Die konservative Aneignung des Traditionsbegriffs
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„Der Konservatismus will das Bestehende, soweit es überkommen ist, bewahren.“ – Nach dieser knappen Bestimmung ist der Konservatismus bereits in seinem Grundzug auf Tradition ausgerichtet, denn es geht ihm nicht einfach um Bewahrung des Bestehenden, sondern um die Bewahrung des auf Tradition sich gründenden Bestehenden. Mag diese Bestimmung als Definition zu schwach und als Beschreibung des modernen Konservatismus zu undifferenziert sein, so soll sie für die Zwecke dieser Untersuchung genügen, um zwei unterschiedliche, wenngleich miteinander verwandte Ansätze zusammen zu fassen und Grundzüge eines gemeinsamen, konservativen Traditionsverständnisses darzulegen. Ziel dieser Darlegung ist, zu erläutern, was ich unter der konservativen Aneignung des Traditionsbegriffs verstehe. Auch wenn diese Aneignung folgenreich gewesen ist und sich fundamental auf unser heutiges Verständnis von Tradition auswirkt, ist sie nicht unwidersprochen geblieben. Zwar ist dieser Widerspruch nur sehr verhalten erfolgt, trotzdem macht er bereits auf einen wichtigen Aspekt aufmerksam, warum auch aufgeklärte Ansätze auf einen Begriff von Tradition nicht verzichten können.
Zum Traditionsbegriff des Konservatismus
Der Konservatismus, wie ich ihn hier in den Blick nehme, hat seine Wurzeln in der Reaktion auf die Französische Revolution. Es mag so etwas wie einen natürlichen Konservatismus geben, das heißt eine allgemeine menschliche Tendenz, an Bewährtem und Erreichtem festzuhalten, und es wird sicherlich bereits vor 1789 Auffassungen gegeben haben, die sich ebenfalls als konservativ bezeichnen lassen, aber dieser Frage soll hier nicht nachgegangen werden: Die Französische Revolution war ein einschneidendes Ereignis für ganz Europa, und in ihr kulminierten neuzeitliche Entwicklungslinien, die maßgeblich mit Humanismus und Protestantismus begannen und in Rationalismus und Aufklärung ihren Höhepunkt erreichten. Dieser plötzliche Umbruch eines staatlichen Systems unterschied sich von der Reform Englands von 1688 und auch von der Amerikanischen Revolution von 1776, weil er wesentlich gewalttätiger verlief und sich in Frankreich ein starker konterrevolutionärer Widerstand formierte. Für die Konterrevolutionäre wurden die Leitbegriffe der Revolutionäre zu Gegenbegriffen – und umgekehrt die Gegenbegriffe zu Leitbegriffen: Natur versus Zivilisation/Kultur, Subjekt versus. Gemeinschaft oder – und für uns besonders wichtig – Rationalität versus Tradition.
Martin Greiffenhagen legt in seiner Analyse des Konservatismus allerdings dar, wie die antirationalistischen Tendenzen des Konservatismus diesen in die paradoxe Situation führen, mit einem Modell „irrationaler Rationalität operieren zu müssen. Auch ein rationalitätskritischer Konservatismus kommt nicht umhin, will er seine Position verständlich darlegen, rational für seine Kritik zu argumentieren. Eine Bestimmung des Konservatismus kann deshalb nicht dabei ansetzen, ihn im Gegensatz zum Rationalismus zu verstehen, sondern sie muss ansetzen bei der Abhängigkeit des Konservatismus von einem aufgeklärten Rationalismus, der die Grundlage der Revolution bildet. Diese Abhängigkeit wird zwar nach konservativem Selbstverständnis nicht unbedingt geleugnet, aber die ambivalente Struktur konservativer Selbstdarstellung ist davon geprägt.
Als eine der frühen Ausprägungen der konservativen Reaktion auf aufgeklärtes Denken gilt der Französische Traditionalismus. Dessen Hauptvertreter Louis de Bonald ist offenbar alles andere als ein Irrationalist. Robert Spaemann behauptet sogar, dass der in restaurativer Absicht entworfene Traditionalismus Bonalds, indem er erstmals in empirischer Absicht den Menschen als soziales Wesen untersuche, zu den Geburtshelfern der Soziologie als Wissenschaft gehöre und auch moderne Sprachtheorien vorgeprägt habe. Zu Bonalds Grundanliegen zählt die Entwicklung einer Theorie der bürgerlichen Gesellschaft (société civile), die sich an der Grundstruktur einer Einheit von Staat und Religion orientiert. Diese religiöse Orientierung kennzeichnet auch die eher zurückhaltenden konservativen Ansätze auf deutscher Seite, etwa bei Adam Müller und Friedrich Julius Stahl. Bonalds Traditionalismus wendet sich gegen die gesellschaftliche Abwendung vom Katholizismus hin zu einem sozial-politischen Atheismus. Der Mensch, so seine Kritik, gibt sich eine selbstverfasste politische Ordnung, die nicht mehr der Natur als einer göttlichen Schöpfungsordnung entspricht und deshalb von einem radikalen Glaubensabfall zeugt: „Die Revolution ist der Aufstand des Menschen in seiner Subjektivität gegen die Gesellschaft, und sie ist politischer Atheismus. Die konkrete Totalität des menschlichen religiös-gesellschaftlichen Daseins wird in der Revolution durch den Totalitarismus abstrakter Universalien abgelöst.“ Die abstrakten Universalien und der abstrakte Humanismus kommen zum Ausdruck in den Menschen- und Bürgerrechtserklärungen, die ein Gleichheitsdenken fordern, obwohl Menschen in ihren konkreten gemeinschaftlichen Bezügen ungleich sind. Um dieser Ungleichheit entgegen treten zu können, ist eine Bewahrung der natürlichen Ständeordnung nötig. Sie entspricht der göttlichen Ordnung und ist der menschlichen Vernunft genau entgegengesetzt. Gewahrt werden kann diese Ordnung nur durch die Wiederherstellung, also Restauration, der Beziehung von Thron und Altar.
Tradition erscheint hier zunächst vornehmlich als überkommene Ordnung; und obwohl Bonald sich an einem feudalistischen Ständemodell orientiert, weisen seine Grundüberlegungen, gerade was die Gegenüberstellung von abstraktem Universalismus und konkreter Gemeinschaft betrifft, viele Parallelen zur idealistischen Aufklärungskritik bis hin zum Kommunitarismus auf. Im Kern des Traditionalismus Bonalds sieht Spaemann aber eine Sprachtheorie, von der aus eine Fundamentalkritik am methodischen Zweifel des Rationalismus vorgelegt wird. Auch hier spielt die konkrete gesellschaftliche Verfasstheit, in der sich Menschen vorfinden, die zentrale Rolle, denn in der Sprache ist dem Menschen eine traditionale Bindung so absolut vorgegeben, dass sie einen absoluten Neuanfang des Denkens unmöglich macht. Man kann nicht mit einem radikalen Zweifel beginnen, weil man dann auch an der Sprache zweifeln müsste, durch die dieser Zweifel aber überhaupt erst formuliert werden kann. Genauso wenig ist es möglich, die tradierten moralischen und politischen Vorstellungen einem radikalen Zweifel zu unterziehen: „Wer den allgemeinen moralischen Ideen der Menschheit, die in der Sprache überliefert sind, seine Zustimmung versagt, gerät mit sich selbst in Widerspruch; er versucht, ‚die Idee von ihrem notwendigen Ausdruck zu trennen‘ […]. Folgerichtig müßte er eine eigene Sprache erfinden, und auch das könnte er nur unter der Voraussetzung der bereits bestehenden Sprache. […] Die wahre Philosophie von Gott, Mensch und Gesellschaft wäre statt des ohnmächtigen Versuchs, die in der Sprache der Menschheit gegenwärtigen Ideen auszurotten oder ihren Sinn zu verkehren, der entgegengesetzte Versuch, in der Sprache der Wahrheit zu begegnen. Und diese Wahrheit ist eine von alters her überkommene, göttlich offenbarte Wahrheit. Bonalds Traditionsbegriff geht also nicht in einer überkommenen Gesellschaftsordnung auf, sondern ist viel umfassender gerichtet auf die natürliche Struktur des Menschen, der erst durch Tradition über sich selbst – und diesmal wahrhaft, nämlich durch göttliche Offenbarung – aufgeklärt wird. Das ist bei Bonald im eigentlichen Sinne Vernunft.
Dass die Überlegungen des Französischen Traditionalismus kaum Verbreitung gefunden haben – jedenfalls nicht offiziell –, ist möglicherweise auf die Verurteilungen dieser Ansätze als Irrlehren durch die katholische Amtskirche zurück zu führen. Großen Einfluss auf den Konservatismus wie allgemein auf die politische Theorie hatte dagegen Edmund Burke, der schon 1790 seine Betrachtungen über die Französische Revolution vorlegte und damit bereits auf die Französischen Traditionalisten eingewirkt haben dürfte. Sein Name ist zwar in der Regel weniger stark mit dem Traditionsbegriff verbunden, trotzdem spielt auch in seiner Gesellschaftskonzeption Tradition eine wichtige Rolle. Burkes Vorstellung von Gesellschaft ist dadurch geprägt, dass er sie als eine Art Organismus versteht, innerhalb dessen dem Einzelnen wie einem Organ in einem Körper bestimmte Funktionen zukommen. Zusammengehalten wird der Organismus durch Brauchtum und Tradition. Das Bild des Organismus bringt bereits zum Ausdruck, was zum Kern von Burkes Vorstellungen einer geordneten Gesellschaft gehört: Natur und Geschichte. Beide Bereiche sind nicht zu trennen, denn die Natur als Schöpfung Gottes bildet das Vorbild für die Ordnung, die sich geschichtlich im Staatswesen verwirklicht. Für unsere Fragestellung interessant ist aber die gewissermaßen naturalisierte Komponente, die Burke der Tradition dabei gibt: „Zur Zeit der Revolution wünschten wir, was wir jetzt wünschen, alles, was wir besitzen als eine Erbschaft von unseren Vätern ansehen zu können. Wir haben uns wohl vorgesehen, auf diesen Erbstamm kein fremdes Pfropfreis zu impfen, das sich mit dem ursprünglichen Gewächs nicht verwebt haben würde. Alle Reformen, die wir bisher vorgenommen haben, sind von dem Grundsatz der Achtung für das Alte ausgegangen, und ich hoffe, ja, ich bin fest überzeugt, alle, die noch jemals stattfinden mögen, werden sorgfältig auf Analogien der Vergangenheit, auf Autorität und Beispiel gegründet werden. Im Paradigma der Erbschaft kommt ein Verständnis von Tradition zum Ausdruck, das auf einen begriffsgeschichtlichen Aspekt von Tradition verweist, nämlich traditio als Vorgang der rechtswirksamen Vererbung einer Sache. Hierfür sehen konservative Ansätze im Gefolge Burkes in der Natur vor allem zwei Parallelen, die zu zwei naturanalogisierenden Vorstellungen von Gesellschaft führen:
Die erste Naturanalogie kommt zum Ausdruck im Bild der geschlechtlichen Fortpflanzung. Diese wird der Vererbung von konkreten wie von kulturellen Gegenständen analogisiert: wie sich die Züge von Vater und Mutter im Gesicht der Tochter erhalten, sich erwünschte Eigenschaften von Vieh und Pflanze durch Züchtung bewahren lassen, so gleicht Tradition dem Bewahren von Einzeldingen und kulturellen Gegenständen. Interessant an dieser Analogie ist, dass hier nicht biologische Lebensprozesse wie das Wachsen als Erklärungsparadigmen für Veränderungsprozesse angesehen werden, sondern umgekehrt: Das Paradigma rechtlicher Vererbung, mit dem wir vertraut sind, wird in jene mysteriösen Prozesse eingebracht, in denen sich biologisches Leben erhält.
Die zweite Naturanalogie nimmt dagegen biologisches Wachstum in den Blick und kommt zum Ausdruck im Bild des Baumes. Die Bilder des Wachsens und sich Verästelns werden analog zu geschichtlichen Veränderungen verstanden, die man an sich selbst, an anderen und an der sozialen Gruppe sieht. Dabei ist Geschichte in einem sehr allgemeinen Sinn verstanden jene Geschichte, in der zwei Ereignisse, eine Person früher und heute oder auch das Nacheinander von Tun und Ergehen erzählend zu einer Einheit werden. In den Verästelungen sieht man förmlich die Erzählstränge komplexer Geschichte sich festigen. Zugleich liefert der Baum eine Gestalt gewordene Vorstellung der Veränderungen selbst, nämlich durch Wachstum. Im Wachstum wird die Veränderung selbst anschaulich. Eine Variante dieses Bildes stellt das Bild eines Organismus dar, der ebenfalls wächst und zu einem Gebilde wechselseitigen Zusammenwirkens wird. Während also der Baum für ein ‚gewachsenes‘, geschichtlich ‚gewordenes‘ Gegenwärtiges steht, wird im Zusammenspiel der Organe – in einer einfachen Form Kopf, Fuß und Hand, mit wachsender Kenntnis biologischer Organismen Herz und Kreislauf, Nieren und Gehirn (oder mit einer mechanischen Wende die Zahnräder eines Uhrwerks) – das Zusammenwirken der Mitglieder einer Gemeinschaft anschaulich.
Beide Analogien treten häufig kombiniert und vermischt auf, so auch bei Burke in der Fiktion eines Erbstammes – wobei natürlich hier schon das Problem auftritt, dass sich beide Bilder einer solchen Kombination widersetzen: das Aufpfropfen eines anderen Stamms ist etwas anderes als eine Zucht durch ‚Vererbung‘. Aber nicht nur in dieser Hinsicht gilt, dass der Vergleich hinkt. Problematisch scheint mir nicht die Naturanalogisierung, sofern sie dem Verständlichmachen dient, sondern die damit manchmal verbundene Naturalisierung, also die Deutung kultureller Zusammenhänge als natürliche, denn aus dieser Naturalisierung entsteht oft ein Teil von dem, was seit Hume als naturalistischer Fehlschluss kritisiert wird: Was zu tun ist, leitet sich her von dem, wie es natürlicherweise zu sein hat. Was in der Natur nicht sein kann, kann und vor allem darf auch in der Kultur nicht sein. Bei Burke wie bei Bonald war dies noch durch einen religiösen Hintergrund abgestützt, dass nämlich die Natur- eine Schöpfungsordnung darstellt und dass an der Natur der Schöpfungsplan hinter dieser Ordnung abgelesen werden kann. Angewiesen ist das Modell allerdings nicht darauf: Die meisten biologisierenden Ethiken im 20. Jahrhundert verzichten auf das Modell einer göttlichen Schöpfungsordnung – oder ersetzen sie durch eine naturwissenschaftskonforme Metaphysik.
Was wird nun aus der Naturanalogie bei Burke abgeleitet? Zum einen natürlich der Aufbau von Staat und Gesellschaft – dazu bedient sich Burke des Organmodells. Wie dieser Aufbau aussieht, lasse ich unbehandelt. Entscheidend ist: Er ist zu gestalten, und zwar nach dem, wie er geworden ist. An dieser Stelle nun verschieben sich die Modelle ineinander, denn das Gewordene kann nicht von Stamm und Wurzel getrennt und eine andere Pflanze aufgepfropft werden. Vielmehr bedarf es der Erbschaft der Väter, um Orientierungsmaßstäbe zu haben. Er zielt damit darauf ab, zwei Veränderungsmodelle zu kontrastieren: Revolution (wie in Frankreich) oder Reform (wie in England). Revolution ist das Abkappen von Wurzeln und Stamm und das Aufpfropfen einer nicht aus diesem Stamm gewachsenen Alternative, also unnatürlich und deshalb schädlich, Reform hingegen ein natürlicher Entwicklungsprozess, der zwar von menschlichen Eingriffen nicht frei ist, aber dieser Eingriff erfolgt behutsam und am natürlichen Wachstumsprozess orientiert. Auf den Traditionsbegriff konzentriert lassen sich bei Burke zwei Punkte besonders hervorheben: Erstens führt Tradition als das Althergebrachte zur Legitimation des Gegenwärtigen, insofern es geschichtlich gewachsen ist. Das schließt nicht aus, dass es anderes Gewachsenes gibt – aber das sind andere Traditionen, die wie zwei unpassende Bäume sich nicht aufpfropfen lassen. Diese Legitimation ist fundamental religiös, denn Wachstumsprozesse sind natürliche Prozesse, die sich aus der göttlichen Schöpfungsordnung ergeben. Wer sich gegen eine solcherart legitimierte Ordnung stellt, tritt ein in einen „Krieg mit der Natur. Zweitens erlaubt und ermöglicht es Tradition, sich an Autoritäten und Beispielen aus der Vergangenheit zu orientieren, um durch Herstellungen von Analogien Lösungen für die gegenwärtigen Probleme zu finden. Das heißt: Tradition ist das, was von unseren Vorfahren als wahr und richtig geglaubt wurde. Dieses Wissen und diesen Glauben gilt es zu bewahren, weil die Vorfahren damit erfolgreich waren und deshalb zumindest nicht in allem Unrecht gehabt und geirrt haben können. In einer neuen Situation gilt es, sich daran zu erinnern, wie die Alten ähnliche Probleme gelöst haben. Erst wenn die Antwort der Tradition keine Lösung bringt, wird sie behutsam modifiziert.
Greiffenhagen sieht den konservativen Traditionsbegriff insgesamt durch zwei Aspekte gekennzeichnet: durch den Aspekt der Kontinuität und durch den Bezug auf ein Heiliges Wissen. Dieser Eindruck lässt sich nach dieser kurzen Betrachtung bei Bonald und Burke durchaus bestätigen – trotzdem ist der Begriff meines Erachtens noch zu weit gefasst. Denn Greiffenhagen, der im Traditionsbegriff den „Angelpunkt des konservativen Selbstverständnisses sieht, fasst nur zwei Aspekte zusammen, die bereits begriffsgeschichtlich mit Tradition zusammenhängen. Kontinuität als Dauer in der Zeit ist zunächst einmal jedem Prozess zu eigen, und Tradition in seiner Grundbedeutung als Weitergabe bezeichnet einen solchen Prozess. Und bis ins 18. Jahrhundert hinein war Tradition ein theologischer Terminus, der zur Begründung kirchlicher Lehrmeinungen diente. Greiffenhagen möchte mit dem Begriff der Kontinuität hervorheben, dass eine durch Tradition geschaffene Kontinuität als wichtigstes Lebensprinzip des Konservatismus gewertet werden kann. Allerdings sagt Greiffenhagen damit zunächst nicht mehr, als dass Bewahren (conservare) eng mit Fortführen (continuare) zusammenhängt. Damit kommt dem zweiten Punkt, dem Heiligen Wissen, eine besondere Bedeutung zu. Auch der religiöse Kern des konservativen Traditionsverständnisses ist bei Bonald und Burke unübersehbar: Dem Konservatismus geht es nicht um unterschiedloses Bewahren, sondern um das Bewahren dessen, was sich menschlicher Verfügungsgewalt entzieht, woraus sich auch die Nähe der Begriffe Tradition und Natur ergibt. Aber auch wenn der Konservatismus sicherlich eine gewisse Affinität zur Religionsorientierung aufweist, so ist das zu bewahrende Wissen nicht zwangsläufig heilig. Unzweifelhaft findet sich dieser Ansatz im Französischen Traditionalismus, nicht aber bei Burke: Die Religionsorientierung, bei allen Parallelen, hat bei Burke und Bonald jeweils eine andere Funktion. Das zu Bewahrende hat seinen Wert dadurch, dass es von alters her kommt, und dies kann ein religiöses Wissen sein, aber auch eine politische Institution, die erst in einem weiteren Sinne religiöse Aspekte erhält, nämlich durch ihre Einordnung in eine Schöpfungsordnung.
Greiffenhagens Verständnis eines konservativen Traditionsbegriffes bleibt unscharf, weil weder das Kriterium der Kontinuität noch das Vorliegen eines Heiligen Wissens ausreichen, um den konservativen von anderen Traditionsbegriffen zu unterscheiden. Im Gegenteil verweist sein Begriffsverständnis eher darauf, was man einen religiösen Traditionsbegriffes nennen könnte. Schärfer werden die Konturen des konservativen Traditionsverständnisses, wenn wir – den Gang der bisherigen Untersuchung zusammenfassend – einzelne Aspekte vor dem Hintergrund der Auseinandersetzung betrachten, in der der Konservatismus auf die Tradition zurückgreift:
1. Zunächst wäre hier zu nennen die Gegenüberstellung von menschlicher Vernunft und göttlicher Offenbarung. Der Konservatismus betont, dass der Mensch nicht auf seine eigene Rationalität gründen kann, sondern einer Grundlage bedarf, die seinem Zugriff entzogen ist. Deutlich wird dies vor allem in der Parallelisierung von Tradition und Natur.
2. Eine zweite Gegenüberstellung ist die Selbstbestimmung (des Einzelnen) und die Autorität (der konkreten Gemeinschaft). Weil das Recht auf Selbstbestimmung universal gelten soll, wird den Gegnern ein abstrakter Universalismus vorgeworfen und diesem ein konkreter Partikularismus gegenübergestellt. Der Mensch ist nicht bedingungslos frei zu tun, was er möchte, sondern er ist in konkrete Bezüge eingebunden, derer er sich nicht durch einen eigenen Willensentschluss entledigen kann und darf. Neben der kirchlichen Gemeinschaft und dem politischen Ständewesen, die dem Menschen eine Lebensweise vorprägen, ist es, wie Bonald betont, vor allem die Autorität einer konkreten Sprache, der selbst ein radikaler Zweifler unterworfen ist. Die Punkte 1 und 2 lassen sich auf einen gemeinsamen Nenner bringen, nämlich der Opposition von (menschlicher) Rationalität versus Tradition.
3. Schließlich wären jene Begriffe zu nennen, die vor allem die politische Auseinandersetzung prägen, und zwar zentral Revolution und Konservation. Der Begriff der Reform, den Burke einbringt, bildet ein Bindeglied, weil Burke sieht, dass manchmal umfangreiche Reformen notwendig sind, um eine Gesellschaftssystem insgesamt zu erhalten. Die beiden Pole Revolution und Konservation führen auf politischem Gebiet einen Streit weiter, der spätestens im 14. Jahrhundert zwischen moderni und antiqui und im 17. Jahrhundert als querelles des anciens et des modernes stattfand: Soll ein neuer, moderner Weg eingeschlagen werden, oder soll man bei dem Althergebrachten bleiben? Die Revolutionäre argumentieren allerdings nicht allein für eine via moderna, sie schlagen sie ein. Indem sie sich dabei gegen die Tradition als das Althergebrachte wenden, schaffen sie den konservativen Grundbegriff der Tradition. Was beide übersehen ist, dass das Alte zwar durch Tradition hergebracht wird, nicht dadurch aber schon das eine mit dem anderen identisch ist. Die begriffsgeschichtliche Folge ist, dass nun nicht mehr antiqui und moderni, sondern Traditionalisten und Modernisten einander gegenüber stehen.
Von einem konservativen Traditionsbegriff möchte ich dann sprechen, wenn er auf konkrete Traditionen bezogen ist, diesen Traditionen eine besondere Autorität zugeschrieben, die Unverfügbarkeit der Traditionsgehalte betont und der Begriff gegen eine wider das Alte revoltierende Moderne eingebracht wird. Dem Konservatismus geht es dabei nicht um Tradition als Überlieferungshandeln, sondern um die Überlieferung konkreter Traditionsgehalte beziehungsweise wie ich es nennen möchte: Traditionsmaterialien. Allerdings eignet er sich den Begriff an, ohne zu klären, was er bezeichnet. Von einer konservativen Aneignung des Traditionsbegriffs möchte ich deshalb sprechen, weil der Konservatismus die Begriffsoppositionen von Tradition versus Rationalität und Tradition versus Moderne so stark geprägt hat, dass sie unsere alltägliche, umgangssprachliche Verwendungsweise seit mehr als 150 Jahren bestimmen.
Die Zurückweisung der konservativen Aneignung
Zu Recht hat der Konservatismus in seinen vielfältigen Formen darauf aufmerksam gemacht, dass ein radikaler Bruch mit Tradition nicht nur nicht erfolgen sollte, sondern dass er nicht erfolgen kann, weil er gar nicht denkbar ist. Von revolutionärer Seite wird hingegen die zumindest hypothetische Verwerfung aller Traditionen ins Spiel gebracht: Wenn jede einzelne Tradition verworfen werden kann, dann können auch alle Traditionen verworfen werden. Damit wurde der prinzipielle Verzicht auf einen Traditionsbegriff erklärt und jede Entscheidung abhängig gemacht von der Gegenwart. Zwar nahmen auch die Revolutionäre Traditionen auf, aber sie nannten sie nicht so. „Die Männer der Revolutionen, schreibt Hannah Arendt, „fühlten sich durch Traditionen überhaupt nicht gebunden, sie waren stolz auf ihre Aufgeklärtheit und Vorurteilslosigkeit, und da sie noch nicht wußten, wie teuer ihnen diese Ungebundenheit zu stehen kommen würde, waren sie frei von allen Sentimentalitäten und all den Verbrämungen, in denen sich die Sehnsucht nach einer guten alten Zeit seit dem Beginn des neunzehnten Jahrhunderts zu äußern pflegt. Trotzdem greifen auch sie auf Überlegungen und Konzeptionen früherer Zeiten zurück, vor allem auf die antike Philosophie. Aber sie „wandten sich an die Antike nicht aus Traditionsbewußtsein, sondern, im Gegenteil, weil ihnen klar war, daß sie dort etwas entdecken würden, was die Tradition ihnen nicht überliefert hatte.
Dass man auf etwas zurückgreifen könnte, dass nicht überliefert wurde, mag zunächst irritieren: Die in wissenschaftlichen Texten wie in der Umgangsprache übliche Rede von der Tradition, die auch im Konservatismus begegnet, suggeriert eine Einheit der Tradition, für die sich kaum Beispiele angeben lassen. Wenn Arendt hier den Traditionsbegriff meidet, so ist dies ein Beispiel dafür, wie stark die konservative Aneignung des Traditionsbegriffs wirkt. Ernst Bloch hält den revolutionären Verzicht auf den Traditionsbegriff für eine künstliche Verarmung, die dadurch aufgehoben werden solle, dass die ‚progressive Linke‘ sich des Begriffs wieder vergewissere, indem sie der konservativen Verbrämung die „echte Tradition entgegenstelle:: „Es ist übel, wenn dieses Wort in Bausch und Bogen mit Rückschritt, mit Reaktion in eins gebracht wird. Unzweifelhaft enthält der Traditionsbegriff für Bloch Konnotationen, die ihn vergangenheitsorientiert erscheinen lassen, aber dies ist trügerisch, solange man darauf fixiert bleibt. Denn nur scheinbar steht der vergangenheitsorientierten Tradition eine zukunftsorientierte Utopie gegenüber; Bloch hält die Trennung von Tradition und Utopie für künstlich. Vielmehr gebe es zahlreiche Beziehungen und Übergänge zwischen beiden. Bloch geht es, wenn er den Begriff aufgreift, vor allem um die utopischen und zukunftsorientierten Gehalte der Tradition, und er stellt Tradition und Utopie in einen Zusammenhang mit der Revolution: „Wenn man Tradition und Vergangenheit, Utopie und Zukunft mit der Revolution als der Umwälzung auf ein Besseres, Helleres hin in eine Definition zwängen will, so kann sie lauten: Die Tradition ist die Revolution der Abgeschiedenen, die Revolution ist die Tradition der Zukünftigen. Zwar handelt es sich bei diesem Satz weniger um eine Definition als vielmehr um ein Bonmot, aber es bringt Blochs Anliegen sehr genau auf den Punkt.
Der Umgang mit der Vergangenheit ist zuweilen mit Vergoldung derselben, mit Romantisierung und Idealisierung verbunden – eine Erfahrung, die jeder durch seine eigene Lebensgeschichte bestätigen kann. Das ist für Bloch weitgehend unproblematisch. Zum Problem wird die Vergoldung aber durch eine „reaktionäre Benutzung der Vergangenheit als Utopikum. Was für Bloch den konservativen Traditionsbegriff auszeichnet, ist, dass Tradition als rückwärtsgewandte Utopie missverstanden wird, und zwar als etwas Gewordenes, Gewachsenes und Ausgereiftes. Für den Konservatismus liegt die Zukunft in der Vergangenheit – aber die Pointe bei Bloch ist, dass er das nicht grundsätzlich anders sieht. Nur dass nicht die „Tradition des Gewordenen, der Reaktion und der Zufriedenheit tatsächlich in die Zukunft weist, sondern die „echte Tradition , die sich dem Unabgegoltenem, dem Noch-nicht-Gewordenen, Missratenen und Unausgereiften zuwendet und dieses weiterführt. Es gibt zwar auch die „Nachreife einer Reife, an die sich anknüpfen lässt, aber es ist dann eine Fragment gebliebene Reife. Es sind diese Fragmente, die unabgeschlossenen Projekte der Vergangenheit, die nach Bloch wie nach Arendt die Revolutionäre der Neuzeit aufnehmen und fortführen: ‚Echtes‘ Traditionsbewusstsein knüpft an die unvollendeten revolutionären Ansätze der Abgeschiedenen, das heißt der vergangenen Generationen, an und schafft damit in der gegenwärtigen Revolution eine neue Tradition für die zukünftigen Generationen. Möglich ist das, weil die gescheiterten Projekte der Vergangenheit nicht vergessen, sondern als verborgene Tradition überliefert wurden. Bloch vergleicht dabei die Tradition mit einem Fluss, der mal ober-, mal unterirdisch fließt. Und auch wenn er nicht sichtbar ist, so fließt er doch weiter, und wenn er wieder auftaucht, kann es sein, dass er einen anderen Namen erhält. Die unterirdische ist gewissermaßen eine inoffizielle Tradition, die sich neben der offiziellen nicht zu etablieren vermochte. Dabei schwingen Überlegungen mit, die Walter Benjamin in seinen geschichtsphilosophischen Thesen vorlegte, dass nämlich die Herrschenden jeweils die Sieger beerbten und im Rückblick eine Geschichte der Siege überlieferten, hingegen der historische Materialist die Geschichte gegen den Strich bürste und die „Tradition der Unterdrückten in den Blick nehme. Der Konservatismus stützt sich auf eine offizielle Tradition, in der bestimmte Legitimations- und Autoritätsansprüche überliefert werden. In aufgeklärter Zeit lässt sich an diese Tradition nicht anknüpfen, ohne zugleich eben diese Ansprüche mit zu überliefern. Da die Revolution aber nicht vollkommen neu anfangen kann, knüpft sie an die inoffizielle Tradition der unvollendeten utopischen Projekte an und wird damit den zukünftigen Generationen zum Träger der Überlieferung. In dieser Weise hält sich die inoffizielle Tradition, auch wenn sie manchmal verborgen ist oder unter anderem Namen wieder auftaucht. Offizielle und inoffizielle Tradition bleiben allerdings eng miteinander verbunden – ein Umstand, den Bloch nicht so recht wahrnimmt. Denn dadurch, dass der Konservatismus sich gegen die Tradition der Abgeschiedenen wendet, hält er die Erinnerung an sie ebenso aufrecht, wie die Zuwendung zur unterirdischen Tradition in sich die Erinnerung an die kritisierte ‚oberirdische‘ Tradition bewahrt. Bei Bloch liegt deshalb der Verdacht nahe, dass sein Traditionsverständnis sich von dem konservativen Traditionsbegriff eigentlich nur hinsichtlich der Traditionsmaterialien unterscheidet.
Auch Theodor W. Adorno spricht von einer unterirdischen Tradition, weist damit aber noch auf etwas anders hin als Bloch. Adorno stellt fest, dass in der aufgeklärten Moderne keine Tradition mehr Gültigkeit beanspruchen, dass aber zugleich niemand auf Tradition verzichten könne. Auch ihm geht es dabei um die Seitenstränge, die inoffizielle Tradition. Unmittelbar motiviert ist Adornos Traditionsverständnis dabei durch die Erfahrung eines zugleich traditionslosen wie ?konstruierenden deutschen Faschismus: Die Tradition stelle „heute vor einen unauflöslichen Widerspruch. Keine ist gegenwärtig und zu beschwören; ist aber eine jegliche ausgelöscht, so beginnt der Einmarsch in die Unmenschlichkeit. Anzuknüpfen wäre für Adorno an „den Zug der in Deutschland verratenen und geschmähten Aufklärung, eine unterirdische Tradition des Antitraditionellen. Mit dieser paradoxen Formulierung ergreift Adorno aber nicht einfach Partei für eine radikale Traditionskritik, sondern er macht zugleich darauf aufmerksam, dass auch die Traditionskritik der Überlieferung bedarf.
Der Verweis darauf, dass radikale Traditionslosigkeit zu Inhumanität führe, macht Adornos grundsätzlich normatives Anliegen offenbar, wenn er sich mit dem Traditionsbegriff beschäftigt. Die Beziehung von Tradition und Normativität ist schwierig zu klären, weil sie überlagert ist von einem moralistischen Traditionalismus, der die Unverzichtbarkeit von Tradition nicht zuletzt mit dem Hinweis auf einen drohenden Moral- und Sittlichkeitsverlust anmahnt. Darin stimmen sowohl der Französische Traditionalismus eines Bonald, Burkes aufgeklärter Konservatismus aber auch die progressive Dialektik des Linkshegelianismus überein, an den der Kommunitarismus anknüpft. Bei Adorno ist die Beziehung von Tradition und Normativität eine andere, denn bei einem solchen Verständnis wird Tradition instrumentalisiert, und zwar entweder zur Aufrechterhaltung öffentlicher Ordnung oder, den Forderungen des modernen Selbstverständnisses angepasst, zur Sicherung des Fortschritts. Dieser Instrumentalisierung widerspricht Adorno, weil sie letztlich einem nur zweckrational gewendeten, feudalen Traditionsverständnis anhaftet: „Zweckrationalität, die Erwägung, wie gut es in einer angeblich oder wahrhaft entformten Welt wäre, Tradition zu besitzen, kann nicht verordnen, was von Zweckrationalität kassiert ist. Die Bedeutung der Tradition gründet vielmehr darauf, dass sie kulturkonstituierend ist und deshalb ihr Verlust Kulturverlust bedeutet. Da der Mensch nur in der Kultur ein moralischer Mensch sein kann, ist das Problem nicht der Rückgang konkreter Sittlichkeit, sondern der Verlust der Moralität als praktischer Vernunft selbst. Ein verlorener Traditionsbezug kann aber nicht dadurch wettgemacht werden, dass man an seine Stelle eine ästhetisierte Tradition setzt. Dies jedoch wirft Adorno der bürgerlichen Gesellschaft vor. Die Zweckrationalität als halbierte Vernunft verdrängt notgedrungen die Tradition. Die bürgerliche Gesellschaft versucht die Leerstelle, die sie fühlt, wieder zu füllen und greift dazu auf ästhetische Werte in Form der Kunst vergangener Epochen zurück. Diese werden zum „Kitt und „verordnete[n] Trost.
Adorno nennt dies falsche Tradition: Sie glaubt sich reich an Tradition, weil sie meint, über sie verfügen, sie verwerten zu können. Dabei ist die wahre Tradition gerade dort spürbar, wo man sich etwa künstlerisch ihrer bemächtigen will, nämlich durch ihren Widerstand. Für das Subjekt der Moderne wirkt die Tradition zerrüttet und in eine Vielzahl von Traditionen zerfallen. Dieser subjektiv empfundenen Traditionszerrüttung steht die ideologische Verordnung einer offiziellen Einheitstradition gegenüber. Was dabei übersehen wird, ist, dass Tradition weiterhin geschichtlich wirksam ist – sowohl für das Subjekt, das sich keiner Tradition mehr verpflichtet sieht, als auch für die Ideologen, die die unterirdisch wirkende, inoffizielle Tradition nicht wahrnehmen.
Wie lässt sich demgegenüber der Tradition angemessen begegnen? Zunächst ist für Adorno ein Zurückfallen hinter das Projekt der Aufklärung, das allein den kritischen Weg noch offen sieht, unmöglich. Es gilt aber je gegenwärtig zu fragen, welche Traditionen noch tragen und welche nicht. Die Tradition, an die sich anknüpfen lässt, ist unterirdische Tradition des Antitraditionellen, das noch unabgeschlossene Projekt der Aufklärung. In ihr geht es aber um ein kritisches Verhältnis zur Tradition, bei dem Tradition weder gänzlich ignoriert wird, weil sie altmodisch ist, noch historisch eingeordnet wird in eine Sammlung von Unvergänglichem. Beides wird von Adorno als historistisch abgelehnt. Der kritische Umgang mit Tradition bildet nur die äußere Form. Inhaltlich konzentriert sich ein angemessener Umgang mit ihr, wie bei Bloch, an dem „am Weg liegen Gebliebene[n], Vernachlässigte[n], Besiegte[n], das unter dem Namen des Veraltens sich zusammenfaßt.
Es gilt, die Tradition zu bedenken, sie wahrzunehmen und sich zu erinnern, ohne zugleich in ihr eine unumstößliche Autorität zu sehen. Unter modernen Bedingungen wird für Adorno das kritische Verhältnis zur Tradition zum Medium ihrer Bewahrung. Notwendig ist dieses kritische Verhältnis zur Tradition, weil ein radikaler Neuanfang unmöglich ist. Dies zu glauben wäre genauso naiv wie eine autoritätsgläubige Berufung auf Tradition im Traditionalismus. Mindestens durch die Sprache sind wir der Tradition verbunden. Zudem benötigen wir ein Verständnis von Tradition, um ein kritisches Selbstverständnis zu gewinnen, um zu wissen, ob wir das, was wir denken, selbst erdacht haben, oder ob wir einen fremden Gedanken denken, von dem wir nur irrtümlich glaubten, er stamme in seiner Originalität von uns selbst. Wie die kritische Aneignung von Tradition aussehen könnte, zeigt Adorno, wenn er sich kritisch zur Aufklärungstradition stellt, an die er selbst anknüpft: „Die neuzeitliche, bis heute dominierende [Philosophie] möchte die traditionalen Momente des Denkens ausscheiden, es dem eigenen Gehalt nach enthistorisieren […]. Was im Denken geschichtlich ist, anstatt der Zeitlosigkeit der objektivierten Logik zu parieren, wird dem Aberglauben gleichgesetzt, der die Berufung auf kirchlich institutionelle Tradition wider den prüfenden Gedanken tatsächlich war. Die Kritik an Autorität hatte allen Grund. Aber sie verkennt, daß Tradition der Erkenntnis selbst immanent ist als das vermittelnde Moment ihrer Gegenstände. Erkenntnis verformt diese, sobald sie kraft stillstehender Objektivierung damit tabula rasa macht. Sie hat an sich, noch in ihrer dem Gehalt gegenüber verselbständigten Form, teil an Tradition als unbewußte Erinnerung ; keine Frage könnte nur gefragt werden, in der Wissen vom Vergangenen nicht aufbewahrt wäre und weiterdrängte.
Im Kern verbirgt sich hierin eine Kritik an Aufklärung, die Adorno mit dem Konservatismus verbindet, nämlich die Kritik an einem formalen Universalismus, der die räumliche und zeitliche Gebundenheit des Denkens, seine geschichtlichen Konkretionen übersieht. Adornos Auffassung unterscheidet sich vom Konservatismus aber dadurch, dass er der aufklärerischen Kritik an der Autoritätsorientierung zustimmt. Was die Aufklärer übersehen haben, ist, dass Tradition und unhinterfragbare Autorität begrifflich nicht zusammen fallen, sondern das eine ohne das andere auftreten kann. Damit unterscheidet Adorno zwei unterschiedliche Aspekte von Tradition, ohne sie allerdings begrifflich zu fassen. Ich schlage vor, die bei Adorno nur angedachte Unterscheidung explizit zu vollziehen, indem getrennt wird zwischen den Traditionsmaterialien, die zuweilen mit autoritärem, zuweilen aber – wenn auch noch uneingelöst – mit emanzipatorischem Anspruch auftreten, und dem Gedanken einer prinzipiellen Traditionsgebundenheit allen Denkens. Dass alles Denken traditionsgebunden sei, möchte ich als Traditionalität bezeichnen und die Behauptung, es sei so, die Traditionalitätsthese nennen.
Offen bleibt dabei allerdings, was unter Tradition selbst nun zu verstehen sei. Auf diese Fragen geben weder Bloch und Adorno noch ihre konservativen Opponenten eine befriedigende Antwort. Das heißt: Die Zurückweisung der konservativen Aneignung des Traditionsbegriffs führte nicht zu seiner Klärung. Bloch und Adorno stellen dem konservativen Verständnis eine Auffassung gegenüber, die sich nur auf andere Traditionsmaterialien bezieht – aber davon bleibt die konservative Aneignung des Begriffes unberührt. Ihre Ausführungen stellen nur einen progressiv gewendeten Konservatismus dar, der sich auf jene Materialien konzentriert, die nur am Rande offizieller Überlieferungsprozesse stehen. Diesen inoffiziellen Prozessen wird keine besondere Autorität zugeschrieben, sondern ihnen wird der implizite Auftrag entnommen, das unvollendet Gebliebene fortzuführen. In der jeweils aktuellen Aneignung bleiben diese Materialien insofern verfügbar, als an ihnen auf eine utopische Zukunft hin weiter gearbeitet wird. Adorno geht aber über Bloch hinaus, wenn er die Dialektik des Traditionsbegriffes betont: Die Geltung jeglicher konkreter Tradition mag fraglich geworden sein, aber zugleich kann auf einen Traditionsbegriff nicht grundsätzlich verzichtet werden – jedenfalls dann nicht, wenn der Traditionalitätsthese zugestimmt wird. Aus dieser Einsicht resultiert die noch unerledigte Aufgabe, einen kritischen Begriff der Tradition zu entwickeln, der die einseitig konservative Aneignung des Wortes Tradition aufhebt und einer von traditionalistischen Vorannahmen losgelösten Verwendung wieder zugänglich macht.