Exposé zur Dissertation (1998)

1. Verbrechen und andere Kleinigkeiten

„Unser ganzes Leben lang“, sagt Professor Levy aus dem Off, „müssen wir schwierige Entscheidungen treffen – moralische Entscheidungen. Einige sind von großer Wichtigkeit; die meisten aber von geringerer Bedeutung. Aber wir definieren uns durch die Entscheidungen, die wir getroffen haben. Genau genommen sind wir die Summe unserer Entscheidungen.“ Die Menschen, von denen der Regisseur Woody Allen in seinem Film „Verbrechen und andere Kleinigkeiten“ erzählt, sind mit Entscheidungen höchst unterschiedlicher Art konfrontiert. Der erfolglose Dokumentarfilmer Cliff Stern z.B. weiß nicht, ob er Halley, in die er verliebt ist, küssen soll oder nicht. Als er es endlich tut, weist sie ihn mit dem Hinweis zurück, daß er verheiratet sei. Der erfolgreiche Augenarzt Judah Rosenthal hat dagegen ganz andere Probleme: Seine Geliebte droht seine Ehe zu zerstören. Soll er sie umbringen lassen? Zunächst halten ihn Skrupel zurück, doch schließlich erteilt er den Mordauftrag und wird vom Gewissen gequält. Rudimente seiner religiösen Erziehung tauchen auf, Fragen nach Gerechtigkeit und Moral beschäftigen ihn und er wartet auf das vergeltende Handeln Gottes. Aber es passiert nichts und eines Tages sind die Qualen vorbei. Er hat in sein altes Leben zurück gefunden.

Entscheidungen sind Entscheidungen für oder gegen bestimmte Handlungen und dies mindestens in zweierlei Richtung: einerseits entscheiden wir uns zwischen unterschiedlichen Zwecken, andererseits zwischen Mitteln zur Realisierung dieser Zwecke. Manche dieser Entscheidungen fallen fast unbemerkt, weil sich im Laufe einer Lebensgeschichte Präferenzen für bestimmte Mittel und Zwecke bilden oder der Ausgang der Wahl nicht entscheidend ist, andere Entscheidungen fallen schwer, weil an ihnen möglicherweise der Fortgang der eigenen Lebensgeschichte sich entscheidet. Nun ist aber offensichtlich nicht jede Handlung von moralischer Bedeutung und die Relevanz der gewählten Filmbeispiele ist höchst unterschiedlich. Die Frage „küssen oder nicht küssen“ gilt sicher – zumindest für Menschen in posttraditionalen, westlichen Industriegesellschaften – wie viele andere sexualethische Fragen als weitgehend moralisch irrelevant, was in diesem Fall soviel bedeutet, wie, daß es dem persönlichen Belieben freigestellt ist. Dagegen ist kaum mit Diskussionen zu rechnen, wenn es um die moralische Relevanz eines Mordes geht. Wie aber sieht es aus, wenn die Küssenden gleichen Geschlechts sind? Oder wenn, wie im Filmbeispiel, einer der beiden verheiratet ist? Und wie kommt es, daß man Leute könnte sagen hören, es sei doch ‚etwas ganz anderes ‚, ob ein Junge und ein Mädchen sich küssen (wenn sie alt genug sind), oder zwei Homosexuelle oder zwei Erwachsene, die jeweils bereits verheiratet sind? Eine Antwort darauf wäre der Verweis auf die normativen, häufig religiös vermittelten Traditionen einer Kultur, von denen manche im Rahmen gesellschaftlicher Entwicklung an Bedeutung verlieren, andere wichtig bleiben oder erst wichtig werden.

Eine erste intensive Beschäftigung mit dieser Thematik ergab sich für mich im Rahmen einer Hauptseminararbeit, die ich 1996 am Fachbereich Ev. Theologie der Marburger Philipps-Universität unter dem Titel „Sozialethik und Konsensustheorie der Richtigkeit. Ein Versuch zu einer diskursiven christlichen Sozialethik“ vorgelegt habe. Es ging darin um die Frage, wie eine christliche Sozialethik aufgebaut sein müßte, wenn sie das diskursethische Normbegründungsverfahren als Begründungsmodell in ihre Theoriebildung aufnehmen würde. Dabei habe ich die These vertreten, daß christliche Ethik keine Sonderethik ist, die moralische Probleme allein aus dem christlichen Selbstverständnis, ihrer Tradition und ihrem Bekenntnis heraus bearbeiten kann, sondern daß die von ihr entwickelten Positionen als Beiträge der Kirchen und Gemeinden zu einem gesamtgesellschaftlichen moralischen Diskurs verstanden werden sollten und zwar unter Anerkennung der Notwendigkeit, moralische Argumentationen an Maßstäben der für Christen wie Nicht-Christen gleichermaßen zugänglichen praktischen Vernunft auszurichten. Als offenes aber zugleich zentrales Probleme stellte sich dabei die Frage, welchen Status aus der Tradition gewonnene Argumente innerhalb je aktueller moralischer Argumentationen haben können.

2. Moral und normative Traditionen

Ich gehe in dem hier vorgestellten Dissertationsprojekt davon aus, daß das geeignetste Mittel zur Klärung moralischer Konflikte eine Ethik ist, die unter Absehung konkreter sittlicher Gehalte ein Verfahren begründet, das die friedliche Lösung von Konflikten zwischen zwei Opponenten regelt. Nun ist gerade der Punkt, daß die Begründung eines solchen Verfahrens unter Absehung sittlicher Gehalte geleistet werden soll, ein Hauptvorwurf gegen Verfahrensethiken, denn Menschen leben ja ‚immer schon‘ in einem normativ geladenen Umfeld. Die bereits vorgefundenen moralische Regeln begegnen als konkrete Sittlichkeit einer Gesellschaft für gewöhnlich nicht als eine Sammlung von einzelnen, unabhängigen Handlungsanweisungen, sondern innerhalb eines Netzes von religiösen, anthropologischen, moralischen etc. Voraussetzungen, die einander zum Teil stützen. Das biblische Prostitutionsverbot beispielsweise hängt u.a. zusammen mit der Alleinverehrung Jahwes, weil Prostitution in der Umwelt Israels besonders als Tempelprostitution und also im Rahmen der Verehrung anderer Götter vorkam. Von religiösen Fundamentalisten und konservativen Traditionalisten wird in ähnlicher Weise manchmal ein Zusammenhang hergestellt zwischen fehlender Religiosität, sexueller Freiheit und dem Anstieg von Gewaltdelikten, und zwar über ein Argument, das man – gestützt auf ein häufig verwendetes Bild – das Argument vom brechenden Damm nennen kann: Wer scheinbar unbedeutende moralische Traditionen aufgibt, stellt das normative Fundament und damit die Bedeutung der normativen Tradition insgesamt in Frage. Hat der normative Damm, gegründet auf dem Fundament einer göttlichen Autorität, erst einmal einen Riß, ist er nicht mehr zu halten und die Kultur geht unter in den Wogen der Unmoral. Fehlt aber eine (religiöse) normative Fundierung, scheint fraglich zu werden, wie moralische Forderungen begründet werden können und wie jemand – selbst wenn eine solche Begründung gelänge, zum Tun des moralisch Gebotenen motiviert werden kann. Denn wer eine Antwort gegeben hat auf die Frage „Was soll ich tun?“, hat damit noch nicht die Frage beantwortet, warum man tun soll, was man tun soll.

In unserem Kulturkreis hat der Verweis auf die biblische oder göttliche Autorität weitgehend an Überzeugungs- und Motivationskraft verloren, wenn auch Relikte einer religiösen Fundierung manchmal als metaphysische Grundlagen im Hintergrund stehen mögen, wie dies z.B. bei Kants Rede von den praktischen Postulaten (Willensfreiheit, Unsterblichkeit der Seele, Existenz Gottes) der Fall ist. Für Kant stellen diese unbeweisbaren Postulate die Grundlage menschlichen Handelns dar. Gleichwohl geht Kants Moralphilosophie davon aus, daß handlungsleitende Normen als Prinzipien zurückzuführen sind auf Rationalität. Die Frage ist aber, ob sich auf der Grundlage der Annahme der einen menschlichen Vernunft eine universalistische normative – und das heißt in diesem Fall regeldeontologische – Moralkonzeption aufbauen läßt. Das praktische Postulat der Willensfreiheit ist die Grundlage für die Annahme eines autonomen Subjekts, das aufgrund der Einsicht in die vernünftige Erklärung des moralisch Gebotenen das Richtige tut. Das heteronome Subjekt handelt für Kant nicht moralisch, weil es sich bloß an ihm vorgegebene Regeln hält. Moralisch handelt, wer aus freien Stücken tut, was sich vernünftigerweise als moralisch geboten erwiesen hat.

Wie aber soll das moralisch gebotene erwiesen werden? Wann kann etwas als „begründet“ verstanden werden?. Gibt es so etwas wie eine allgemeine Form von Begründungen? Oder können Behauptungen, Anweisungen; Handlungen als begründet gelten, wenn ein Opponent die gegebenen Gründe akzeptiert? Was wäre dann mit Begründungen, die die einen akzeptieren und die anderen ablehnen? Im Bereich theoretischen Wissens scheint die Frage nach den Begründungsmöglichkeiten für Aussagen, durch die ein Wahrheitsanspruch erhoben wird, einfacher, etwa indem durch deiktische Handlungen ein Einverständnis zwischen Opponenten erzielt wird. Läßt sich aber aufgrund der alltäglichen Erfahrung, daß in moralischen Fragen eine Übereinkunft ungleich schwieriger ist, die Möglichkeit rationaler Begründungen für praktische Fragen bezweifeln, wie dies von non-kognitivistischer Seite vorgebracht wird? Eine transzendentalpragmatische Antwort darauf ist, daß jemand, der in einer moralische Fragen betreffenden Diskussion gegen die Möglichkeit rationaler Begründung argumentiert, sich in einen performativen Selbstwiderspruch begibt, weil er durch sein rational argumentierendes Handeln die Möglichkeit zur rationalen Argumentation bereits anerkannt hat. Wie weit auch immer dieses Argument tragen mag, d.h. unabhängig davon, ob das Argument geeignet ist, hierauf einen Letztbegründbarkeitsanspruch zu gründen oder ob mindestens der Eintritt in die Diskussion eine notwendige Bedingung ist, so macht es doch darauf aufmerksam, daß Rationalität nicht allein an die Bearbeitung theoretischer Fragen gebunden ist.

Eine kommunikationstheoretisch informierte Theorie in kantischer Tradition, wie die Diskurstheorie J. Habermas‘, versucht, die normativen Grundlagen unter den Bedingungen eines nach-metaphysischen Denkens zu rekonstruieren. Während sich das kantische Moralprinzip, der kategorische Imperativ, an den Einzelnen wendet, wird es von Habermas auf der Basis des transzendentalpragmatischen Argumentes intersubjektivistisch gedeutet: Nicht die Maxime, von der ich wollen kann, daß sie allgemeines Gesetz sei, kann Gültigkeit beanspruchen, sondern jene Norm, deren Folgen und Nebenfolgen, die sich aus einer allgemeinen Befolgung für die Interessen jedes Einzelnen ergeben, von allen akzeptiert werden können. Die konsensuelle Einigkeit soll dabei erreicht werden durch ein Verfahren, das den diskursiven Austausch von Gründen regelt, wobei zum Diskurs alle betroffenen, sprach- und handlungsfähigen Subjekte (resp. deren Stellvertreter) zugelassen sind, die jeweils ihre Interessen vertreten. Einen in vielen Punkten vergleichbaren Weg haben Vertreter des Methodischen Konstruktivismus, der sog. Erlanger Schule, mit ihrem Modell praktischer Beratungen eingeschlagen, wenngleich ihre Vorschläge, v.a. O. Schwemmers Moralprinzip, wesentlich klarer auf die Bedingungen tatsächlicher, praktischer Argumentationen eingeht, namentlich durch die Orientierung an den jeweils handlungsleitenden Zwecken.

In unseren alltäglichen Begegnungen mit anderen Menschen spielen die metaphysischen oder nach-metaphysischen Grundlagen handlungsleitender Normen allerdings kaum eine Rolle. Gleichwohl schlägt sich die sittliche Tradition einer Kultur, wie sie sich in materialen Normen und Institutionen äußert, in vielerlei Formen in moralischen Auseinandersetzungen nieder. Ein minimiertes sittliches ‚Argument‘ – wenn ich noch einmal auf das eingangs erwähnte Filmbeispiel zurückkomme – äußert etwa Halley, wenn sie Cliffs Annäherung mit den Worten „Sie sind verheiratet!“ zurückweist. Selbst wenn der Hinweis nur vorgeschoben und nicht Ausdruck eines moralischen Skrupels wäre, so läßt er sich doch so deuten, daß Halley Handlungsorientierung an der Institution Ehe und den damit verbundenen Handlungsregeln gewinnt. Ist ein solches Argument berechtigt? Oder dürfen, wie es sich Habermas vorstellt, die Opponenten nur Argumente einbringen, die ihre unmittelbaren Interessen ausdrücken? Wäre es nicht denkbar, daß etwa Halley einer ihre vorgegebenen Tradition eine Wertschätzung entgegenbringt, die die Orientierung an dieser Tradition zu einem (kulturellen) Bedürfnis macht? Wie schwierig diese Diskussion zu führen ist, zeigt aktuell die politische Auseinandersetzung um eheähnliche, homosexuelle Gemeinschaften.

Eine andere Frage ist die der Begründung, denn beide Film-Protagonisten würden sich sicher nicht, fragte man sie nach den Grundlagen ihres Handelns, auf eine religiöse Autorität berufen. Zwei entgegengesetze Argumentationsstrategien stünden aber zur Begründung zur Verfügung, wobei die erste eine universelle Gültigkeit zu begründen versucht, während die zweite allenfalls partikulare Gültigkeitsansprüche gelten läßt. Die erste wäre eine Naturalistische oder Naturrechtliche, die spätestens seit der Scholastik einen Versuch darstellt, die Gültigkeit moralischer Normen unabhängig von einer göttlichen Autorität im Blick auf eine Naturordnung zu begründen sucht. Sie steht aber in der Gefahr eines naturalistischen Fehlschlusses, also dem Schluß, daß etwas sein soll, weil es natürlicherseits so ist. Auf der anderen Seite steht der moderne Blick auf die Vielfalt der Kulturen und ihrer jeweiligen Traditionen. Muß die Gültigkeit normativer Forderungen da nicht notwendig regional oder partikular begrenzt sein, zumal auch innerhalb einer Kultur eine Vielzahl von Lebensformen zu finden ist? Allerdings steht auch diese kulturrelativistische Argumentationsstrategie in der Gefahr, eine dem naturalistischen Fehlschluß verwandte Folgerung vorzulegen, die in diesem Fall von der Ist-Beschreibung der Vielzahl von Lebensformen übergeht zur einer Soll-Forderung nach moralischer Pluralität.

Aber sowohl die naturalistische wie die kulturrelativistische Position machen auf wichtige Probleme aufmerksam, die zentral mit Kants Regeldeontologismus zusammenhängen. Kant hat sich dagegen gewandt, moralische Urteile an menschlichen Bedürfnissen auszurichten, weil jeder Mensch andere Bedürfnisse hat und so ein moralischer Universalismus unmöglich wäre. Wie aber verhält es sich beispielsweise mit der Forderung, nicht zu stehlen, bei einem Menschen, der, würde er sich daran halten, verhungern müßte? Oder, um ein bekanntes kantisches Beispiel zu bringen, was ist mit dem Lügenverbot bei einem Menschen, den ein Mörder nach seinem Freund fragt? Sollten die Bedürfnisse nach Nahrung und körperlicher Unversehrtheit für ein moralisches Urteil tatsächlich unberücksichtigt bleiben? Nun hat zwar Habermas in seiner Umdeutung des kategorischen Imperativs im Universalisierungsgrundsatz dieses Problem aufgegriffen und eine m.E. überzeugende Antwort gegeben, aber welche Normen sollen denn dann noch universelle Gültigkeit beanspruchen können? Muß man dann nicht Habermas‘ Fassung lesen als regulative Idee, die uns allenfalls darüber aufzuklären vermag, was wir unter universeller Gültigkeit verstehen könnten? Noch schwieriger wird es, erweitert man die biologischen Bedürfnisse um kulturelle Wünsche und Neigungen? Denn nun könnte der Kulturrelativist darauf hinweisen, daß Menschen ja schließlich nicht nur lebensnotwendige, sondern auch kulturelle Bedürfnisse haben, wobei das, was wir „Bedürfnis“ nennen selbst bereits abhängig sein kann von einer bestimmten kulturellen Tradition. Wie ist es z.B. mit dem Bedürfnis nach Freiheit und Selbstbestimmung? Wie soll man eine normative Einigung erreichen zwischen jemandem, der zu bestimmten sexuellen Praktiken neigt, und jemandem, der aufgrund seiner religiösen Tradition in diesen Praktiken ein schweres Vergehen sieht? Folgt man Habermas‘ Argumentation, so wäre hier zu unterscheiden zwischen Fragen der Richtigkeit und Fragen des „guten Lebens“. Fragen des „guten Lebens“ sind abhängig von Traditionen und Konventionen bestimmter Lebensformen. Moralisch diskursfähig hingegen sind ausschließlich Normen, die unabhängig von traditionalen und konventionalen Kontexten den Gültigkeitsanspruch der Richtigkeit für alle sprach- und handlungsfähigen Subjekte erheben könnten. Damit fallen aus dem Bereich des moralisch Relevanten alle Normen heraus, die nur partikulare Interessen ausdrücken und über die somit kein einvernehmlicher Konsens erzielt werden kann. Das bedeutet wiederum einen sehr engen Moralbegriff. Wäre es dann nicht sinnvoller, den Anspruch auf Theoriefähigkeit für moralische Fragen gleich ganz aufzugeben und mit Lorenzen den engen Bereich verallgemeinerbarer Interessen einer Theorie des politischen Wissens zu überlassen?

3. Zum angestrebten Lösungsweg

Um auf die hier angerissenen Fragen eine Antwort zu geben, wäre zunächst anzusetzen bei einer kritischen Rekonstruktion moralischer Grundbegriffe wie Handlung, Verantwortung, Anweisungen, Regeln, Normen, Sitte, Gewohnheit, Moral, Ethik, Rationalität, Rechtfertigung etc. Am Anfang stehen dabei handlungstheoretische Erörterungen, ohne die m.E. keine ethische Theorie auskommen kann und von denen her ein Begriff des Moralischen erst verstanden werden kann. Ich gehe davon aus, daß ein für die hier behandelte Thematik wichtiges Kennzeichen von Handlungen ist, daß Handlungen Tätigkeiten sind, zu deren Tun oder Unterlassen jemand aufgefordert werden kann. Dadurch unterscheidet sich Handeln von bloßem Verhalten. So kann jemand aufgefordert werden, einen Nagel in die Wand zu schlagen, ein Bild zu malen oder einer alten Dame über die Straße zu helfen, nicht aber über einen Ast zu stolpern oder zu niesen – wenngleich man natürlich dazu auffordern kann, so zu tun, als stolpere man oder am Pfeffer zu riechen, um ein Niesen herbeizuführen. Ein zweites Kennzeichen von Handlungen ist, daß sie gelingen und scheitern können. Ob eine Handlung gelungen oder gescheitert ist, entscheidet sich daran, ob der handlungsleitende Zweck realisiert wurde oder nicht. Wichtig an diesen beiden Kennzeichen ist, daß an ihnen sich entscheiden läßt, ob jemandem für sein Tun Verantwortung zugeschrieben werden kann. Wer stolpert oder niest, kann nicht dafür getadelt werden, sondern allenfalls dafür, nicht genug aufgepaßt oder nicht die Hand vor den Mund gehalten zu haben. Niemand kann sinnvoll zum Gewinnen eines Spiels aufgefordert werden, und wer verliert, kann höchstens getadelt werden, nicht genug für den Sieg getan zu haben.

Wer handelt, muß sich gegebenenfalls für sein Tun rechtfertigen und diese Rechtfertigung kann geschehen, indem die gesetzten Zwecke oder die gewählten Mittel begründet werden. Da aber auch Aufforderungen zu Handlungen Handlungen sind, nämlich Sprachhandlungen , kann auch zu ihnen aufgefordert und gegebenenfalls müssen auch sie gerechtfertigt werden. Auf der perlokutionären Ebene zielt eine Aufforderung auf eine vom Sprecher gewünschte Handlung eines Adressaten. Normen wiederum könnte man als generalisierte Aufforderungen verstehen, weil in ihnen ein konkreter Adressatenbezug fehlt. Inwieweit gehört aber die Reichweite des Gültigkeitsanspruchs einer generalisierten Aufforderung zum Normenbegriff? Kann man eine Aufforderung Norm nennen, wenn sie nur einer Person gilt? Oder muß sie zumindest so strukturiert sein, daß sie sich an eine Gruppe von Personen wendet? Oder verbirgt sich dahinter sogar notwendig zumindest die Möglichkeit, den Gültigkeitsanspruch zu universalisieren?

Meine These ist, daß es möglich ist, eine universalistische, rationalistische und deontologische Konzeption von Moral zu entwickeln, die- ähnlich wie dies Habermas bereits versucht hat – die berechtigten Anliegen einer naturalistischen Position aufnehmen müßte. Der gegenüber Habermas weitergehende Vorschlag lautet aber, daß auch die berechtigten Anliegen der Kulturrelativisten zu berücksichtigen wären. Grundlegend möchte ich dazu an Kants Moralphilosophie anknüpfen, und mit Diskursethikern und Methodischen Konstruktivisten das Moralprinzip kommunikationstheoretisch umdeuten, d.h. unter den Bedingungen einer linguistischen und pragmatischen Wende rekonstruieren. Das kantische Moralprinzip mit seiner subjektivistischen Tendenz wird so in ein Verfahrensprinzip zur gemeinschaftlichen Erörterung moralischer Probleme überführt. Zugleich gilt es aber anzuerkennen, daß es einerseits kulturelle Bedürfnisse gibt, die nicht universalisierbar sind und trotzdem moralisch bedeutsam sein können, und daß anderseits die gemeinschaftliche Erörterung selbst, nenne man sie nun (herrschaftsfreier) Diskurs, Beratung oder moralische Argumentation, nicht allein linguistische und pragmatische, sondern auch kulturabhängige normative Grundlagen hat. Fragen, die hier zu klären anstehen, sind, was unter „kulturellen Bedürfnissen“ zu verstehen ist, in welcher Beziehung sie zu biologischen Bedürfnissen stehen und ob die Unterscheidung von Bedürfnissen es ermöglicht, ihnen unterschiedliche moralische Relevanz zuzuschreiben. Zudem – hier sehe ich meine Hauptaufgabe – gilt es zu untersuchen, welche Bedeutung kulturelle Bedürfnisse und Argumente, die sich auf sie berufen, im ethischen Verfahren haben können und wie sie als berechtigte Interessen berücksichtigt werden können.