Vom Begriff zur Theorie der Tradition

Abstract: Der Vortrag legt dar, warum die Auseinandersetzung mit der Tradition nicht dabei stehen bleiben darf, bloß den Traditionsbegriff zu klären, sondern zu einer umfassenden Theorie der Tradition weitergehen sollte. In Abgrenzung zu Josef Piepers religiösem Traditionsbegriff geht es daraum, zunächst einmal einen formalen Begriff der Tradition einzuführen. Die theoretische Arbeit besteht dann darin, im Unterschied zum Traditionalismus, in dem Pieper letztlich endet, eine Traditiologie, also eine vernünftige Lehre von der Tradition zu bilden.

1. Einleitung

Was unter Tradition zu verstehen ist, scheint klar und offensichtlich: Sie ist, wie Max Weber es formuliert, „der Glaube[] an die Unverbrüchlichkeit des immer so Gewesenen als solche[r]“ . Wir können von daher verstehen, was nach Weber unter traditionalen Gesellschaften zu verstehen wäre: Es sind Gesellschaften, in denen dieser Glaube vorherrscht. Tatsächlich entspricht diese Bestimmung der zentralen Konnotation, die den heutigen Sprachgebrauch dominiert: Tradition ist das Immer-so-Gewesene, dessen Recht die einen, meist die Älteren, einfordern, während die anderen, meist die Jüngeren, ihren Anspruch auf bleibende Gültigkeit bestreiten. Traditionale Gesellschaften sind solche, in denen die meisten oder sogar fast alle Mitglieder das Recht des immer-so-Gewesenen wie selbstverständlich anerkennen, während in modernen Gesellschaften den Mitgliedern freigestellt ist, welche Tradition(en), wenn überhaupt eine, sie wählen. Moderne Gesellschaften sind deshalb post-tradional. Ich halte dieses Verständnis von Tradition und die Rede von traditionalen Gesellschaften den Möglichkeiten, die dieser Begriff bieten könnte, für nicht angemessen, weil verkürzt. Das Folgende soll diese Auffassung begründen.

Wenn man anfängt, sich mit dem Begriff der Tradition zu beschäftigen, wird man schon nach kurzer Zeit stutzig werden: Wer in Verzeichnissen zur Zeit lieferbarer Bücher nach Büchern über Tradition sucht, wird sich wie derjenige, der sich mit dem Begriff der Kultur beschäftigt, zunächst einmal durch einen Wust von Reiseliteratur wühlen müssen. Dann wird man, anders als der an „Kultur“ Interessierte, nur wenig Literatur finden, die sich monographisch mit „Tradition“ beschäftigt. Es gibt eigentlich nur einen Band, der sich nicht mit speziellen religiösen, sozialen und ethnischen Traditionen beschäftigt, sondern den Begriff selbst in den Blick nimmt: „Zeit und Tradition“ der Anglistin und Literaturwissenschaftlerin Aleida Assmann von 1999. Sie liefert aber eher so etwas wie eine Einführung in die Traditionstheorie(n). Der einzige Band, der eine eigenständige und breiter angelegte Beschäftigung mit dem Begriff darstellt, „Tradition“ des amerik. Soziologen Edward Shils aus dem Jahre 1981, (TB 1983) ist längst vergriffen; eine deutsche Übersetzung hat es nie gegeben. Als nächstes wird man sich darüber wundern, wie häufig man dem Wort „Tradition“ begegnet und wie häufig dieses Wort in Texten, in denen von der Post-Traditionalität unserer Gesellschaft ausgegangen wird, das Wort wiederum an anderen Stellen mit positiven Konnotationen gebraucht wird. Ich könnte hierfür eine ganze Reihe von Beispielen bringen, wähle hier aber nur eines aus: den methodischen Kulturalismus. So heißt es in der Programmschrift von Herrn Hartmann und Herrn Janich im Kapitel Ethik:

„Wir leben heute in einer posttraditionalen Gesellschaft, einer Gesellschaft, in der die Berufung auf den Willen und die Gebote einer göttlichen Autorität zur allgemeinverbindlichen Begründung von Normen nicht mehr zur Verfügung steht.“

Hier herrscht ein von Weber abweichendes Verständnis von Traditionalität vor, mit dem aber ein weiterer Aspekt des heutigen Traditionsverständnisses angesprochen ist, dem Aspekt der vornehmlich religiösen Autorität.

Vergleichen wir dies mit der Rede von der Tradition im Abschnitt „Kultur“. Hier wird ausgeführt, dass Menschen in der Lebenswelt nicht für sich allein, sondern in gemeinsamen, „regelmäßig, regelgeleitet und personeninvariant aktualisierte[n] Handlungszusammenhänge[n]“ handelten. Handlungen dieser Art werden Praxen genannt. Kultur wird nun wie folgt bestimmt:

„Durch das Tradieren ihrer Praxen (unter die nicht zuletzt auch Sitten und Institutionen fallen) sowie der im Rahmen der Poiesis verfertigten Artefakte erhält eine Gemeinschaft eine ‚Kultur‘. Diese Definition mag zunächst konservativ anmuten, insofern sie mit dem Verweis auf die Tradition das über die Zeit hinweg Bewahrte zu betonen scheint. Aber selbstverständlich verändern sich Kulturen im Verlauf eines fortdauernden Tradierungsprozesses über das mit ihm einhergehende (allmähliche oder plötzliche) Sich-verändern der Praxen sowie ebenso durch das Hinzukommen und das Verschwinden von Praxen. Gerade aufgrund des Sich-Veränderns benötigt man allerdings auch Identitätskriterien, die für eine Kultur jeweils festlegen, was an Veränderung zulässig ist, um überhaupt noch von einer sich verändernden Kultur sprechen zu können (im Gegensatz etwa zu einer verschwindenden bzw. einer in einer anderen Kultur aufgehenden Kultur).“

Offenbar handelt es sich hier um einen Traditionsbegriff, der abweicht von dem obigen, der mit „religiöser Autorität“ verbunden war, aber auch von Webers ‚Immer-so-Gewesenem‘ – hier als ‚über die Zeit Bewahrtes‘ eher abgelehnt. Tradition erscheint dagegen (1.) im Zusammenhang von Fortdauer und Veränderung und (2.) als notwendiger Begriff zur Erläuterung dessen, was unter einer Kultur verstanden werden soll. Es ist erstaunlich – angesichts der Forderung nach einer kulturalistischen Wende der Philosophie -, daß bisher keine Anstalten gemacht wurden, den grundlegenden Begriff der Tradition zu klären und zu erläutern. Es liegt dies an der paradoxen Situation, dass der Begriff einerseits mit negativen Konnotationen verbunden ist – vergangenheitsorientiert, konservativ, antiquiert, unmodern. So zählt Greiffenhagen in seiner Konservatismusuntersuchung den Traditionsbegriff zu den Grundbegriffen konservativer Theorien – neben Aufklärungs- und Kulturkritik, Autorität, Institution, Organologie und Dialektik. Wie eng diese Verknüpfung von Traditionalismus und Konservatismus ist, zeigt sich im zitierten Text wie auch in anderen schon daran, dass quasi reflexartig, kaum dass das Wort „Tradition“ – nicht abwertend gebraucht – fällt, der Konservatismusverdacht zurückgewiesen wird. Und dieser Verdacht wiegt schwer, wollen doch nicht einmal die Konservativen konservativ genannt werden. – Andererseits macht uns unser historisches Bewußtsein darauf aufmerksam, dass wir ‚immer schon‘ in Traditionen stehen, dass das, was wir – entschuldigen Sie den pathethischen Ton dieser Formulierung – was wir wissen, tun und hoffen zum größten Teil nicht von uns selbst stammt. Vor diesem Paradox steht auch jede traditionskritische Position, was begrifflich auf den Punkt gebracht wird, wenn Adorno von einer „Tradition des Antitraditionellen“ spricht oder Ortega y Gasset recht ähnlich von einer „Tradition der ‚Nicht-Tradition'“ : auch die Traditionskritik bedarf der Tradierung. Der vorgelgte Traditionsbegriff soll sich in seiner Brauchbarkeit daran messen lassen, inwieweit er dieses Paradox erklärt, wenn nicht auflöst.

2. Josef Piepers Traditionsverständnis

Dass wir einerseits Tradition kritisch begegnen – vor allem bezüglich der Rolle, die sie angeblich in sog. traditionalen Gesellschaften spielt – andererseits aber nicht umhin kommen, von ihrer Wirksamkeit auch in sog. post-traditionalen Gesellschaften auszugehen, werte ich als Hinweis darauf, dass hier verschiedene Begriffe von Tradition verwendet werden oder jeweils unterschiedliche Aspekte in den Mittelpunkt rücken. Was kein Wunder ist angesichts der langen Begriffsgeschichte, in deren Verlauf der Begriff zahlreiche neue Verwendungsweisen und Bedeutungsaspekte erfahren hat. Damit stehen wir vor dem Problem: Wo anfan-gen, um zu einem Vorschlag für seine Verwendung zu kommen. Statt bei Adam und Eva an-zufangen wähle ich den bequemeren Weg, einen bereits vorliegenden Vorschlag aufzugrei-fen, und indem ich ihn verwerfe, zu meinem eigenen Vorschlag zu gelangen. Es handelt sich um den Vorschlag, den der katholische Philosoph Josef Pieper mit zwei Vorträgen Ende der 50er und Anfang der 60er Jahre vorgebracht hat.

Auch Pieper weist den (offenbar erwarteten) Konservatismusvorwurf explizit zurück:

„Tradition ist als der Vorgang lebendiger Übermittlung eine höchst dynamische Sache. So daß wirkliches Traditionsbewußtsein nur wenig zu tun hat mit ‚Konservativismus‘. Es gibt zweifellos Konservativismen, welche, im Gegenteil, Tradition ge-rade verhindern ? weil sie sich an das zufällige geschichtliche Erscheinungsbild des tradendum klammern, welches aber vielleicht, wenn überhaupt, nur unter neuen äußeren Formen in die Zukunft hinübergetragen, ‚überliefert‘ werden kann. Es gibt anderseits zweifellos wirklich sich vollziehende Tradition im wahren und gro-ßen Sinn, die der unterschiedslos prinzipielle Konservativismus der bloßen soge-nannten ‚Traditionspflege‘ gar nicht wahrnimmt ? eben weil das traditum unter veränderter geschichtlicher Gestalt dargeboten und auch empfangen wird.“

Im Begriff der Tradition sind für Pieper zwei entscheidende Aspekte enthalten, nämlich ers-tens die Traditionshandlung, das tradere, und der Gegenstand dieser Handlung, das tradi-tum oder tradendum, wobei die Traditionshandlung wiederum beschrieben werden kann als ein Geschehen, an dem zwei Personen, ein Überliefernder und der, dem etwas überliefert wird, beteiligt sind. Diese zunächst nur formalen Elemente des Traditionsbegriffs will Pie-per genauer beschreiben, um die Bedingungen zu formulieren, die eine Traditionshandlung als solche konstituieren und schließlich den Kern von Tradition als „heilige Überlieferung“ zu explizieren.

Betrachten wir zunächst Piepers Verständnis der Traditionshandlung. Welcher Art die Be-ziehung zwischen dem Überliefernden und dem Empfänger einer Tradition? Auffällig ist zunächst, dass Pieper sagt, was diese Handlung nicht ist: sie ist nicht Dialog, d.h. Überlie-fernder und Empfänger stehen einander nicht als Gleiche gegenüber, sondern der Überlie-fernde ist ‚ranghöher‘. Das ist vergleichbar mit der Rollenverteilung zwischen Lehrer und Schüler, aber – das ist der zweite Punkt -Tradition ist trotzdem nicht Lehre. Zwar begegnen sich auch Lehrer und Schüler nicht als Gleiche, aber als Gleichzeitige. Für die Tradition ist aber nach Pieper bedeutend, dass der Begriff eine zeitliche Aufeinanderfolge impliziert. Das heißt, dass der Überliefernde den Empfangenden eben nicht als Schüler, sondern „als den Nachfolgenden, als den Sohn, den ‚Jünger‘, den Erben, der das Mitgeteilte für die Zukunft, für die kommende Generation in Empfang nimmt“ versteht, und diesem überliefert, was ihm selbst, dem nun Überliefernden, einmal überliefert wurde und nicht lehrt, was gegebe-nenfalls er selbst erfahren oder erkannt hat. Die Rollenverteilung zwischen Überlieferndem und Empfangenden ist also ungleich gewichtet: der eine redet, der andere hört. Betrachten wir nun die drei Elemente, den Empfangenden, den Überliefernden und das Überlieferte genauer, und zwar unter dem Aspekt, wann das Zu-Überliefernde (tradendum) zu einem tatsächlich Überlieferten (traditum) wird, das heißt, unter welchen Bedingungen man die Traditionshandlung als gelungen bezeichnen kann. Dazu muß nach Pieper der Empfangende das, was er hört, annehmen. Dieses Annehmen ist etwas anderes als einerseits ein zur Kenntnis nehmen, andererseits als ein Aneignen. Etwas ZuÜberlieferndes zur Kenntnis nehmen geschieht beispielsweise unter einer historischen Perspektive, während ein sich Aneignen für die Lehr- resp. Lernsituation kennzeichnend ist, weil hier das Zu-Lernende grundsätzlich Verfahren des kritischen Nachprüfens ausgesetzt ist und schließlich zu einem Wissen wird (oder – auch sich des Lehrenden – werden soll). Das Empfangen ist etwas hiervon fundamental unterschiedenes, denn es ist „ziemlich genau das, was die menschliche Sprache als „Glauben“ bezeichnet“ : „ich akzeptiere das Überlieferte als wahr und gültig, obwohl ich diese Gültigkeit nicht kritisch nachprüfen kann“ . Wenn das tradendum in diesem Sinne nicht empfangen wird, scheitert die Traditionshandlung.

Entscheidend für Piepers Traditionsbegriff ist sein Verständnis der tradita, worauf ich nun eingehen werde. Ähnlich, wie ich es oben bereits angedeutet habe, bemerkt Pieper, dass unsere alltägliche Verwendungsweise von „Tradition“ und Derivaten höchst vielfältig ist. Elemente sämtlicher Lebensbereiche können Gegenstand von Traditionshandlungen sein. Pieper konzentriert sich auf das, was er „Wahrheits-Überlieferung“ nennt, worunter er Aussagen über Sachverhalte, Lehren und Weisheitsausdrücke versteht. Diese Wahrheits-Überlieferung droht unter den Bedingungen der modernen Gesellschaft als einer sich ständig verändernden, in stetigem Wandel sich befindenden Welt – symbolisiert durch ein Modell wissenschaftlichen Fortschritts, in dem neue Erkenntnisse schon nach kurzer Zeit von Neueren abgelöst werden – vergessen zu werden. Das Problem, das man unter diesen Bedingungen mit der Tradition hat, rührt daher, dass der Begriff der Tradition wissenschaftlich-systematisch falsch verortet wird. Im Rückgriff auf Blaise Pascals „Fragment einer Vorrede zu einem Traktat über den leeren Raum“ unterscheidet er Wissenschaften danach, worauf sie sich stützen, nämlich entweder auf Erfahrung und Vernunft, wie exemplarisch die Physik, oder auf Autorität und Überlieferung wie die Theologie. In den (Natur-)Wissenschaften ist die Zurückweisung von Argumenten, die sich auf Autorität und Überlieferung stützen, legitim, denn in ihnen geht es darum, methodisch-kritisch begründ- und nachprüfbares Wissen zu erreichen, das somit lehr- und lernbar ist. Traditionale Argumente nach Piepers Verständnis lauten etwa

„‚Die Alten sagen …‘,

‚Aristoteles lehrt …“,

‚gemäß einem überlieferten Brauch verfährt man so und so …‘,

‚herkömmlicherweise gilt dies oder jenes …'“.

Argumente dieser Art können in naturwissenschaftlichen Auseinandersetzungen keine Rolle spielen, denn zum einen ist das alte Wissen in vielen Fällen überholtes Wissen, zum anderen ? das ist bedeutender – spielt das Alter des Wissens oder die Person des Wissenden – zumindest idealiter – keine Rolle bei der Bewertung eines Argumentes. Anders die Lehren und Weisheiten ‚der Alten‘, die, wie Pieper betont, nicht die Geronten sind, sondern, betrachtet man die Verwendungsweise des Begriffs etwa bei Platon und Aristoteles, aber auch bei Pascal, sie „sind die dem Ursprung Nahen, die Frühen, die Anfänglichen“ . Ihre Weisheit „besitzt eine unerschöpfliche Aktualität“ , weil sie nicht in menschlicher Erkenntnisleistung oder Genialität sich gründet, sondern in dem Widerfahrnis einer göttlichen Offenbarung, einem anfänglich ergehenden jeîoV lógoV. Wenn für das Gelingen einer Traditionshandlung konstitutiv ist, daß der Überliefernde das traditum selbst empfangen, das heißt glaubend angenommen hat, so kann am Anfang der Reihe von Überliefernden nicht eigene menschliche Erkenntnis und Erfahrung stehen, denn dann käme Tradition überhaupt nicht zustande. Aus diesem göttlichen Ursprung zieht eine Tradition als traditum seine Autorität, während die Autorität des Überliefernden von dieser ersten Autorität abgeleitet ist. Die Idealgestalt von Tradition ist deshalb das Modell der „heiligen Überlieferung“ , und es ist nur folgerichtig, wenn Pieper weiter behauptet, dass der Kern aller geschichtlich antreffbaren Überlieferung heilige Überlieferung sei. Hieraus folgt schließlich auch der verbindliche Charakter der Tradition, wenngleich dieser unter den Voraussetzungen sich bildet, dass erstens die Möglichkeit eines jeîoV lógoV überhaupt akzeptiert wird und dass zweitens ein unmittelbarer Zugang zu diesem jeîoV lógoV nicht gegeben ist, sondern dieser immer nur vermittelt geschieht über die Älteren, die entweder Zeugen der Offenbarung oder – wegen ihrer Vorzeitigkeit – näher an sie heranreichen, als die nachgeboren jeweils Letzten in der Reihe der Empfangenden. Der Kern einer Tradition, die heilige Überlieferung, ist allerdings – hier kommen wir zur Eingangs erwähnten Frage nach dem Konservativismus zurück – zu unterscheiden, von der Peripherie, der bloß geschichtlichen Gestalt, die den Kern enthält. Die Traditionshandlung dient der unveränderten Bewahrung dieses Kerns, hier gibt es keinen Fortschritt und kein Hinzufügen. Anders ist es bei der geschichtlichen Gestalt, die sich ändern und die sogar aufgegeben werden kann. Tatsächlich ist es sogar notwendig, dass die äußere Gestalt einer Tradition sich ändert, weil die Zeitläufte sich ändern, das traditum aber – weil es einer göttlich Quelle entstammt – bewahrt werden muß, was nur gelingen kann, wenn es neu ausgedrückt wird. Dieses neue Ausdrücken geschieht in der Interpretation des traditums, die nach Piepers Verständnis eng mit dem Empfangen verbunden ist. Die Gefahr des Konservativismus besteht für Pieper dann, wenn man versucht, an dieser äußeren Gestalt festzuhalten – aus Furcht vor einem Traditionsabbruch. Diese Gefahr besteht aber nur begrenzt, weil nur dann „mit Fug von Traditionsbruch, Traditionslosigkeit, Traditionsverlust gesprochen werden kann“ „wenn die Weitergabe dieses Bestandskerns stockt oder aussetzt“ , und das heißt, wenn die Traditionshandlung scheitert, weil das traditum nicht empfangen wird.

Meine Kritik an Piepers Verständnis führe ich an drei Punkten vor, (a) dem Verständnis von Tradition als heilige Überlieferung, (b) der Entgegensetzung von Empfangen und Aneignen und (c) der Unterscheidung von Kern und Peripherie.

(a) Tradition als heilige Überlieferung

Pieper beklagt, daß in philosphischen Lexika seiner Zeit die Begriffe Tradition und Überlieferung fehlten, während in theologischen sich nur Einträge fänden, die dem „allgemeinen Sprachgebrauch“ nicht entsprächen, nämlich Tradition als katholische Lehrmeinung und als mündliche Überlieferung im Gegensatz zur Schrift. Die Behandlung in Kittels Wörterbuch sei zu knapp, ausserdem sei parádosiV sachlich unangemessen dem Stichwort dídwmi untergeordnet. In der Realenzyklopädie der Altertumswissenschaften sei schließlich tradito nur als rechtlicher Terminus behandelt. Das Problem ist allerdings, dass es das Traditionsverständnis, nach dem Pieper sucht, in der von ihm durchsuchten Zeit noch garnicht gibt. Die Konzeption von Tradition als heiliger Überlieferung findet sich so erst in der Scholastik. Das mag für katholische Ohren bedauerlich sein, ist aber nunmal nicht zu ändern.

Betrachten wir einmal in einem kurzen Galopp die Begriffsgeschichte: Eine wichtige Schwierigkeit, zumal für philosophische Autoren, ist sicherlich die theologische geprägte Geschichte des Traditionsbegriffs und seine letztlich auch theologisch initiierte Säkularisierung. Tradition leitet sich her von tradere (übergeben, überreichen) und entstammt als Substantiv traditio der lateinischen Rechtssprache, wo es den rechtlichen Akt der Übergabe einer Sache in den rechtsrelevanten Verfügungsbereich eines Empfängers im Rahmen eines Kaufvertrages oder einer Erbschaft bezeichnet. Diese Verwendungsweise findet sich noch bei Kant und zwar im §21 der Rechtslehre der Metaphysik der Sitten. Wenn ein Vertragspartner einem anderen eine Sache verspricht, z.B. im Rahmen eines Kaufvertrages, so geht die versprochene Sache erst durch Tradition, d.h. durch den Übergabeakt, in den Besitz des Empfängers über, nicht schon durch die Annahme (acceptatio) des Versprechens.. In dem zweiten Fall hat der Empfänger nicht ein Recht gegenüber der Sache, sondern gegenüber dem Versprechenden, nämlich „von ihm in den Besitz gesetzt zu werden (poscendi traditionem)“ . Diese im Vertagsrecht gründende Bedeutung findet sich heute noch im englischen „trade“. Zu einer Veränderung des Wortgebrauchs kommt es in den ersten beiden christlichen Jahrhunderten, indem traditio im übertragenen Sinne verwendet wird: nicht mehr werden nur Gegenstände übergeben, sondern Regelungen, Bräuche, Sprüche und Geschichten. Zwar ist der metaphorische Gebrauch schon bei römischen Autoren belegt, allerdings nur selten und in nachklassischer Zeit; die Etablierung der Übergabemetapher geht von christlichen Theologen aus, die tradere und traditio für das neutestamentlich vielfach belegte paradi/dwmi und para/dosij verwenden. Anders als beim lateinischen traditio gehört der metaphorische Gebrauch bereits vorchristlich zum griechischen Begriffsfeld von paradi/dwmi und Derivaten. Allerdings ist die ntl. Verwendung von para/dosij vor allem traditionskritisch, denn para/dosij bezeichnet überwiegend die sog. mündliche Thora (heute als Talmud selbst verschriftlicht) also die schriftgelehrte Auslegung von Schrift (Thora) und Propheten. Weniger oft und ausschließlich in Paulusbriefen findet sich para/dosij als Bezeichnung der neuen Lehre von Christus, und ausschließlich in einem Kontext, indem zur Bewahrung und zum Festhalten an dieser Lehre extra aufgefordert wird. Völlig anders wird es, nimmt man das Verb paradi/dwmi. Bei Mt etwa kommt es 33 mal vor, davon 29 mal in der Bedeutung von ausliefern (z.B. Jesu), 3 mal als übergeben (von Geld in die Verfügungsgewalt eines Knechtes) und nur einmal als Wissen, das Jesus von seinem Vater überliefert wurde (also nach Pieper unmittelbare Erfahrung, und deshalb gerade nicht Tradition ist) und das im Gegensatz steht zum (überlieferten) Wissen der Schriftgelehrten.

Am Anfang des Christentums stand das mündliche Weitergeben beispielsweise von angeblichen Aussprüchen Jesu, Geschichten etwa über Wunderhandlungen oder von bestimmten Regelungen zur Durchführung ritueller Handlungen mit der Repetition begleitender Sprechhandlungen (Abendmahlsparadosis; Taufpraxis). Mit der Verschriftlichung und anschließenden Kanonisierung der Texte kamen als zweiter Punkt Auslegungsweisen ursprünglicher Jesusworte sowie Ergänzungen hinzu, durch die z.B. auf sich verändernde Umstände reagiert wurde. Hieraus entwickelte sich später die Unterscheidung von Schrift und Tradition, also der Unterscheidung des schriftlich vorliegenden, kanonisierten Überlieferungsbestandes in der Bibel von den Glaubensüberlieferungen, die entlang den Auseinandersetzungen in der Alten Kirche sich bildeten. Die zentrale Funktion des theologischen traditio-Verständnisses war deshalb die Bewahrung christlicher Lehrmeinungen, die nicht im schriftlich fixierten Kanon erhalten waren. In der Auseinandersetzung mit häretischen und schismatischen Bewegungen entwickelte Vinzenz von Lérins seine die Legitimation einer Tradition klärende Formel, daß wahrhaft katholisch sei, „quod ubique, quod semper, qoud ab omnibus creditum est“: Nur wenn eine Glaubensaussage diesen Kriterien genügen konnte, sollte sie zur Tradition gerechnet werden können. Der Gebrauch des Begriffs blieb bis ins 18. Jh. hinein theologisch dominiert, spätestens aber seit der Reformation und der exklusiven Entgegensetzung von „scriptura“ und „traditio“ setzte über die theologisch inspirierte Traditionskritik seine Säkularisierung ein.

Von Tradition als heiliger Überlieferung ist in den seltensten Fällen der Begriffsgeschichte die Rede. Pieper will unter Tradition vornehmlich die „Wahrheits-Überlieferung“ betrachten und verliert dabei aus den Augen, daß die tradenda vielfältigster Art sein können, sakrales wie profanes Sach- und Handlungswissen, aber auch dingliche Gegenstände. Was ich Pieper vorwerfe, nenne ich den materialen und den substantialistischen Irrtum. Der materiale Irrtum beruht darauf, dass der Traditionsbegriff nicht von der Handlung des Tradierens, sondern von tradierten Gegenständen her entwickelt wird. Der substantialistische ist eine Folge des materialen Irrtums, indem von den jeweiligen Traditionsmaterialen einer herausgehoben wird, von dem es heißt, dieser sei das Eigentliche, die Substanz aller Tradition. Beide Irrtümer zu vermeiden heißt, stärker auf die formalen und funktionalen Aspekte des Traditionsaktes zu sehen. Dabei gilt es zunächst die Grundbedeutung sowohl von para/dosij als auch von traditio zu berücksichtigen, nämlich als gegenständlichdingliche Tradition im Kontext von Kauf, Vererbung und Schenkung. Diese Tradition ist das Vorbild für die metaphorische Erweiterung zur nicht-dinglich/gegenständlichen Tradition in Form etwa von Liedern und Bekenntnissen, Weisheitssprüchen und expliziten Normen. Diese Tradition ist durchaus noch konkret, indem sie bestimmte Formulierungen tradiert. Aber der Schritt ist nicht weit, um dem material-substantialistischen Irrtum zu erliegen, nämlich wenn von diesen konkreten Erscheinungsformen abstahiert wird zum Inhalt, d.h. dem, was ein Lied oder Bekenntnis, ein Weisheitsspruch oder eine explizite Norm ‚eigentlich‘ sagt. Denn hier kann die Metapher vom Tradieren kippen, weil das traditum nun so unveränderlich gedacht werden kann wie ein Ding, das ich vererben, verschenken oder verkaufen kann. Wie kom-men darauf unter einem anderen Blickwinkel noch einmal zurück.

(b) Empfangen und Aneignen

Zunächst aber zu meinem zweiten Kritikpunkt, der Unterscheidung von Empfangen und Aneignen, von Tradieren und Lehren. Piepers Verständnis vom Empfangen eines tradendums gleicht der Bedingung Jesu, erst zu werden, wie die Kinder. Tradition als Lehre ist allerdings ein vielfach belegter Begriff und deshalb die Beziehung von Tradition und Lehre nicht ohne gute Gründe zu bestreiten. Piepers Grund ist, dass der Vorgang des sich Aneignens ein kritisches Verfahren sei: das Zu-Lernende soll vom Lernenden kritisch geprüft werden. Das aber kann nicht für das traditum gelten, denn es soll ja unverändert überliefert werden, und durch kritische Aneignung ist es in Gefahr, Veränderung zu erfahren. Der Lernende soll wissen, der Tradition-Empfangende dagegen muss glauben. Erfährt er, was ihm Tradiert wurde, verliert das traditum seinen Überlieferungscharakter, er kann nicht mehr daran glauben, denn nun weiß er. Ich halte die Zuordnung Tradition-Glaube und Erfahrung-Wissen für nicht überzeugend. Warum nennt man den ungläubigen Thomas ungläubig? Weil er, nachdem er die Wundmale gesehen hatte, nicht mehr glaubte, sondern wußte? Sicherlich, er glaubte der Jüngerrede, also der Überlieferung, nicht, sondern bedurfte der unmittelbaren Erfahrung, aber er bedurfte dieser Erfahrung, um Glauben zu können. Eigene Erfahrung und Glaube schließen einander hierbei nicht aus, genauso wenig, wie Tradition und Wissen einander ausschließen. Dass Wissen und Glauben, Lehren und Tradieren etwas fundamental anderes seien, dass das traditum nur traditum sein kann, wenn es grundsätzlich rationaler, kritischer Überpfrüfung entzogen ist, halte ich für einen umgekehrt-kognitivistischen Irrtum; umgekehrt-kognitivistische deshalb, weil man nicht sagt, man könne nicht wissen, sondern man dürfe nicht. Ein anderes, vielschichtigeres Modell finden wir z.B. bei Wittgenstein, der in „Über Gewißheit“ schreibt:

„Das Kind lernt eine Menge Dinge glauben. D.h. es lernt z.B. nach diesem Glauben handeln. Es bildet sich nach und nach ein System von Geglaubtem heraus, und darin steht manches unverrückbar fest, manches ist mehr oder weniger beweglich. Was feststeht, tut dies nicht, weil es an sich offenbar oder einleuchtend ist, sondern es wird von dem, was darum herumliegt, festgehalten.“

Für Wittgenstein ist Glaube nicht der Gegensatz, sondern der Anfang des Wissens. Indem ich glaube, was mir andere Menschen übermitteln, lerne ich z.B. die Wissenschaften. Erst danach kommt der Zweifel. Noch einmal Wittgenstein:

„Ich habe eine Unmenge gelernt und es auf die Autorität von Menschen angenommen, und dann manches durch eigene Erfahrung bestätigt oder entkräftet gefunden.“

Pieper betont immer wieder, dass sein Traditionsverständnis sich an der allgemeinen Sprachverwendung orientiert, aber es ist erstaunlich, dass er an keiner Stelle von der Tradition als dem Bewährten spricht, sondern eigentlich nur von Tradition als dem (unverändert) Bewahrtem. Ist nicht, wenn man von bewährt im Zusammenhang mit Tradition spricht, gerade dies gemeint, dass das von anderen Übernommene immer wieder durch je eigene Erfahrung bestätigt und nicht entkräftet gefunden wurde? Dass die Tradition – auch in der kritischen Überprüfung – sich bewährt, tut der Tradition keinen Abbruch, im Gegenteil. Im Gegensatz zu Pieper vertrete ich die Auffassung, dass das tradendum zwar auch und zunächst empfangen werden muß, um traditum zu werden, dass sie aber anschließend auch angeeignet werden muß. Es gehört dies bereits zur Grundbedeutung von traditio, dass sie nicht nur datio, also Geben (und Empfangen), sondern transdatio, ein Hinüber-Geben (und Aneignen) ist. Einem geschenkten Gaul ins Maul zu schauen ist vielleicht unhöflich, macht aber die Schenkung nicht ungültig.

Lernen und auf Autorität von Anderen hin annehmen gehören eng zusammen. Den Zusammenhang und auch die Unterschiede zu klären wäre eine der Aufgaben, die einer Theorie der Tradition zukommen müssten.

(c) Kern und Peripherie

Damit komme ich zu meinem dritten Kritikpunkt, der Unterscheidung von Kern und Peripherie – wir können auch sagen von Inhalt und Form oder von Gehalt und Gestalt. Das Festhalten an der Peripherie, der bloß äußeren Erscheinungsform der Tradition ist für Pieper konservativ. Nach Pieper ist es für das tradendum nicht wichtig, wie es tradiert wird, sondern nur dass. Der Wandel der äußeren Gestalt ist dabei sogar notwendig, damit das tradendum in einer sich wandelnden Welt bewahrt werden kann. Hier trifft sich Pieper mit der gängigen theologischen Auffassung, dass es gelte, das alte Evangelium immer wieder in neuer Form zur Sprache zubringen. Die Auffassung, das man dies leisten könne, nenne ich den idealistischen Irrtum. Dieser hängt mit dem substantialistischen Irrtum zusammen, hat aber einen anderen Schwerpunkt.

Dabei möchte ich den Grundgedanken Piepers gar nicht verwerfen: Das bloße Pochen auf und Festhalten an dem immer so – also in dieser Form – Gewesenen, hängt zwar mit Tradition, jedenfalls einem bestimmten Verständnis von ihr, zusammen, ist aber nicht zwangsläufig mit ihr verbunden. Schützenfeste, Grenzgänge, historische Umzüge gehören etwa hierhin. Ebenso, was man Musealisierung und Ästhetisierung von Tradition nennen könnte, also die Sammlung von dinglichen Artefakten oder die Fixierung auf künstlerische, wissenschaftliche, religiöse Geisterzeugnisse der Vergangenheit in konservierender oder ästhethisierender Absicht. Es ist dies der Versuch, ästhetisch zu surrogieren, was real verloren ist, wie Adorno es formuliert. Und es gehört schließlich hierzu, was der britische Historiker Eric Hobsbawm „erfundene Tradition“ nennt. – Dazu vielleicht ein kurzer Exkurs, denn die Rede von der Erfindung der Tradition (invention of tradition) wird häufig falsch verstanden: Hobsbawm unterscheidet „erfundene Tradition“ von Gewohnheit und Brauchtum (custom) auf der einen Seite, Konvention und Routine auf der anderen. Er will nicht behaupten, alle Tradition sei erfunden, denn natürlich werden Gewohnheit und Brauchtum, Konvention und Routine tradiert, sondern wenn er von dem Erfinden von Tradition spricht, so ist dies eine bestimmte Art des Umgangs mit den tradita, in dem einem traditum eine bestimmte symbolische oder rituelle Funktion zukommt: Der Wiederaufbau der Dresdener Frauenkirche nach historischem Vorbild, die Restauration ganzer Stadtteile, wie etwa der Oberstadt, z.T. unter Verwendung historischer Baumaterialien oder die alljährliche Wiederaufführung von Bachs Weihnachtsoratorium in wahrscheinlich hunderten von deutschen Kirchen sind Beispiele hierfür. Das Beispiel Musik kann noch auf etwa anderes verweisen, das die rituelle und symbolische Funktion stärker verdeutlicht: das Verwenden sog. klassischer Musik in als festlich oder romantisch zu kennzeichnenden Situationen, einem Staatsakt oder einem Candel-Light-Dinner. Oder das Singen von „O du Fröhliche“ (Melodie Ende des 18., Text Anfang des 19. Jh. entstanden) als Höhepunkt des Weihnachtsgottesdienstes bei gelöschtem Licht im Schein der Kerzen – als hätten schon die Englein über der Krippen nichts anderes zu singen gewußt. Erfinden von Tradition bei Hobsbawm heißt also: einen bestimmten Punkt in der Vergangenheit wählen, Gegenstände, Sprache, Gesten immer und immer wieder zu wiederholen, bis man sich nicht mehr vorstellen kann, das es auch einmal anders war. Die Funktion ist, durch Wiederholung die kontinuierliche Bedeutung eines bestimmten Ereignisses und die bleibende Verbundenheit mit ihm zu suggerieren. Aber kehren wir zur Hauptlinie meines Gedankengangs zurück.

Musealisierung, Ästhetisierung und Erfindung von Tradition konzentrieren sich auf die äußeren Erscheinungsformen bestimmter tradita. Indem sie mit der Tradition gleichgesetzt werden, erhält der Begriff der Tradition den statischen, nur vergangenheitsorientierten Beigeschmack, den er heute hat und ich stimme mit Pieper überein, dass dieses Verständnis von Tradition und sein Zusammenhang mit Konservatismus falsch ist. Aber den Schritt, den Pieper dann vollzieht, ja vollziehen muss, kann ich nicht mitmachen. Der historische Blick auf die Welt , zeigt nicht ungebrochene Kontinuität, sondern kontinuierlichen Wandel und dauernde Entstehung von Traditionen. Pieper sagt: Das muss so sein. Wandel der äußeren Form ist sozusagen der Trick der Tradition, unverändert bewahrt zu werden. Statt das Unveränderliche am Äußeren festzumachen, wird es nach innen verlagert. Der unveränderliche Traditionskern wird so zu etwas wie einer Idee, zur eigentlichen Bedeutung. Hier wird der Zusammenhang mit dem substantialistischen Irrtum deutlich: Der ideelle Traditionskern wird als realer, von der äußeren Erscheinungsform unabhängig existierender Gegenstand gedacht. Zu ihm dringt man vor, indem man Tradition interpretiert. Dabei ist zwar festzustellen, dass auch Interpretationen sich wandeln kann, aber es gehört für Pieper zu den bedeutsamsten und erregendsten Vorgängen der Geistesgeschichte, dass eine lebendige Theologie bei sich wandelnden Interpretationen die unveränderlichen tradita zu wahren vermag. Diese Kröte will erstmal geschluckt sein. Wir müssen, um zu verstehen, was Pieper hier sagt, einen kurzen Blick werfen auf das, was Pieper unter Interpretation und im Zusammenhang damit unter Verstehen versteht. Zunächst geht Verstehen dem Interpretieren voraus; etwas richtig Verstanden zu haben ist die Bedingung dafür, zu einer „gültigen Interpretation“ zu kommen. Verstehen wird erreicht durch „personale Affinität“ zum Äußernden, die mindestens in einer connaturalitas, „einer allen geistbegabten Wesen gleichermaßen eigentümlichen Natur“ besteht. Aber Verstehen hängt noch von einer weiteren Bedingung ab: vom Glauben daran, dass das, was mir zu Ohren kommt, wahr ist. Und damit sind wir wieder bei der heiligen Überlieferung. Ohne Affinität zum inspirierten Kern eines Textes oder zum offenbarten Kern einer Überlieferung ist kein Verstehen, und somit kein gültiges Interpretieren möglich.

Kern und Peripherie, Inhalt und Form lassen sich nicht so trennen, wie es Pieper vorschwebt. Sicherlich: Die Sprechakttheorie macht uns darauf aufmerksam, dass ich die gleiche Sache auf höchst unterschiedliche Weise ausdrücken kann. Aber ist es tatsächlich immer die gleiche Sache? Gibt es nicht gewisse Nuancen und Akzentverschiebungen, die immer auch etwas anderes mit zum Ausdruck bringen? Anhand welcher Kriterien wird beurteilt, ob Thomas von Aquin die aristotelische Metaphysik tatsächlich mit „unbeirrbare[r], die Tiefe des Gemeinten erfassende[n] Sicherheit“ richtig verstanden und somit gültig interpretiert hat? Denn Pieper ist ja immerhin in der Lage, dieses Urteil zu fällen.

Ich möchte Verstehen anders verstehen. Wir haben keine andere Möglichkeit zu entscheiden, ob Verstehen gelungen ist, als durch die Auswirkungen auf einvernehmlich koordinierte Handlungen. Jemanden verstehen heißt zunächst, sich mit ihm verständigt zu haben. Wenn ich jemandem sage: „Das Eis auf dem See ist noch sehr dünn“ und mein Gegenüber sagt „Ja, ja“ und macht sich auf den Weg auf den See, dann hat er mich, wenn es sich nicht um einen Selbstmörder handelt, offensichtlich nicht verstanden. Wenn ich anhand von Gidon Kremers Interpretation von Schumanns Violinkonzert in D-moll deutlich mache, was mich an Streichermusik fasziniert, und er schenkt mir zum Geburtstag eine André-Rieu-CD, haben wir uns offensichtlich nicht verstanden. Der Vorteil dieser Beispielsituationen ist, dass wir, wenn wir das Mißverständnis bemerken, jeweils neu in einen Verständigungsprozess eintreten können, während ich mein Verständnis von Herrn Piepers Texten nicht mehr mit ihm selbst abklären kann. Hier bleibt mir nur, die Texte zu lesen, bestimmte Erwartungen an den Text zu formulieren, die von anderen Stellen belegt oder widerlegt werden und vor allem in das einzutreten, was ich Interpretationsdiskurse nenne: in regelgeleiteten Gesprächen und Diskussionen mit anderen ein gemeinsames Verständnis zu erreichen – das immer wieder in Frage gestellt werden kann. Verstanden zu haben ist ein oft temporal und lokal begrenzter, labiler Zustand, der in Relation zu bestimmten Zwecken und Situationen gelingen kann und immer wieder gelingt, aber auch schnell vergehen kann, sobald wir temporal und lokal überschaubare Grenzen überschreiten. Dies gilt es, auch im Blick auf die aneignende Interpretation von Tradition zu Berücksichtigen. Der Grund des Verstehensproblems liegt in der engen Verbindung von Kern und Peripherie, Inhalt und Form, Gehalt und Gestalt, es kann das eine nicht ohne das andere geben, und ein Verständnis nicht ohne geteilte lebensweltliche Handlungsbezüge.

3. Zum formal-funktionalen Traditionsbegriff

Ich versuche nun, im Gegenüber zu Piepers material-substantiellem Traditionsbegriff, einen formal-funktionalen Begriff derselben vorzustellen, und zwar von Ausgangspunkt der Handlung des Überlieferns. Betrachten wir zunächst die formalen Aspekte:

(a) Formal

Tradieren als Überliefern ist die metaphorische Übertragung von Vererben, Schenken, Ausliefern und es ist – wie diese – ein dreistelliger Prädikator: jemand tradiert/überliefert jemandem etwas. Denjenigen, der überliefert, nenne ich den Tradenten. Derjenige, dem überliefert wird, soll Accipient heißen. Das, was überliefert wird, ist aus Sicht des Tradenten das Tradendum, auch Sicht des Accipienten das Traditum; ich nenne es das Traditionsmaterial. Hinsichtlich der Rolle von Tradent und Accipient sind sich material-substantielle und formal-funktionale Positionen weitgehend einig (auf die Unterschiede komme ich gleich zu sprechen); der entscheidende Unterschied ist das jeweilige Verständnis von der Rolle des Traditionsmaterials. Die Frage, die Pieper stellt lautet: ist es Kern oder Peripherie. Handelt es sich um den Kern, findet Tradition statt, geht es um die Peripherie, ist es falsche Tradition, wird weder Kern noch Peripherie weitergegeben oder empfangen, findet keine Tradition statt. Ich denke, die Frage ist falsch gestellt, weil sie einen wichtigen Schritt überspringt oder nur beiläufig vollzieht, die Frage danach, was eigentlich tradiert wird und werden kann. Pieper nennt kurz einiges und konzentriert sich sofort auf die „Wahrheits-Überlieferung“, von alles weitere hergeleitet wird. Ich halte es für wichtig, diesen Schritt bewußt zu vollziehen; danach gehe ich auf die Rolle des Tradenten und des Accipienten ein.

Traditionsmateriale

Ich nenne als erstes, weil sie der Grundbedeutung von traditio am nächsten liegt aber meistens völlig übersehen wird, die Sachtradition: die Uhr des Großvaters, die Familienbibel, der Stadtschlüssel, ein Grabtuch Christi sind Beispiele hierfür.

Die nächsten beiden Punkte bedürfen einer kurzen Einleitung. Im Rahmen der theologischen Begriffsgeschichte ist von großer Bedeutung das Nebeneinanderstellen von Tradition und Schrift, wie sie sich schon im Judentum in der Unterscheidung von mündlicher und schriftlicher Thora findet. Die Unterscheidung bleibt auch nach der allmählichen Säkularisierung des Begriffs von Bedeutung, z.B. bei Herder und Kant. Mit der Entwicklung eines historischen Bewußtsein wird deutlich, das Tradition als mündliche Überlieferung anfälliger ist für Veränderungen und unbedingt abhängig ist von den Trägern der Überlieferung. Das erste ist das Stille-Post-Phänomen, das zweite das Verschwinden von Überlieferung durch Verstummen der potentiellen Tradenten (Kelten, mittelalterliche Hebammernkunst etc.). Heute beschäftigt sich ein Teil der ethnologisch-anthropologischen Forschung mit oral tradition resp. oral history, vornehmlich in schriftlosen Gesellschaften. Schrift ist dagegen beständig. Von einem Text können beliebige exakte Kopien angefertigt werden: Fackelt eine Bibliothek ab, gibt es eine andere, in der der Text bewahrt wird. Natürlich können auch Texte verloren gehen, die Abschrift kann fehlerhaft sein, aber sie ist verlust- und veränderungsresistenter als Tradition. Da aber beides, Schrift und Tradition, tradiert wird, ist man z.B. in der Theologie dazu übergegangen, von mündlicher und schriftlicher Tradition zu sprechen. Ich halte dies für sinnvoll, weil der Begriff der Tradition als mündliche Überlieferung verkürzt ist auf eine Form der Tradierung. Im Anschluß daran möchte ich deshalb neben die Sachtradition die Oral- und die Literaltradition stellen. Ich fasse diese drei Begriffe unter den Oberbegriff der Traditionsweise. Die Traditionsweise ist zu unterscheiden von der Traditionsart, das sind Werttraditionen (gut, schön etc.), Normtraditionen (moral.-prakt. und techn.-prakt.), Lehrtraditionen (Bezeichnungen, Begriffe, Theorien) Institutionstraditionen (z.B. Erziehung, Ehe, Kirchen) und Brauchtumstraditionen (Riten, Symbole, Gegenstände). Hier sind eindeutige Zuweisungen schwierig, weil sie oft zusammenhängen. Ich kann nun den Vorwurf des materialen und substantiellen Irrtums präzisieren. Der materiale Irrtum ist der grundlegendere, nämlich den Traditionsbegriff auf den Begriff der Traditionsmateriale zu beschränken, während der substantielle Irrtum darin besteht, Tradition auf eine Traditionsart zu reduzieren und sie zur Grundlage einer eigentlichen Tradition zu machen. Wir müssen deshalb weitergehen und die Handlung des Tradierens genauer betrachten, und zwar indem wir die Rolle der an dieser Handlung Beteiligten in Relation zu den Traditionsweisen betrachten.

Tradent

Zunächst: Was macht einen Tradenten zu einem Tradenten und unterscheidet ihn von einem Vererbenden oder Schenkenden? Diese Frage ist leicht zu beantworten: Der Tradent muss selbst einmal Accident gewesen sein und er muß den Accipienten als künftigen Tradenten verstehen. Dies ist die entscheidende Abweichung des ursprünglichen vom metaphorischen Gebrauch des Ausdrucks „Tradition“. Der ursprüngliche Begriff bezeichnet den performativen Akt der Besitzübergabe: etwas geht vom Besitz des einen in den Besitz des anderen. Anders nach der metaphorischen Wende, in deren Folge das Begriffsverständnis nun auch auf den Übergabeakt von Dingen rückwirkt: Wenn ich einen Stein finde und verschenke, bin ich nur Schenkender. Wenn ich einen geschenkten Stein weiterverschenke, werde ich zu etwas ähnlichem wie einem Tradenten. Zum Tradenten werde ich, wenn ich einen geschenkten Stein weiterverschenke in der Absicht, dieser möge wiederum weiterverschenkt werden – von Generation zu Generation.

Der Sachtradent muß Besitzer des Traditionsmaterials sein. Nur der, der die Uhr des Großvaters erhalten hat, kann diese weitergeben. Nur der frühere Bürgermeister kann dem künftigen den Stadtschlüssel – in einem symbolischen Akt – übergeben.

Etwas schwieriger ist die Situation bei Oral- und Literaltradenten. Natürlich kann man ein bestimmtes Buch, etwa die Familienbibel, tradieren, aber es geht bei diesem Übergabeakt nicht um den Text, den das Buch enthält, sondern um den bestimmten Gegenstand. Deshalb ist der Familienbibeltradent ein Sachtradent. Bei der Oral- und Literaltradition geht es aber um die Weitergabe eines Textes.

Der Oraltradent tradiert, indem er erzählt oder lehrt. (Es wäre an dieser Stelle interessant, unter dieser Perspektive sich einmal Walter Benjamins Verständnis vom Erzähler anzusehen.) Beispiele dafür finden sich in der Geschichte viele, aber auch in der Gegenwart: sog. Moderne Mythen (Spinne in der Yucka-Palme), Gerüchte, Sprichworte, Witze. Wie sehr Oraltraditionen einem Wandel unterliegen, kann man sich durch die Situation vergegenwärtigen, in der jemand einen Witz erzählt und jemand anderes darauf reagiert: „Den kenne ich ganz anders.“ Man kann aber auch daran denken, dass erst durch die Verschriftlichung Wandel evident wird. Früher glaubte man, gerade im Blick in der Oralität verwendete Mnemo-Techniken, dass es auch in Oraltraditionen bleibende Bewahrung des Ursprünglichen gebe. Anthopologische Forschungen seit dem letzten Jahrhundert haben aber etwas anderes zutage gebracht: Die vom Forscher schriftlich fixierte Oraltradition wich von 100 Jahre später schriftlich fixiert Oraltradition ab. Wer das Medium Schrift nicht kennt hat kaum Kriterien, anhand derer er einen Wandel feststellen kann. Ihm erscheint das Überlieferte unverändert und unveränderlich. Es kommt ihm wahrscheinlich gar nicht in den Sinn, dass es sich ändern könnte.

Betrachten wir nun den Literaltradenten. Er unterscheidet sich vom Oraltradenten vor allem dadurch, dass er sich durch die Verwendung des Mediums Schrift selbst überflüssig macht. Die Oraltradition ist vom Tradenten abhängig: Ohne jemanden, der sich an das Traditionsmaterial erinnert und redend weitergibt, verschwindet sie. In der Literaltradition wird das Medium der Schrift selbst zu einer Art Gedächtnis; dem Literaltradenten kommt nur noch die Aufgabe zu, den Text zu erhalten (Archivar und Kopist) und auf ihn zu verweisen (Zitat). In der Oraltradition begegnen sich Tradent und Accipient face-to-face. In der Literaltradition braucht der Accipienten diese Begnung nicht, es muß ihm nur möglich sein, Zugang zu den Texten zu haben (Bibliothek). Allerdings bilden sich im Zusammenhang mit Literaltra-ditionen schnell Oraltraditionen. Auch die Thora ist nicht als Werk vom Himmel gefallen, sondern in einem langwierigen Prozeß oraler wie literaler Traditionen gewachsen. Mit der allmählichen zeitlichen Distanz zur Verschriftlichung und Redaktion wuchsen durch gesellschaftliche, kulturelle, sprachliche Veränderungen Fragen danach, was denn mit dieser oder jener Stelle gemeint sei. Aus den Antworten darauf entstanden divergierende orale Interpretationstraditionen, die die Übermittlung der Literaltradition begleiten (oder auch nicht).

Accipient

Anders verhält es sich mit dem Accipienten. Er wird nach dem hier vorgestellten Begriff zur zentralen Gestalt im Traditionsprozeß. Bei Pieper war er passiver Empfänger. Ich möchte dagegen den Accipienten – ähnlich wie den Rezipienten in der Rezeptionsforschung – als aktiv Beteiligten verstehen. Zwei Schritte prägen den Akt der Acciption: der autoritative und der hermeneutische.

Um zum ersten Schritt zu gelangen, benötigen wir eine Rehabilitierung und Neukonzipierung des Autoritätsbegriffs. Piepers Modell verlangt, dass der Tradent Autorität hat. Darum geht es nicht, sondern es geht darum, dass der Accipient dem Tradenten Autorität zuspricht. Diese zugesprochene Autorität, die vom Accipienten ausgeht, kommt nicht von verliehener (oder ererbter) Macht und Gewalt (Lehrer, Pastor, Polizist), oder wie bei Pieper durch die Nähe zum Urheber, Anstifter, Erfinder, Begründer, sondern wem Autorität zugesprochen wird, wird als Gewährsmann, Zeuge, Bürge oder auch als Anrater und Berater akzeptiert. Ich kann hier keine umfassende Analyse des Autoritätsbegriffes vornehmen, muß aber auf den Zusammenhang in Bezug auf die Rede von der posttraditionalen Gesellschaft eingehen. Bereiten Sie sich nun auf einen zügigen Galopp durch das vergangene Jahrtausend vor. Hannah Arendt beschreibt in ihrem Buch über die Revolution den Beginn der Neuzeit als Zusammenbruch des altrömischen Zusammenhangs von Autorität, Tradition und Religion. Die feudale Gesellschaft des Mittelalters war streng hierarchisch strukturiert und in zwei Welten gespalten, eine politische und eine religiöse. Seit der Vereinigung in der konstantinischen Wende habe diese aber nie harmonisch nebeneinander gelebt, gleichwohl sich gegenseitig gestützt. Im ersten Jahrhundert des letzten Jahrtausends findet der Konflikt einen Höhepunkt im Streit um die Laieninvestitur. Hier erhält das System einen gehörigen Knacks, aber es kommt noch schlimmer. Das Feudalsystem gründet wesentlich auf Landbesitz. Davon sind die Händler frei. Durch immer weitreichendere Handelsbeziehungen erreichen Händler und Banker immer größeren Einfluß, exemplarisch vereinigt bei den Fuggern. Die Fugger ermöglichen Karl V., Kaiser zu werden. Auch Albrecht II., Kurfürst von Brandenburg und Bischoff in Mainz, gehört zu ihren Schuldner. Um die Schulden zu begleichen, baut er den Ablasshandel aus, und mit dem Stichwort Ablasshandel betritt ein Wittenberger Theologieprofessor die Bühne. Anders als andere Ketzer vor ihm wird er aber nicht getötet, sondern erhält politischen Schutz. Der theologische Streit, der sich anschließt, ist ein Streit um das Auslegungsmonopol der Kirche, der in den Begriffen Schrift und Tradition schlagwortartig verdichtet ist. Und dieser Streit wird als einer der ersten publizistisch geführt – ermöglicht durch die Erfindung des Buchdrucks. Handel und Buchdruck sind m.E. die zentralen Faktoren die das Ende des Feudalismus einleiten. In welcher Hinsicht ist die nun entstehende Gesellschaft posttraditional? Zunächst kann man die Gesellschaft nicht postautoritär nennen, weil es weiterhin Autoritäten gibt, deren Legitimation aber anders hergeleitet wird. Sie ist auch nicht postreligiös, eher schon postklerikal, weil der politische Einfluß der Klerus sich verringert. Bleibt die Tradition. Und in der Tat ist nicht von der Hand zu weisen, dass die Bedeutung der Traditionsmateriale schwindet. Aber schwinden damit alle Traditionsmateriale, sind sie grundsätzlich in Frage gestellt? Ich meine: Nein. Für einen Begriff der Tradition, der von Traditionsprozessen her entwickelt wird, ist Traditionsverlust und -wandel ein normaler Vorgang: Was sich nicht (mehr) bewährt, braucht nicht bewahrt zu werden. Aber die Möglichkeit, die Traditionsmateriale monopolistisch zu verwalten und bestimmte Traditionsinterpretationen durch Macht und Gewalt durchzusetzen, wird zunehmend beschränkt. Es war nur ein kleiner Schritt vom Priestertum aller Gläubigen zur Konzeption des autonomen Subjekts. Was die Neuzeit prägt und sie zu einer modernen Gesellschaft macht ist nicht Traditionsverlust, sondern die Pluralisierung von Traditionen. Die auf Handel beruhende finanzielle Freiheit des Bürgertums wird – unterstützt durch die entstehende Publizistik (Bücher, v.a. aber Zeitungen) – auch zu einer geistigen Freiheit. Unterstützt wird dieser Wandel durch die Entwicklung eines weitreichenden Bildungssystems und den Prozeß der Industrialisierung, in dem nicht mehr Landbesitz sondern Arbeit zur Erwerbsgrundlage wird. Moderne Gesellschaften sind nicht post-traditional, sondern multi-traditional. Das Gewicht im Traditionsprozess verlagert sich von der Fixierung auf Tradent und Traditionsmaterial hin zur Orientierung am Accipienten, der den Tradenten wählt.

Gleichwohl bleibt: Ohne die Anerkennung eines Tradenten als Autorität durch den Accipienten scheitert die Traditionshandlung bereits auf der ersten Stufe. Ich denke, dass das Charakteristikum dieser Anerkennung bei Pieper durchaus richtig getroffen ist, wenn der den Begriff des Glaubens anführt. „Das Kind lernt“, heißt es bei Wittgenstein, „indem es dem Erwachsenen glaubt.“ Aber es ist ein Fehler, hierbei stehen zu bleiben. Wittgenstein führt deshalb fort: „Der Zweifel kommt nach dem Glauben.“ dieser Zweifel ist kein grundsätzlicher Zweifel, sondern ein Zweifel der kommt, wenn sich das gelernte Bewahrte nicht bewährt. Nur aufgrund dieses Prozesses ist z.B. eine Veränderung und Verbesserung von Praxen möglich. Grundlage dieses Fehlers bei Pieper ist, was ich den aktualen Irrtum nennen möchte. Piepers formales Traditionsverständnis reduziert Tradition auf den konkreten Akt der Übergabe, so wie bei dem Grundbegriff der Gegenstand erst durch traditio in den Besitz des anderen übergeht. Mit der metaphorischen Wende wird der performative Akt prozessual erweitert. Dieser Prozess ist ein hermeneutischer, ein interpretatorischer. Der Accipient muß zum Interpreten werden, wobei Interpret nicht begrenzt verstanden sein soll als Textinterpret und -ausleger, sondern auch eine Handlungsinterpretation umfasst: Beispiele sind der Musiker, der ein Stück aufführt, aber auch der Handwerker, der ja nicht nur dumpf eine erlernte Handlung wiederholt, sondern ihr zugleich eine eigene Note, einen eigenen Stil aufprägt: Die Handwerkstradition einer Familie bricht nicht dadurch ab, dass ein ursprünglicher Bauschreinerbetrieb zum filigraneren Tischlerbetrieb wird, sondern dadurch, dass die Kinder Angestellte; Beamte, Akademiker werden. Die Notwendigkeit hermeneutischer Aneignung beruht auf der eigentümlichen Verbindung von Kern und Peripherie, Inhalt und Form. Es ist ein historistischer Irrtum, zu glauben, man könne zum ursprünglichen Sinn einer wie auch immer tradierten Aussage kommen. Gleichwohl sind Kern und Peripherie nicht getrennt. Der traditionale Aneignungsprozess bewegt sich, wie m.E. jeder Verstehensprozess – ich greife ein Bild des methodischen Kulturalismus auf – zwischen der Skylla des Sprachrealismus und der Charybdis des Dekonstruktivismus. Ein wichtiger Aspekt dabei ist, was ich die Kontextualität der Tradition nenne: Das aktuale Mißverständnis verleitet dazu, die Traditionsmateriale vereinzelt zu sehen. Sie stehen aber in einem verzweigten, systemischen Zusammenhang, in dem sich die verschiedenen Materiale gegenseitig stützen und halten.

(b) Funktional

Leider ist die Geduld von Zuhörern, anders als die von Rednern, begrenzt, deshalb werde ich langsam zu einem Ende und auf die funktionalen Aspekte deutlich kürzer zu sprechen kommen, um anschließend in einer Art Ausblick noch kurz zu skizzieren, wie ich mir eine im Anschluß an den vorgestellten Begriff der Tradition zu entwickelnde Theorie der Tradition aussehen könnte.

Ich nenne drei funktionale Aspekte:

Bewahrung

Traditionsprozesse dienen der Bewahrung von Gegenständen sowie Sach- und Handlungswissen. Das ist ohne Zweifel eine konservative Funktion. Die Bewahrungsfunktion erfüllt aber zugleich eine kritische Funktion, nämlich neue Entwicklungen kritisch am Alten vergleichen zu können. Beispielhaft sei hier genannt die atl. Prophetenkritik an kultischen, v.a. aber politischen Entwicklungen in der israelitischen Königszeit und die Kritik am Nationalsozialismus durch die Bekennende Kirche. In der Sprache von Adornos paradoxem Traditionsverständnis heißt das: die Tradition stellt „heute vor einen unauflöslichen Widerspruch. Keine ist gegenwärtig und zu beschwören; ist aber eine jegliche ausgelöscht, so beginnt der Einmarsch in die Unmenschlichkeit.“

Orientierung

Traditionsmateriale dienen der Orientierung, indem sie Handlungsalternativen reduzieren. In Form von Sprichworten, Weisheitssprüchen, Geboten, Verboten etc. raten sie in oft mnemotechnisch komprimierter Weise, welche der vielen Handlungsalternativen wir wählen sollten und wie die Handlung ausgeführt werden sollte. Man denke hierbei an Handwerkstraditionen oder an die Entwicklung von Spielen. Von hier aus ergeben sich weitreichende Folgen für Ethik und Handlungstheorie.

Identität

Die Bezugnahme auf Traditionsmateriale ermöglicht Identitätsbildung. Das ist der Sinn der Rede von „in einer Tradition stehen“. Unter modernen Bedingungen der Multitraditionalität geschieht dies vorwiegend durch Selbstverortung in ausgewählten Traditionen. Nicht zu unterschätzen ist dabei aber die unbewußte Übernahme von Traditionen. Dieser Aspekt kam in meinem Vortrag eindeutig zu kurz, soll aber erwähnt werden. Nach der bisherigen Darstellung war der Traditionsprozess vorwiegend ein Lehr- und Lernprozess. Das ist intellektualistisch verkürzt. Es gibt auch eine Art von Gewohnheitstradition, die nicht in einer bewußten lehr- und Lernsituation geschieht, sondern z.B. durch das Nachahmen von Gewohnheiten: von Gesten, Sprachstilen, Handlungsnuancen u.a. Bei der Rede von Gewohnheitstradition bewegen wir uns allerdings am Rande des Traditionsbegriffs, weil ein bestimmter formal-funktionaler Aspekt fehlt, nämlich die Bewahrungsabsicht. Man kann auch sagen, dass Tradent und Accipient sich ihrer Rolle nicht bewußt sind. Man denke hierbei an Gesten, die sich im Rahmen von Jugendkultur entwickeln und z.T. nur innerhalb eines kurzen Zeitraumes tradiert werden. Ein Aspekt der identitätsstiftenden Funktion wird durch Hobsbawms Rede von der „Erfindung der Tradition“ ausgedrückt.

4. Zur Theorie der Tradition – Traditionalismus oder Traditiologie

Ich komme damit zum Schluß: Der nun einsetzende pastorale Tonfall sei mir nachgesehen, aber jetzt werde ich programmatisch.

Für die philosophische Frage nach der Tradition in multi-traditionaler Zeit stehen wir an einer entscheidenden Wegkreuzung, wie wir eine Theorie der Tradition einwickeln könnten: Gehen wir hin zum Traditionalismus, also einer – ich betone – modernen Konstruktion einer Traditionstheorie unter der Prämisse, dass das jeweils Vorige, Ältere, Ursprünglichere das Bessere war, und alles Nachfolgende Abfall und Dekadenz? Oder gehen wir hin zu einer Traditio-Logie als einer vernünftigen Rede von und über Tradition, die zwar nicht mehr an den aufklärerischen Fortschrittsoptimismus glaubt, aber in der Hoffnung handelt, dass das Bessere immer noch vor uns liegt? Von beidem übrigens erzählt auch die Bibel, dieses Sammelsurium unterschiedlichster Traditionen: Ist die Geschichte eine Geschichte nach dem Sündenfall, in der es immer weiter bergabgeht und an deren Ende das Strafgericht steht? Oder ist die Geschichte die Geschichte einer Schöpfung, deren Vollendung noch vor uns liegt, in der Apokatastasis panton?

Der Traditionalimus will uns weiß machen, es habe einmal eine Zeit gegeben, in der die Traditionsmateriale uneingeschränkte Akzeptanz erfahren hätten. Er will uns einreden, man habe bis zur Aufklärung an die unveränderliche, ewig wahre Weisheit der Alten geglaubt. Alle Probleme der gegenwärtigen Gesellschaft beruhten darauf, mit der Tradition gebrochen zu haben. Aber das ist ein traditionalistischer Irrtum: Er läßt vor uns eine Welt entstehen, die es nie gegeben hat, zu der er aber fordert zurück zu kehren.

Anders eine Traditio-Logie. Ihr philosophisch-systematischer Ort wäre die Frage nach Anfang und Herkunft unseres Wissens und Handelns. Sie stellt damit grundlegend die Frage nach den kultürlichen Bedingungen derselben – insofern wäre eine Traditio-Logie anschlußfähig an den methodischen Kulturalismus. Allerdings würde der Traditiologe fragen: „Was ist denn eine kulturalistische Wende? Sicherlich: Wir hatten eine Linguistische Wende, die die Bedeutung der Sprache für unser Denken darlegte. Wir hatten eine pragmatische Wende, die den unauflöslichen Zusammenhang von Sprechen und Handeln betonte. Wenn uns aber bewußt wird, dass Sprechen und Handeln durch Tradition zu uns kommen: Müsste man dann nicht von einer traditio-logischen Wende sprechen und die Trias von Sprache, Handlung und Tradition als Kultur?“ – Aber da geht der Traditiologe jetzt ein bischen zu weit.

Der Traditionalismus sagt, dass wir, vor die Wahl zwischen rational-kognitiv einsehbaren, neuen Erkenntnissen und der Überlieferung der Alten (vornehmlich der Kirchen) gestellt, wir uns für die Überlieferung der Alten entscheiden sollten. Er gleicht damit einem Menschen, der bei einer Wanderung lieber an dem Irrtum festhält, in dieser bestimmten Richtung liege das Ziel, und weitergeht, als sich dem Diktat von Kompass und Karte zu beugen und umzukehren – mit dem Argument auf den Lippen, man sei doch schließlich schon so weit gekommen. Tradition ist dagegen, über Kompass und Karte zu verfügen und sie benutzen zu können. Ich bin davon überzeugt, dass dieser Begriff von Tradition gerade in einer so mit Zukunft besetzen Zeit, wie sie das „Jahr 2000“ symbolisiert, einige Möglichkeiten bietet. Dem Traditionalisten wäre hinterher zu rufen, dass wir ohne Traditionsprozesse mit rational-kognitiver Einsicht in das jeweils Tradierte und dem begründeten Verwerfen überlieferter Irrtümer wohl kaum in der Lage wären, bis 2000 zu zählen.