieder angewöhne, meine Hauptaussage über das Predigtmanuskript zu schreiben – kann ich beim nächsten Interview auch pointierter sagen, worum es in meiner Predigt geht.

 

Steve Jobs als Prediger

Steve Jobs
Steve Jobs

Kann die öffentliche Rede von evangelischer Predigtkultur wichtige Impulse erwarten? Thomas Klie hat diese Erwartung an die Predigt und die Unterrichtenden in der Homiletik durchscheinen lassen. Sein Argument: Die Kirche sei die „einzig verbliebene gesellschaftliche Großinstanz, die sich noch professionell mit der Redekunst befasst“ (Der Beitrag der Kanzelrede zur rhetorischen Kultur unserer Gesellschaft, in: Evangelische Predigtkultur, S. 33).
Angesichts der neulich von der FAZ aufgeworfenen Frage, ob nicht mittlerweile andere Instanzen die Aufgabe der Predigt in unserer Gesellschaft übernommen haben, ein interessantes Dilemma: Theologische Fakultäten und Predigerseminare befassen sich als letzte Verbliebenen um professionelles Reden – dabei wird längst außerhalb der Kirchen zuweilen eindrucksvoller gepredigt als auf den Kanzeln. Dafür bietet nicht nur das Feuilleton gute Beispiele.
Eine zweifellos spannende Rede war die Ansprache von Apple-Gründer Steve Jobs bei der Abschlußfeier der Stanford University 2005. Im Zusammenhang mit Jobs Tod wird davon wieder berichtet, weil Jobs sehr eindrucksvoll über den Umgang mit Krankheit und Sterben sprach. Natürlich ist die Rede keine Predigt. Diesen Anspruch hätte Jobs sicher selbst nicht gehabt. Aber sie zeigt auf beeindruckende Weise, wie eine Rede von 15 min Dauer elementare Fragen des Lebens und Glaubens authentisch zur Sprache bringen kann. Was könnte Predigt sein, wenn sie davon lernen und sich inspirieren lassen würde?

In der ZDF-Mediathek findet sich aktuell eine Fassung mit deutschen Text, die das Anschauen lohnt.
[Link zur Rede von Steve Jobs in der ZDF-Mediathek]

Der Text der  Rede ist auf der Homepage der Stanford University zu finden. Eine einfache, deutsche Übersetzung findet sich im Blog humanity. Eine weitere, etwas elegantere im Blog macversus.

Predigt und Kanzelrede

Sind die Wörter „Predigt“ und Kanzelrede“ eigentlich Synonyme? Wer in die Untertitel der beiden in diesem Jahr erschienenen Bücher „Präsent predigen“ und „Evangelische Predigtkultur“ schaut – beide mitherausgegeben von Alexander Deeg – könnte einen entsprechenden Eindruck gewinnen. Auch in diesem Jahr erschienen ist eine Sammlung von Predigten und Kanzelreden mit Herzen, Mund und Händen (herausgegeben von Kathrin Göring-Eckardt und Gerald Hagmann). Hier wird offenbar unterschieden.

Tatsächlich war im 19. Jahrhundert der Ausdruck „Kanzelrede“ im Sinne von Predigt durchaus verbreitet – wobei der Ausdruck zum Teil auch für Ansprachen im Gottesdienst verwendet wurde, die neben der eigentlichen Predigt gehalten wurden. Soweit ich das überblicke hat es eine wirklich scharfe Trennung nie gegeben. In den letzten Jahren hat sich aber ein bestimmter Wortgebrauch etabliert. Danach sind „Kanzelreden“ Reden auf der Kanzel von nicht-ordinierten Rednern, oft Politikern oder Künstlern.

Hintergrund ist das sogenannte Kanzelrecht, das in den unterschiedlichen Gliedkirchen der EKD zwar unterschiedliche gehandgabt wird, das aber einen Kern hat: Eine eigenständig erabeitete Predigt darf grundsätzlich nur von einer dazu von der Kirche ordinierten Person vorgetragen werden – das sind Pfarrerinnen und Pfarrer, sowie Prädikantinnen und Prädikanten. Soll ein nicht-ordinierter Gast in einem Gottesdienst predigen, bedarf es dazu der Zustimmung des Pfarrers oder des Presbyteriums/Kirchenvorstands (hier sind die Regelungen uneinheitlich). Statt von Predigt wird deshalb von Kanzelrede gesprochen. Diesem Wortgebrauch folgt der Band von Göring-Eckardt und Hagmann, der auf eine besondere Predigtreihe im Rahmen der Kulturhauptstadt 2010 in Bochum zurückgeht. (Für Notfälle, also wenn kein Pfarrer zum Gottesdient erscheinen kann, gibt es sog. Lesepredigten, die z.B. von einem Presbyter vorgetragen werden können.)

„Kanzelrede“ markiert den Ort, von dem aus geredet wird. Das macht Hans Martin Müller in seiner Homiletik deutlich, wenn er – im Rückgriff auf Schleiermacher – betont, dass die (monologische) Predigt auf der Kanzel eine bloß historisch bedingte Erscheinungsform und mithin die Kanzelrede nicht identisch mit der Predigt ist (S. 182f). In vielen Gemeinden wird gar nicht mehr oder nur in besonderen Situationen von der Kanzel geredet: Moderne Kommunikationstechnik macht die ursprünglich aus akkustischen Gründen errichteten Kanzeln eigentlich überflüssig. Es gibt sogar Kirchen, in den denen die Kanzel nur noch zu „Kanzelreden“ verwendet wird – also dann, wenn ein Gastredner spricht.

Die Kanzel ist natürlich ein wichtiger symbolischer Ort. Sie ist symbolischer Ort, weil sie zusammen mit Altar und Taufstein zu den Prinzipalstücken, die seit dem 17. Jahrhundert die meisten evangelische Chorräume prägen – meist am Chorbogen anbebracht. Während die anderen beiden Prinzipalien Abendmahl und Taufe repräsentieren steht die Kanzel für das Wort Gottes. Dabei wurde unterschieden zwischen dem Ambo als Ort der Lesung und der Kanzel aus Ort der vom Prediger zu verantwortenden Auslegung. Wegen dieser symbolischen Bedeutung bleibt die Kanzel in manchen Gemeinden ausschließlich Pfarrern und Prädikanten vorbehalten – Gastredner müssen an den Ambo oder eine besondere Redestelle ausweichen. Liturgisch ist eine solche theologische Überhöhung der Kanzel aber unsinnig.
Die Kanzel ist aber auch in negativer Hinsicht symbolischer Ort für ein pfarrherrliches „von oben herab“ und für ein umgangssprachliche gewordenes „abkanzeln“. Predigerinnen und Prediger nutzen deshalb seit den 1970er Jahren andere Predigtorte, vor allem um auf Augenhöhe mit der Gemeinde zu reden. Das dürfte mit ein Grund dafür sein, dass es in vielen neueren Kirchen gar keine Kanzel mehr gibt, sondern nur noch einen Ort für Lesung und Predigt: Ambo und Kanzel verschmelzen gewissermaßen wieder, wie zur Zeit vor der Reformation.

Predigt und Kanzelrede sind also nicht synonym. „Kanzelrede“ kennzeichnet entweder eine Predigt durch den Ort, an dem sie gehalten wird oder sie kennzeichnet eine Rede auf der Kanzel von jemandem, der nicht qua Amt, sondern ausnahmsweise dazu beauftragt ist. Da sich letztes in der Vergangenheit als Sprachgebrauch etabliert hat, spricht manches dafür, den Begriff für solche Formen der Rede von Gastrednern in einer Kirche zu reservieren – selbst wenn es in der Kirche gar keine Kanzel gibt.

Ist das Feuilleton die Predigt von heute?

„Kann es nicht sein,“ stellt die FAZ die interessante Frage, „dass ganz einfach andere Institutionen [als die Kirchen; KD] die Aufgaben der Predigt übernommen haben? Die ‚Zeit‘ zum Beispiel. Am Ende sogar wir hier? Das Feuilleton [der FAZ; KD]?“

Peter Richter, Kulturredakteur bei der FAZ, richtet die Frage an den Münchener Systematiker Friedrich Wilhelm Graf [Link zum FAZ-Interview]. Dabei will sich Richter aber sicher nicht zu der These versteigen, Feuilletonisten hätten die Aufgabe der Verkündigung übernommen. Doch das, was evangelische Predigt in liberaler Perspektive einmal war, nämlich eine Reflexionsinstanz im Medium der religiösen Rede,scheint sich zugunsten anderer Schwerpunktsetzungen aufgelöst zu haben: Graf jedenfalls macht eine Tendenz zu Infantilisierung, Psycho-Jargon und zunehmender Moralisierung der Predigt aus. Aber es ist weniger Analyse als Provokation.

Aufgabe der Predigt wäre nach Graf, elementare, existenzielle Spannungen und die Widersprüche des Lebens religiös zu deuten – aber dieser Aufgabe stellt sich die Predigt nicht, weil sie den Menschen diese Spannungen nicht zumuten will. Sie flüchtet in „Wohlfühlrhetorik“. Und genau da setzt die implizite These von Peter Richter an: Es sind andere Instanzen, die diese Aufgabe übernommen haben. Dabei geht es nicht um existentielle Fragen allein: Spätestens mit der Zeitrubrik „Glauben und Wissen“ wagt sich das Feuilleton tatsächlich in religiöse Deutungsgefilde vor. Und sie macht das nicht schlecht: Bei Robert Leicht beispielsweise, dem langjährigen Chefredakteur der ZEIT, habe ich in den vergangen Jahren mit die besten Lesepredigten gefunden, die zu aktuellen religösen Fragestellungen zu finden sind.

Man muss nicht in den kulturpessimistischen Tonfall Grafs einstimmen, um die Probleme gegenwärtiger Predigtpraxis zu sehen: Theologisch anspruchsvolle Predigten kranken oft daran, dass sie zu akademisch sind. Einfache, theologische Antworten driften oft ins fundamentalistisch-frömmlerische ab. Und wer sich dazwischen bewegt, findet sich schnell auf dem Niveau von Lebenshilferatgebern wieder.

Vielleicht könnte eine Lösung darin bestehen, die Methoden des Feuilletons für die Predigtpraxis zu nutzen.

Mich erinnert das an mein altes Anliegen, meine alten Überlegungen zum Esssay als Predigtform endlich mal weiter zu spinnen. Die Idee stammt noch aus einer Seminararbeit von 1993.

Wen’s interessiert – hier ist der alte Text (ohne wissenschaftlichen Apparat):

„Bereits im Verlauf meiner exegetischen Vorarbeiten habe ich über die Art und Weise der Darstellung dieser Ergebnisse in der Predigt nachgedacht. Durch die Beschäftigung mit der Textgattung Essay habe ich mich schließlich entschlossen, meine Predigt an die Essayform anzulehnen. Eine Vorentscheidung war, daß ich der Gemeinde gegenüber nicht mit dem Anspruch auftreten wollte, mit meiner Predigt nun ‚entscheidende Wahrheit‘ mitzuteilen. Meine Predigt soll ein Deutungsangebot sein, dies soll sich in der Form der Predigt ausdrücken.

Wenn ich an dieser Stelle von Form spreche, so gebrauche ich diesen Begriff nicht als einen etwaigen Hinweis auf eine bestimmte äußere Gestalt, die meine Predigt auch hat, sondern vielmehr als Bezeichnung der Vorgehensweise. Auch in Adornos Aufsatz „Der Essay als Form“ bezieht sich der Formbegriff nicht auf die äußere, literarische Gestalt sondern meint die Methode. Im Essay als Form, so schreibt Adorno, werde das Bedürfnis angemeldet, „die theoretisch überholten Ansprüche der Vollständigkeit und Kontinuität auch in der konkreten Verfahrensweise des Geistes zu annullieren“. Die Kritik richtet sich gegen die Vorstellung, daß ein „Gegenstand in lückenlosem Deduktionszusammenhang sich darstellen“ ließe. Dem Vorwurf, der Essay behandele seinen Gegenstand nicht erschöpfend, wird entgegnet, daß bei der Auswahl der Aspekte, die zur Darstellung eines Gegenstandes herangezogen werden, doch „nichts anderes entscheidet als die Intention des Erkennenden“.

Der „Gedanke der traditionellen Idee von der Wahrheit“, so konstatiert Adorno entledige sich im „emphatischen Essay“. Die Methodik beruht darauf, daß der Essay „in Freiheit […]zusammen [denkt], was sich zusammenfindet in dem frei gewählten Gegenstand“; Tiefe gewinnt er darin, wie tief er in den Gegenstand den er behandelt, einzudringen vermag, und nicht darin, wie stark die einzelnen Teile auf etwas anderes außerhalb des Behandelten zurückgeführt werden. Deshalb fängt er „nicht mit Adam und Eva an sondern mit dem, worüber er reden will; er sagt, was ihm daran aufgeht, bricht ab, wo er selber am Ende sich fühlt und nicht dort, wo kein Rest mehr bliebe“. Die Freiheit des Essayisten, zusammenzudenken, was sich zusammenfindet, verweist auf den experimentellen Charakter des Essay, für den nach Adorno „Glück und Spiel […] wesentlich“ sind. Damit ordnet sich der Essay der traditionellen wissenschaftlichen Abhandlung aber nicht als bloße Spielerei unter, vielmehr fordert er sie heraus, indem er ernst macht mit den Bedingungen auch des wissenschaftlichen Arbeitens, nämlich der Sprache, als Grundlage des Verstehens. Der Essay, indem er mit durchaus künstlerischen Impetus auftritt, kritisiert ein Modell von Wissenschaft, das „die begrifflichen Ordnungsschemata und die Struktur des Seins einander gleichsetzt“ ; ja er ist „die kritische Form par excellance“, indem er selbst die eigene dargestellte Meinung relativiert, wenn nicht gar liquiditiert.

„Essayistisch schreibt“, so zitiert Adorno Max Bense,“wer experimentierend verfaßt, wer also seinen Gegenstand hin und her wälzt, befragt, betastet, prüft, durchreflektiert, wer von verschiedenen Seiten auf ihn losgeht und in seinem Geistesblick sammelt, was er sieht, und verantwortet, was der Gegenstand unter den im Schreiben geschaffenen Bedingungen sehen läßt“.

Meine Predigt, vor allem die im Anhang abgedruckte Version für die Studierenden des Homiletikseminares, stellt einen solchen »Versuch« dar. Die zentralen Gedanken der Predigt gehen von Beobachtungen im Text aus, indem ich, im Gegensatz zu den herangezogenen Exegeten, für meine Predigt die Unstimmigkeiten nicht als Hinweise auf verschiedene Entstehungsstufen des Textes lese, sondern als bewußt eingesetzte Stilmittel, die die Hörerinnen und Hörer der Geschichte aufhorchen lassen sollen. Dazu gehört auch, wie im exegetischen Teil ausgeführt, daß ich den Text nicht allegorisch auslege.

Dabei gehe ich aber nicht beliebig vor, wie man mir vorwerfen könnte; auch der Essay „gehorcht […] logischen Kriterien insofern, als die Gesamtheit seiner Sätze sich stimmig zusammenfügen muß“ . Nun gilt für Predigten sicher nicht, daß sie im allgemeinen nach den Regeln der Logik funktionieren, sie folgen aber häufig jenen „Ansprüche[n] der Vollständigkeit und Kontinuität“, die „tendentiell schon die Stimmigkeit im Gegenstand“ präjudizieren (ebd.). Dagegen steht mit Henning Luther die Forderung, daß „der Text des Predigers möglichst wenig in der scheinhaften Gestalt eines abgeschlossenen Ganzen präsentiert werden [darf], das es nur zu übernehmen gilt, sondern in der zur Weiterarbeit (Weiterinterpretation) einladenden Gestalt des Fragments“.

Adornos Essay- und Luthers Fragmentbegriff sind über weite Teile kommensurabel. Nur nur, daß Adorno auch auf das Fragment anspielt, auch die Bedeutung des Differenzbegriffes und die Kritik an bestimmten Identitätsmodellen sind für beide Positionen konstitutiv.

Bezeichnet der Essay bei Adorno vor allem eine Methode, so setzt die Arbeit an der Predigt als Essay nicht erst bei der Formulierung der Predigt ein, sondern schon bei der Exegese. Wenn die „Differenz zwischen Text und Auslegung die Grundsituation aller Hermeneutik bestimmt“ (Jauß) und mit Luther „gerade nicht von der Identität zwischen Zeichen und Bedeutung“ auszugehen ist, dann bedeutet das für die Predigt, daß sie nicht in der Lage ist, zu predigen, was mit einem Text gemeint sei, sondern vielmehr in einen offenen Interpretationsprozess eintritt. Der Essay als Predigtform meint dann nichts anderes, als die Hörerinnen und Hörer in diesen Interpretationsprozess mithineinzunehmen.“

Predigt und Plagiat

Nicht erst seit Guttenberg und Koch-Mehrin wird über Plagiate diskutiert – auch bezüglich der Predigt. Auch wenn viele die Nase darüber rümpfen: Abgeschrieben haben Prediger schon immer. „Im Himmelreich gibt es kein Copyright!“, lautet die schmunzelnde Rechtfertigung.
Kein Geringer als Homiletik-Nestor Rudolf Bohren hat mit seinem Votum einst die Plagiate in der Predigt geadelt: Besser ein unbegabter Prediger schreibt eine gute Predigt ab, als dass er eine eigene Schlechte hält, lautet sein Argument.
Alexander Deeg, Praktischer Theologe an der Uni Leipzig und  Mitbegründer der Dramaturgischen Homiletik, wendet sich gegen Bohren: „Predigt soll ja nicht irgendetwas Passendes über einen biblischen Text sagen und möglichst allgemeingültige Lebensweisheiten vorlegen, sondern als Ereignis lebendiger Kommunikation Wirkung entfalten“, heißt es in einem Beitrag in der evangelischen Wochenzeitung Die Kirche [Link zum Artikel].
Was vor einigen Jahrzehnten noch ein homiletisches Problem war – das Ich-Sagen auf der Kanzel – wird bei Deeg zum homiletischen Programm. Ähnlich wie Guttenbergs Getrickse seine Glaubwürdigkeit zum Einsturz brachte, ist der Prediger, der ein falsches „Ich“ in der Predigt benutzt, nicht authentisch und wird fragwürdig.
Was mir an Deegs Einwurf gefällt ist, dass nicht unrealistische Forderungen an den Prediger gestellt werden (wie es manche alte Predigtlehre macht), sondern auch das kleine, bescheidene Predigtwort zu seinem Recht kommen lässt. Muss Predigt wirklich 15-20 Minuten dauern, fragt Deeg: „Wäre es eigentlich so schlimm, wenn auch einmal nur fünf Minuten gepredigt würde – und das Gesagte dafür pointiert und konkret wäre, aus dem Leben geboren und auf das Leben der Gemeinde bezogen? Wäre es so schlimm, wenn eine Predigt einmal mehr Fragen stellen, als Antworten geben würde?“
Auf diese natürlich bloß rhetorisch gestellten Fragen gibt Deeg die erwartete Antwort: Nein! Entscheidend ist, dass in der Predigt etwas zwischen Prediger und Gemeinde geschieht. Deeg lehnt damit nicht automatisch Internetquellen für die eigene Predigtarbeit ab. Predigten im Netz können zu einer Inspirationsquelle für die eigene Predigt werden. Aber das fremde Material muss eigenen Predigt werden.
Letztlich gilt auch hier, dass Predigerinnen und Prediger sich endlich vom alten Predigt-Paradigma der akademischen Rede lösen und sich mehr den Gesprächs- und Diskussionsbeitrag zum Vorbild nehmen. Da kann man gerne jemanden zitieren, aber sagen muss man’s selbst.

iPredigtuhr

EieruhrKeine Frage: Predigten können ganz schön lang(weilig) sein. Das hat man schon in der Reformationszeit erkannt und die immer länger werdenden Predigten mit Predigtsanduhren zu begrenzen versucht. Pfr.em Thomas Ter-Nedden hat davon eine schöne Foto-Sammlung unter zuerich-reformiert.ch ins Netz gestellt.
Die Predigtdauer konnte damals durchaus eine Stunde sein. Orientiert am klassischen Rhetorik-Schema von Einleitung, Durchführung, Anwendung und Schluss gab es Predigtuhren mit bis zu vier Gläsern, jeweils mit einer Durchlaufzeit von 15 min.
Mir ist so eine Predigtuhr erstmals im Elsass begegnet – in einer alten Kirche als Museumsstück. Geschichte und Funktionsweise solcher Uhren hat Dorothee Reimann auf der Seite der Deutschen Stiftung Denkmalschutz beschrieben.

Heute sind die Predigtzeiten in der Regel (zum Glück) deutlich kürzer. Am Anfang meiner Predigtpraxis habe ich ausformulierte Predigten am Schreibtisch so lange vorgetragen und gekürzt, bis eine Predigtlänge von 12min erreicht war – in der Kirche war ich dann in der Regel 2-3min länger. Mit zunehmender Sicherheit und dem Zutrauen, auch mit Stichworten und Mindmaps zu predigen, wurden die Predigten lebendiger, die Sätze kürzer und die Kommunikation mit den Hörerinnen und Hörern besser – aber im Eifer des Gefechts auch manche Predigt länger. Also habe ich begonnen, meine Taschen- oder Armbanduhr auf die Kanzel zu legen – mit mäßigem Erfolg, weil man entweder dauernd überlegen muss: Wann habe ich angefangen, wo bin ich jetzt, wann sollte ich aufhören? Die Erfahrung war, dass ich mit der Zeit kaum noch auf die Uhr geschaut habe.
Der nächste Versuch war eine Stoppuhr, was deutlich besser ging, aber wegen großer Nachteile bald wieder aufgegeben wurde: Zum einen war es recht auffällig, zu Beginn der Predigt eine Stoppuhr zu starten. Zum anderen habe ich die Stoppuhr oft zuhause vergessen. Schnell bin ich dann doch wieder bei der Uhr gelandet, die ich sowieso dabei hatte.

iPod mit StoppuhrfunktionNatürlich achtet man mit der Zeit zunehmend auf Signale der Predigthörerinnen und -hörer, wie Husten, Räuspern, Knarren der Bänke: Die Aufmerksamkeit ist langsam weg, ich sollte zum Ende kommen. Sensibilität in dieser Beziehung ist gut und wichtig, objektive Zeitkontrolle als Ergänzung aber besser. Ein echter Quantensprung war da die Entdeckung der Stoppuhr auf dem iPod. Die Zeit lässt sich wunderbar ablesen. Die Bedienung ist denkbar einfach und unauffällig. Man muss vor dem Start nur dran denken, die automatische Abschaltung der Beleuchtung zu deaktivieren. Ich habe damit sehr gute Erfahrungen gemacht, wenn auch das Problem bestand, dass ich des öfteren den iPod zuhause vergessen habe.

Das vorläufige Endstadium der Selbstversuche ist das iPhone. Auch hier gibt es eine Stoppuhr (bei der ebenfalls die automatische Ausschaltung des Displays deaktiviert werden sollte). Diese Lösung bringt das iPhone bereits mit. Vorteil: Man hat es meistens sowieso dabei. Nachteil: Es ist deutlich größer als ein iPod.

iPhone-App "Discourse"Richtig professionell wird es dann mit der App „Discourse“ (App-Store-Link). Der „Redezeit-Manager“ ist schlicht und ohne große Einstellmöglichkeiten, aber er erfüllt wunderbar seine Aufgabe. Zunächst wird die zur Verfügung stehende Redezeit (grün) eingegeben (und optional noch eine Warnzeit (gelb) und eine Alarmzeit (rot). Die Startübersicht zeigt die Aufteilung nach Minuten und nach der aktuellen Uhrzeit an. Nach dem Klick auf Start wird die Uhrzeit sowie die verbleibende Restzeit angezeigt.
Der Farbcode zeigt an, wann man den „grünen Bereich“ verlässt: „Gelb“ sagt in meinem Beispiel: „nach gut vier Minuten“, „rot“ bedeutet „Achtung“ In zwei Minuten sollte Schluss sein!“. Zum Ende der Redezeit erscheint eine Stopphand, die Zeit läuft aber weiter, und zeigt, wieviel man überschritten hat.

Berührt man während der Rede das Display, erscheint ein Warnhinweis, ob man eine Pause einlegen möchte. Man muss mit dies mit „Ja“ bestätigen. Mit dem Klick auf „continue“ läuft die Uhr anschließend weiter. Das funktioniert am Schreibtisch ganz gut, aber für die Redepraxis wäre es hilfreich, wenn der Pause-Dialog etwas länger angezeigt würde und das Bestätigungsfeld größer wäre: Im Eifer der echten Rede tippt man schnell daneben und kommt bei mehren Versuchen aus dem Konzept. Optimal wären dafür zwei große, farbige Tasten im unteren Displaybereich. Ob man die Unterbrechungsfunktion für die Predigt braucht, sei dahingestellt, aber wer sich erstmal an den Rede-Manager gewöhnt hat, wird ihn möglicherweise auch in anderen Bereichen einsetzten: bei Vorträgen in Gemeindegruppen oder beim Konfirmandenunterricht.

Der Bildschirm-Wechsel im Laufe der Anwendung: Die Redezeit lässt sich unterbrechen. Die Farben helfen, sich zeitlich zu orientieren.

Was sind „moves“?

Ein Kernbegriff in Buttricks Homiletik sind „moves“. Die deutsche Interpretation des Begriffs irritiert mich allerdings. Martin Nicol versteht die moves als „die kleineren bewegten Einheiten einer Predigt“ (Einander ins Bild setzen, S. 108), die „den Sequenzen im Film (movie) vergleichbar sind“. Wenn ich „moves“ lese, lese ich etwas anderes.
Buttrick versteht „moves“ als Gegenbegriff zu „points“: Sprache ist lebendig und beweglich. Wenn ein Prediger „Punkte“ abhandelt, verliert seine Rede an Schwung und Beweglichkeit: Der Prediger steht distanziert außerhalb des Geschehens, und bringt aus dieser Distanz durchaus vernünftige und objektiv richtige, aber gerade dadurch reiflich steife, ewige Wahrheiten zur Sprache. Moves nutzen die Beweglichkeit der Sprache und lassen die Sprache so lebendig werden.
Um das zu verstehen, muss man nicht die „Filmsprache“ bemühen. Es reicht, sich zu vergegenwärtigen, dass wir sprechend handeln. Wittgenstein sprach davon, unsere sprachlichen Handlungen als Züge in einem Spiel zu verstehen. Auf English ist hier von „moves“ die Rede. Mir scheint das der sinnvollere Hintergrund, vor dem Buttricks „moves“ zu verstehen sind. Er selbst verweist im Literaturanhang auf die Sprachphilosophie und die Sprachpragmatik von Wittgenstein, Austin und Farb, nicht auf die Filmtheorie.
Damit ist der Zusammenhang mit dem Film nicht widerlegt: Man kann moves durchaus als Szenen eines Filmes verstehen. Grundlegender scheint mir aber, die Predigt als sprachliche Handlung zu verstehen, die aus einzelnen sprachlichen Zügen gebildet wird.
[siehe auch den Post vom 6.3.11 „Moves und Points“]

Buttricks Homiletic

Ich nehme einmal mehr David Buttricks Homiletik zur Hand und stelle mal wieder erstaunt fest: Das Schlechteste, was es über dieses Buch zu sagen gibt, ist: Es liegt immer noch nicht auf deutsch vor. Das ist eigentlich erstaunlich, weil es mittlerweile immerhin über 20 Jahre alt ist – und in mancherlei Hinsicht zu dem Besten gehört, was im Bereich der Homiletik in dieser Zeit veröffentlicht wurde. Wer „David Buttrick“ ergoogelt, wird kaum Seiten auf Deutsch finden. Wer nach den beiden Kernbegriffe „Moves and Structures“ sucht, landet schnell bei Martin Nicol und der dramaturgischen Homiletik – soweit ich sehe der einzige deutschsprachige Ansatz, der sich ernsthaft mit Buttrick auseinander setzt. Als ich das Buch vor fünf oder sechs Jahren das erste Mal gelesen habe, hat es mir die Perspektive für eine ganz andere Homiletik eröffnet: eine Homiletik, die jenseits von der deutschen Aufsatz- und Vortragshomiletik auf Techniken der Inszenierung setzt. Ich will mir das Buch in den nächsten Wochen nochmal vornknöpfen. Wenn ich Zeit hätte, würde ich es am liebsten selbst übersetzen, denn ohne deutsche Version wird es wahrscheinlich auch 25 Jahre nach Ersterscheinen (das wird nächstes Jahr sein) den meisten deutschen Predigern unbekannt sein.

P.S.: Ich stelle grad fest, dass es nicht mal in der englischen Wikipedia einen Eintrag zu Buttrick gibt. Bei homileticsonline.com gibt es zumindest ein Interview.