Zur Rolle der Tradition in Rawls‘ Theorie der Gerechtigkeit
1. Atraditionaler Utilitarismus und Gerechtigkeitstheorie
Die Theorie der Gerechtigkeit als Fairness sieht ihren Hauptgegner im Utilitarismus, gleichsam als einem Konkurrenten auf dem Felde der formalen Ethik. Der Haupteinwand gegen den Utilitarismus besteht darin, dass er die verschiedenen Interessen der einzelnen Menschen nicht wahren kann. Genau dies aber ist für Rawls die Stärke einer Theorie der Gerechtigkeit als Fairness, und zwar durch die paradoxe Situation, dass die Interessen aller gewahrt werden, indem jeder Einzelne sich um die Befriedigung eigener Interessen kümmert.
Das Nutzenprinzip des Utilitarismus, also die Idee einer Maximierung der Nutzensumme, benötigt nach Rawls zahlreiche zusätzliche Unterstellungen, die den Gedanken erst plausibel machen. Die eigene theoretische Konstruktion des Urzustandes dagegen benötigt nur ein Minimum an Vorannahmen. Es sei hier dahingestellt, inwieweit Rawls recht zu geben oder zu widersprechen wäre, die zentrale Idee der Urzustandsfiktion als Grundlage eines Gesellschaftsvertrages – und Rawls macht keinen Hehl daraus, dass es sich bei dem Urzustand um eine Fiktion, ein Gedankenexperiment, und nicht etwa eine „Volksversammlung aller Menschen“ (Rawls 1998, 162) oder ähnliches handelt – ist jedenfalls unmittelbar nachvollziehbar: Welche Grundsätze würden Menschen bei einer (vorgestellten) Versammlung beschließen, um einen gerechten Umgang untereinander sicher zustellen, wenn sie zwar wüssten, dass sie Interessen verfolgen, aber ihre Interessen im einzelnen nicht kennen würden?
Vergleichbar ist dies der Vorstellung, welche Regeln man etwa für ein Kartenspiel beschließen würde, wenn man zwar weiß, dass man nach dem Verteilen Karten in der Hand halten wird, aber nicht weiß welche. Wüsste man die Kartenverteilung, würde man versuchen, für sein (zufällig so entstandenes) Blatt die bestmöglichen Regeln zu schaffen. Kennt man seine Karten nicht, weiß aber u. a. welche Karten im Spiel sein werden (nur die Verteilung ist unbekannt), so wird man eher Regeln zustimmen, die die Vor- und Nachteile bestimmter Karten und -kombinationen abgleichen, um so einigermaßen gleiche Voraussetzungen für jeden einzelnen Spieler zu schaffen. Der Zustand des Nichtwissens wird von Rawls bildhaft als „Schleier“ (ebd., 29) ausgedrückt, wodurch angedeutet ist, dass es sich weder um ein vollständiges noch um eine teilweises Wissen handelt, sondern ein quasi schemenhaftes: Wie man bei hinter einem Schleier verborgenen Körpern nur deren Formen erkennt, so verbirgt der Schleier des Nicht-Wissens konkrete Neigungen, Wünsche und Bedürfnisse.
Demgegenüber geht das Modell des Utilitarismus aus von einer Art allwissenden, unparteiischen Beobachter, der die Interessen aller kennt, abwägt und schließlich ein Urteil gemäß einer wie auch immer zu messenden Summe des Besten für alle fällt. Dabei wird angenommen, dass die Einzelnen eines Gemeinwesens sich zu einem Organismus zusammenfügen, in dem geringere Nachteile für die einen durch bedeutendere Vorteile für andere oder Nachteile einer Minderheit durch Vorteile einer Mehrheit aufgehoben werden. Statt einer für jeden Einzelnen akzeptablen Lösung sucht man also nach einer Lösung, die dem angenommen Gesamtorganismus den größten Durchschnittsnutzen bringt. Das Modell des unparteiischen Beobachters führt also zu einer „unindividualistischen Zusammenfassung aller Bedürfnisse zu einem einzigen Bedürfnissystem“ (ebd., 215). Damit aber wird die Verschiedenheit der Bedürfnisse und Interessen einzelner ignoriert und so das Hauptproblem der Gerechtigkeit gar nicht berührt, das gerade im Vorliegen einander ausschließender Interessen besteht. Die Annahme einer gegenseitigen Desinteressiertheit im Urzustand ist demgegenüber für Rawls brauchbarer als das Beobachtermodell, dessen Hauptfehler in einer „Verwechslung von Unparteilichkeit mit Nicht-Person-Sein“ (ebd., 217) besteht. Eine angemessenere Deutung des Begriffs der Unparteilichkeit soll in der Theorie der Gerechtigkeit als Fairness paradoxerweise durch die parteilich vertreten Interessen durch jeden Einzelnen erreicht werden.
2. Tradition als Teil der moralischen Entwicklung
Der fiktionale Urzustand ist kein voraussetzungsfreier Nullpunkt, sondern das Modell geht – das ist seine Pointe – gerade davon aus, dass jeder Einzelne Bedürfnisse, Neigungen, Vorstellungen bereits hat. Durch den Schleier des Nichtwissens aber wird die Kenntnis der Inhalte beschnitten. Dies gilt in gleicher Weise für Vorstellungen vom Guten, die als Systeme der vernünftigerweise von einem Einzelnen verfolgten Ziele verstanden werden. Was jemand als ‚gut für sich‘ bezeichnet gehört zu dem, was Rawls als schwache Theorie des Guten im Unterschied zu einer vollständigen Theorie bezeichnet. Als zentrale Elemente einer schwachen Theorie des Guten gehen der Begriff der Vernünftigkeit wie die Annahme, dass jeder einzelne bestimmte Grundgüter wie Freiheit, Vermögen und Selbstachtung zu erlangen wünscht, der Herleitung der Gerechtigkeitsgrundsätze voraus.
Gleichwohl ist der Begriff des Guten formal konzipiert. Welche Neigungen, Bedürfnisse oder Vorstellungen im einzelnen zu bestimmten Handlungen motivieren, ist irrelevant. Als Motivationsprinzip führt Rawls ein, was er den Aristotelischen Grundsatz nennt: „Unter sonst gleichen Umständen möchten die Menschen gern ihre (angeborenen oder erlernten) Fähigkeiten einsetzen, und ihre Befriedigung ist desto größer, je besser entwickelt oder je komplizierter die beanspruchte Fähigkeit ist.“(ebd., 464) Um einen Tisch zu bauen mag es genügen, unter eine Platte vier Beine zu nageln, wer aber erst einmal grundlegende Tischlertechniken beherrscht, so unterstellt Rawls Gedankengang, wird durch die Anwendung von Gehrungen und Zapfverbindungen größere Befriedigung erlangen als durch simple Stoßverbindungen. Diese am Bild herstellenden Handelns gewonnene Vorstellung soll auch für moralisch-praktische Handlungen gelten, angefangen bei einfachen Handlungsanweisungen bis hin zu komplexen Formen ganzer Lebensplanung.
Im Rückgriff auf entwicklungspsychologische Modelle entwirft Rawls ein Drei-Stufen-Schema der Moralitätsentwicklung, dessen 1. Stufe als autoritätsorientierte Moralität in der Eltern-Kind-Beziehung ihren deutlichsten Ausdruck findet. Mit der Weiterentwicklung zur 2. Stufe, der gruppenorientierten Moralität, wird aus der losen Sammlung von Einzelanweisungen der ersten Stufe eine bereits grundsatzorientierte Moralität, die einhergeht mit dem Einüben bestimmter Rollen und dem Erfüllen spezifischer Rollenerwartungen. Ihr systemischer Zusammenhang erscheint als feines Netz von Rechten und Pflichten eines jeden Mitglieds im Gesamtkontext der Gruppe, deren ideale Erfüllung als Tugenden vorgestellt werden. Das gleichzeitige oder aufeinander folgende Vertreten verschiedener Rollen erfordert ein „immer größeres Urteilsvermögen und feinere moralische Abwägungen“ (ebd., 509) und ermöglicht auf der Grundlage der vorgängigen kognitiven Entwicklung einerseits eine Erkenntnis des systemischen Zusammenhangs für den einzelnen relativ zu den von der Gruppe verfolgten Zielen und Zwecken. Es ermöglicht andererseits die Fähigkeit, innerhalb dieses Zusammenhangs unterschiedliche Standpunkte einnehmen zu können. Dies wiederum ist die Basis dafür, nicht nur zu lernen, dass die Dinge für einen anderen anders aussehen, sondern dass auch die Ziele und Bedürfnisse, Pläne und Motive andere sein können, als die eignen. In Ansätzen grundsatzorientiert ist diese Stufe der moralischen Entwicklung deshalb, weil das Ideal der gesellschaftlichen Zusammenarbeit spezifische Tugenden einfordert wie Gerechtigkeit und Fairness, Treu und Glauben, Integrität und Unparteilichkeit, die zwar innerhalb eines fairen Systems inhaltliche Vorgaben darstellen, aber von konkreten Situationen soweit abstrahieren, dass sie nicht bestimmte Handlungen verlangen, sondern als Grundsätze Bewertungsmaßstäbe für eine Vielzahl von Handlungssituationen bereitstellen. Das Motiv, sich in das komplexe Normensystem einzufinden und sich an den inhaltlichen Vorgaben zu orientieren, wird durch den Aristotelischen Grundsatz erklärt.
Die 3. Stufe ist die einer grundsatzorientierten Moralität. Der Aristotelische Grundsatz als Motivationsprinzip erklärt die Aneignung moralischer Normen über die Bindung an Gruppen und Personen, die z.B. Vorbildfunktion haben, indem sie komplexere Formen individuellen und gemeinschaftlichen Handelns vorleben und so – möglicherweise motiviert durch den Wunsch nach gesellschaftlicher Anerkennung – zum eigenen Tun anregen. Die Fähigkeit, sich in andere hineinversetzen zu können, wird dabei zur Grundlage der Weiterentwicklung hin zur Orientierung an den formalen Gerechtigkeitsgrundsätzen selbst und der Ausbildung eines Gerechtigkeitssinns. In der Endfassung lauten die Gerechtigkeitsgrundsätze und die Vorrangregeln bei Rawls:
„Erster Grundsatz
jedermann hat gleiches Recht auf das umfangreichste Gesamtsystem gleicher Grundfreiheiten, das für alle möglich ist.
Zweiter Grundsatz
Soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten müssen folgendermaßen beschaffen sein:
(a) sie müssen unter der Einschränkung des gerechten
Spargrundsatzes den am wenigsten Begünstigten den größtmöglichen Vorteil
bringen, und
(b) sie müssen mit Ämtern und Positionen verbunden sein, die allen gemäß fairer Chancengleichheit offenstehen.
Erste Vorrangregel (Vorrang der Freiheit)
Die Gerechtigkeitsgrundsätze stehen in lexikalischer Ordnung;
demgemäß können die Grundfreiheiten nur um der Freiheit willen
eingeschränkt werden, und zwar in folgenden Fällen:
(a) eine weniger umfangreiche Freiheit muß das Gesamtsystem der Freiheiten für alle stärken;
(b) eine geringere als gleiche Freiheit muß für die davon Betroffenen annehmbar sein.
Zweite Vorrangregel (Vorrang der Gerechtigkeit vor Leistungsfähigkeit und Lebensstandard)
Der zweite Gerechtigkeitsgrundsatz ist dem Grundsatz der
Leistungsfähigkeit und Nutzenmaximierung lexikalisch vorgeordnet; die
faire Chancengleichheit ist dem Unterschiedsprinzip vorgeordnet, und
zwar in folgenden Fällen:
(a) eine Chancen-Ungleichheit muß die Chancen der Benachteiligten verbessern;
(b) eine besonders hohe Sparrate muß insgesamt die Last der von ihr Betroffenen mildern.“ (ebd., 336f).
Das Verfahren zur Entwicklung der Grundsätze ist dabei das Modell des Urzustandes, wie er sich prozessual im „Vier-Stufen-Gang“ (ebd. 223) präsentiert. Am Anfang steht dabei die Fiktion einer verfassungsgebenden Versammlung, die unter realen Bedingungen am Maßstab der unvollkommenen Verfahrensgerechtigkeit orientiert sich selbst jene Ordnungen gibt, unter denen von der gerechten Verfassung her allgemeine Gesetze beschlossen werden können, die schließlich auf Einzelfälle angewendet werden. Für die individuelle Moralentwicklung ist entscheidend, dass die Gerechtigkeitsgrundsätze zu eigenen Grundsätzen werden. Erst wenn dieser Schritt erfolgt ist, lässt sich von jemandem sagen, er habe einen Gerechtigkeitssinn. Dieser ist gekennzeichnet durch die Anerkennung gerechter Institutionen und durch das Mitwirken am Errichten und Bewahren derselben.
An diesem Punkt nun kommt die für unsere Fragestellung wichtige Tradition ins Spiel, auch wenn der Begriff selbst in diesem Kontext von Rawls nicht verwendet wird. Zunächst einmal ist festzustellen, dass das Wort „Tradition“ von Rawls in der ganzen Bandbreite seiner alltäglichen und unspezifischen Verwendung gebraucht wird. Betrachten wir den umfangreichen Text einmal hinsichtlich der Häufigkeit der Ausdrücke „Tradition“, „traditionell“ und „tradieren“, so begegnen die Wörter (im deutschen Text) insgesamt 32 mal. Von Interesse für die hier vorgelegte Studie sind davon allenfalls 11 Stellen (Rawls 1998: 207, 307, 315, 363, 367, 531, 560, 563, 567, 569, 571). Überwiegend läßt sich „Tradition“ etc. ersetzen durch Begriffe wie „herkömmlich“ oder „üblich“ (z.B. ebd., 27 und 405), „Geschichte“ oder geschichtlich“ (z.B. ebd., 34, 69 oder 631) , oder der Begriff wird im weiteren Sinne verwendet, z.B. in Ausdrücken wie rationalistische, empiristische, vertragstheoretische oder gar philosophische Tradition (ebd., 501, 538, 284, 72).
Eine Begriffseinführung fehlt ebenso wie eine explizite Reflexion der Thematik. Das die explizite Verwendung des Wortes „Tradition fehlt, bedeutet aber nicht, dass Rawls das Phänomen der Tradition nicht reflektieren würde. Tatsächlich nimmt Rawls in seinen Überlegungen zur grundsatzorientierten Moralität implizit zur Frage der Tradition Stellung.
Sowohl die autoritäts- als auch die gruppenorientierte Moralität sind an zufällige Umstände gebunden, die erst in der Orientierung an den Gerechtigkeitsgrundsätzen selbst keine Rolle mehr spielen. Rawls nennt drei Arten von Zufälligkeiten, namentlich natürliche, gesellschaftliche und geschichtliche, die perspektivisch sicherlich wichtige Differenzierungen ermöglichen, deren Gegenstandsbereiche aber auch bei Rawls sich gelegentlich decken. So ist beispielsweise die Frage der Geschlechterdifferenz als natürlicherweise gegebene Zufälligkeit offenkundig; in welcher Weise aber diese Differenz für moralische Diskussionen von Bedeutung ist, kann gegebenenfalls in einer gesellschaftlichen Perspektive, also etwa hinsichtlich bestimmter Rollenerwartungen, oder als geschichtlich Gewordenes innerhalb konkreter Kulturen betrachtet relativ zu den verfolgten Zielen sinnvoller behandelt werden.
Entscheidend ist, dass die in der Theorie der Gerechtigkeit vorgelegten Grundsätze die „Willkür“ (ebd., 116) dieser Zufälle mildern sollen: „Niemand soll von ihnen Vorteile haben, außer wenn sie auch anderen zugute kommen.“(ebd., 121) Dabei gelten nicht die Zufälligkeiten selbst als ungerecht, gerecht oder ungerecht sind vielmehr die gesellschaftlich ausgebildeten Institutionen, d.h. die Art und Weise, wie eine Gesellschaft den Umgang mit den Zufällen regelt. Von den Stufen der autoritäts- wie gruppenorientierten Moralität her scheinen diese vorgegebenen Ordnungen, in und mit denen ein Mensch aufwächst, unaufgebbar. Einer sich an den Gerechtigkeitsgrundsätzen selbst orientierenden Moralität stellt sich das gesellschaftliche Gefüge aber nicht als „unveränderliche Ordnung, sondern [als; KD] ein menschliches Handlungsmuster“ (ebd., 123) dar, deren moralische und als solche material gehaltvolle Grundsätze verworfen werden können, denn aus dem bloßen Vorhandensein solcher Ordnungen folgt nicht per se ihre Gültigkeit und nicht schon eine moralische Verpflichtung. Begründet wird dies im Rückgriff auf die Fiktion des Urzustandes, in dem – in Unkenntnis der natürlichen, gesellschaftlichen und geschichtlichen Zufälle, denen ein konkreter Einzelner unterworfen ist – solche Grundsätze nicht als allgemein gültig beschlossen werden würden.
3. Die formale Einbindung moralischer Traditionen
Der Gültigkeitsanspruch bestehender Ordnungen ist ein zentraler Aspekt des klassischen Traditionsbegriffs und es ist offensichtlich, dass Rawls, wenn er von bestehenden Ordnungen oder hergebrachten Werten spricht, auch den Terminus Tradition verwenden könnte. Seine Position ist traditionskritisch insofern, als er – wie soeben dargelegt – grundsätzlich mit der Möglichkeit rechnet, Traditionen aufgeben zu können. Gleichwohl gerät dabei der traditionskritische Impetus nicht zum Selbstzweck, denn die Gerechtigkeitstheorie fordert keinen Traditionsbruch im Sinne eines bloßen Anti-Traditionalismus, sondern rechnet mit seiner Möglichkeit, indem sie die Wirklichkeit sozialen Wandels konstatiert.
Auch wenn man jedem einzelnen Menschen eine Gerechtigkeitsvorstellungen unterstellt, kann das die Tatsache nicht überdecken, dass das, was allgemein als gerecht oder ungerecht gelten soll, umstritten ist und über die Grundregeln, die das menschliche Zusammenleben ordnen, keine Einigkeit herrscht. Die Orientierung an Autoritäten und Gruppenbeziehungen bieten hier nur eine begrenzte Lösung, da sie nur solange gelingt, wie die jeweiligen Autoritäten anerkannt oder die Beziehungen intakt sind. Wie bereits dargestellt, bietet die Theorie der Gerechtigkeit eine Lösung in der Weiterentwicklung zur Stufe der grundsatzorientierten Moralität, deren spezifische Ausprägung eine Alternative in dem findet, was Rawls „Tugenden der Form“ resp. „der Integrität“ nennt (ebd., 564). Sozialer Wandel und der Verlust moralischer Traditionen finden u. a. ihren Ausdruck in der Pluralität von Urteilen innerhalb einer Gesellschaft und führen zu einer Relativierung von Gültigkeitsansprüchen, denen das autonome moralische Subjekt mit einer formal-moralischen Integrität begegnen kann: „Wenn niemand weiß, was wahr ist, kann man sich wenigstens seine Ansichten auf eigenständige Weise bilden und nicht einfach von anderen Übernehmen. Wenn die herkömmlichen moralischen Regeln keine Geltung mehr haben und man sich auf keine neuen einigen kann, dann kann man auf jeden Fall noch mit klarem Kopf entscheiden, was man will, statt zu behaupten, irgendwie sei es schon entschieden, und man müsse diese oder jene Autorität anerkennen.“ (ebd., 564) Zwar konzediert Rawls, dass Wahrhaftigkeit, Aufrichtigkeit, Klarheit und Entschlossenheit Tugenden und zu den „guten Eigenschaften freier Menschen“ (ebd.) zu rechnen seien, hält aber dagegen, dass auf diesen Eigenschaften sich keine Moral aufbauen ließe, da etwa ein Tyrann diese Tugenden aufweisen und zugleich höchst ungerecht sein kann.
Welchen Lösungsansatz verfolgt demgegenüber nun die Theorie der Gerechtigkeit? Das klassische Traditionsverständnis sieht den Gültigkeitsanspruch für Forderungen, die mit gesellschaftlichen Institutionen und Bräuche verbunden sind, bereits durch das Vorliegen solcher Traditionen eingelöst, sei es, dass auf die diese Traditionen vermittelnden Instanzen, also Autoritäten oder Gruppenbindungen, sei es, dass von den jeweiligen Vermittlungsinstanzen abstrahierend auf die ‚Tradition selbst‘ verwiesen wird. Pflichten und Verpflichtungen ergeben sich also aus dem Vorliegen von Regel und Regelsystemen, so z.B. für den Bürger aus dem Vorliegen von Gesetzen, für den Spieler aus den Spielregeln. Damit ist aber noch nicht geklärt, wie die Regeln angewendet und ob sie gerecht genannt werden können. Die Frage nach der Anwendung von Regeln angesichts konkreter Umstände verweist darauf, dass Regeln der Interpretation bedürfen, wobei etwa bezüglich einer Verfassung bestimmte Regeln durch Heranziehung der Gerechtigkeitsgrundsätze interpretiert werden können. Entscheidend für den Unterschied zur Theorie der Gerechtigkeit ist aber, dass traditionale Regelungen auf bestehende Vereinbarungen (etwa einer Verfassung oder eines Brauches) verweisen, während die Grundsätze der Gerechtigkeit ihre Legitimation daraus gewinnen, dass sie im Urzustand Zustimmung finden würden.
Daraus ergeben sich „zwei Arten von Normen“ (ebd., 385), die ich als Traditionsnormen und als Gerechtigkeitsnormen bezeichnen möchte. Diese Unterscheidung bedeutet nicht, dass Traditions- mit ungerechten Normen gleichzusetzen wären, sondern nur, dass mit dem Verweis auf eine Tradition die Frage der Gerechtigkeit noch nicht geklärt ist. Mein Interpretationsvorschlag lautet, dass das Verhältnis von Traditions- und Gerechtigkeitsnormen sich in Rawls Modell vom Überlegungs-Gleichgewicht wieder findet und dass damit die Rolle der Tradition in Rawls Entwurf nicht einfach abgewertet, sondern vielmehr formal eingebunden wird. Dies geht soweit, dass die „Erhaltung und Förderung gerechter Institutionen“ vom „Standpunkt der Gerechtigkeitstheorie aus“ als „die wichtigste natürliche Pflicht“ (ebd., 368) bezeichnet werden kann. Anders als a- oder antitraditionale Ethiken einerseits und traditionalistische andererseits schlägt so die Gerechtigkeitstheorien ein Modell vor, in dem materiale Urteile und formale Prinzipien aufeinander bezogen sind: „Die Gerechtigkeitsgrundsätze sind ein gangbarer Weg zwischen Dogmatismus und Intoleranz auf der einen Seite und einem Reduktionismus, der Religion und Moral als bloße Geschmackssache ansieht, auf der anderen.“ (ebd., 275)
Das Modell der formalen Einbindung von Tradition in den Kontext der beiden liberalen Grundbegriffe Gleichheit und Freiheit wird besonders deutlich in dem wichtigen Abschnitt über ‚gleiche Gewissensfreiheit für alle‘. Die unterschiedliche Interessen vertretenden Parteien sind „Nachkommenlinien“ (ebd., 234), deren Selbstverständnis sie jeweils als „Träger moralischer und religiöser Verpflichtungen“ (ebd.) auszeichnet. Diese Verpflichtung gelten für die Gerechtigkeitstheorie als selbstauferlegt und folgen nicht aus den Gerechtigkeitsgrundsätzen. Im Urzustand ist bekannt, dass es religiöse, moralische und philosophische Interessen gibt, deren Ansprüche als „absolut bindend“ (ebd., 236) empfunden werden, aber der Schleier des Nicht-Wissens verhüllt die spezifischen Inhalte. Hieraus ergeben sich Gründe für die beiden Grundsätze, die die Freiheit unterschiedlicher Einstellungen sichern, denn die Unkenntnis z.B. darüber, ob eine Partei einer Mehrheit oder einer Minderheit angehört, legt nahe, Grundsätzen zuzustimmen, die zum Verfolgen der jeweiligen Interessen die größtmögliche Freiheit garantieren, also dem Grundsatz der gleichen Freiheit für alle.
„Die Grundsätze, die im Urzustand beschlossen würden, sind der Kern der politischen Moral. Sie legen nicht nur die Bedingungen der Zusammenarbeit zwischen den Menschen fest, sondern auch einen Versöhnungspakt zwischen verschiedenen Religionen und moralischen Auffassungen sowie den Kulturformen, zu denen sie gehören.“ (ebd., 250) Anders als dezidiert antitraditionale Ansätze geht die Gerechtigkeitstheorie davon aus, dass Traditionen in der Alltagspraxis eine wichtige Rolle spielen und unsere moralischen Gefühle durch sie geprägt sind. Zudem ist eine Gesellschaft geprägt durch eine Vielzahl konkurrierender oder entgegengesetzter Auffassungen. Die Gerechtigkeitstheorie versucht nicht, diese verschiedenen Auffassungen zu vereinheitlichen, sondern jede zu ihrem Recht kommen zu lassen, wobei den Gerechtigkeitsgrundsätzen die Aufgabe zukommt, bei entgegen gesetzten Auffassungen zu schlichten.
Zugleich bleibt die Gerechtigkeitstheorie in inhaltlicher Hinsicht aber traditionskritisch, denn traditionale Argumente spielen bei der Klärung von Gerechtigkeitsfragen keine Rolle. Traditionale Auffassungen müssen nicht durch die Gerechtigkeitsgrundsätze gestützt werden und können trotzdem von den verschiedenen Parteien vertreten werden. Aber es kann nach dem Grundsatz der gleichen Freiheit für alle niemand gezwungen sein, Forderungen bestimmter Traditionen sich zu eigen zu machen. Welche religiösen oder moralischen Grundsätze und daraus sich ergebende Pflichten und Verpflichtungen er anerkennt, bleibt ihm überlassen.
Wie in anderen Ethiken leiten sich in der Gerechtigkeitstheorie Normen aus Grundsätzen ab. Anders aber als Traditionsnormen, die sich auf eine vorgängige Gültigkeit berufen, bedürfen Gerechtigkeitsnormen Begründungen, die sich auf die im Urzustand beschlossenen Grundsätze berufen. „Ein (vernünftiger) moralischer Grund ist eine Tatsache, die gemäß mindestens einem dieser Grundsätze ein Urteil stützt. Die richtige moralische Entscheidung ist diejenige, die am besten mit den Folgerungen aus diesem System von Grundsätzen übereinstimmt, wenn es auf alle Tatsachen angewandt wird, die ihm gemäß von Bedeutung sind. So kann ein Grund, der einem Grundsatz entspricht, von einem Grund, der einem oder mehreren anderen Grundsätzen entspricht, gestützt oder in den Hintergrund gedrängt oder sogar aufgehoben (nichtig gemacht) werden.“ (ebd., 384)
In der Fiktion des Urzustandes drückt sich zugleich Rawls verfahrensmäßige Deutung des Kantischen autonomen Subjekts sowie des Kategorischen Imperativs aus. Wer seine Grundsätze wählt „wegen seiner gesellschaftlichen Stellung oder seiner natürlichen Gaben oder wegen der Eigenart seiner Gesellschaft oder wegen seiner natürlichen Wünsche“ (ebd., 284), handelt heteronom. Im Urzustand ist es aber wegen des Schleier des Nichtwissens nicht möglich, solche heteronomen Grundsätze zu wählen, weshalb hier Urteilsmöglichkeiten nach Maßgabe des Menschen als eines freien und gleichen Vernunftwesens gegeben sind. Gleiches gilt, wie Rawls an den Beispielen der Begründung seiner Vorstellung von zivilem Ungehorsam und der Weigerung aus Gewissensgründen deutlich macht, für Traditionsnormen, die sich auf religiöse oder bestimmte moralische, z.B. pazifistische Grundsätze und damit auf heteronome Autoritäten berufen. Zwar mögen sich die Forderungen gelegentlich mit den politischen Gerechtigkeitsgrundsätzen decken, sie sind aber nicht über ihre jeweilige Tradition herleitbar, denn wir stünden damit u. a. wieder vor dem Problem, wie mit gegensätzlichen Auffassungen umgegangen werden kann. Die Gerechtigkeitsnormen berufen sich nicht auf religiöse oder andere Traditionen, sondern auf die von freien und gleichen Vernunftwesen im Urzustand beschlossenen Grundsätze und sie sichern damit dem Einzelnen das Recht, nach selbstauferlegten Traditionsnormen zu handeln – sofern diese den Gerechtigkeitsnormen nicht widersprechen, indem sie etwa berechtigte Interessen anderer gefährden.
Die Konzeption des Überlegungs-Gleichgewichtes (reflective equilibrium) unterstellt, dass sich Urteile, die jemand orientiert an Gerechtigkeitsvorstellungen fällt, und Prinzipien, die diesen Vorstellungen zugrunde liegen, aufeinander beziehen, indem entweder die Urteile an eine veränderte Vorstellung von Gerechtigkeit angepasst werden oder aber auf Grundlage der anfänglichen Urteilsfähigkeit bestimmte vorgelegte Gerechtigkeitsvorstellungen abgelehnt werden. In dem Gleichgewicht von Urteilen und Prinzipien konkretisieren sich die (wandelbaren) Bedingungen des Urzustandes und es kennzeichnet Urteile als wohlüberlegt. Die methodisch formalen Konstruktionen von ‚Urzustand‘ und ‚Schleier des Nicht-Wissens‘ beziehen sich dabei auf material gehaltvolle Begriffe einer schwachen Theorie des Guten, auch wenn ihre Zielvorgabe, die gerechte Struktur einer wohlgeordneten Gesellschaft oder die Eigenschaften eines ‚guten Menschen‘, erst im Gesamtzusammenhang einer vollständigen Theorie „auf dem Wege über den Urzustand“ (ebd., 474) formuliert werden kann, in der allerdings das Rechte vom Guten, und das heißt in meiner Deutung die Gerechtigkeits- von den Traditionsnormen deutlich unterschieden werden.
Rawls nennt drei Unterschiede: Erstens werden Gerechtigkeitsnormen begründet im Rückgriff auf jene Grundsätze, die im Urzustand beschlossen werden würden, während Traditionsnormen keiner allgemeinen Begründung bedürfen. Sie gelten für die, die sie anerkennen. Dies steht in engem Zusammenhang mit dem zweiten Punkt, wonach innerhalb einer gerechten Gesellschaft alle Beteiligten sich auf eine Vorstellung vom Rechten resp. ein einheitliches System von Gerechtigkeitsnormen beziehen, während die einzelnen Beteiligten in ihren Vorstellungen von dem Guten als dem was für sie gut ist voneinander abweichen und so Systeme von Traditionsnormen miteinander konkurrieren können. Schließlich sind Gerechtigkeitsnormen als Anwendungsfälle der Gerechtigkeitsgrundsätze durch den Schleier des Nicht-Wissens beschränkt, während Urteile über das Gute durchaus in Kenntnis sämtlicher Umstände gefällt werden können. Trotz der Unterschiede kann es auch hier zu einem Gleichgewicht kommen indem das Ziel des gerechten Handels Teil einer Vorstellung von gutem Leben ist. Rawls spricht hierbei von Kongruenz (ebd., 436). Inwieweit dies gelingt, hängt davon ab, ob eine wohlgeordnete Gesellschaft Gemeinschaftlichkeit selbst als ein Gut verwirklichen kann.
4. Tradition und soziale Gemeinschaft
Die formale Einbindung der Tradition in die Theorie der Gerechtigkeit umfasst also zwei Punkte: Zunächst einmal kann die Verhältnisbestimmung des Rechten zum Guten als ein wichtiger Bestandteil der Gerechtigkeitstheorie bezeichnet werden. Obwohl das Gerechte dem Guten dabei vorgeordnet wird, werden die traditionalen Zielsysteme damit nicht überflüssig. Es bedarf vielmehr einer schwachen, d.h. für Rawls auf möglichst wenigen Voraussetzungen beruhenden Theorie des Guten, „um den vernünftigen Wunsch nach Grundgütern und den Begriff der Vernünftigkeit zu erklären, der der Wahl der Grundsätze im Urzustand zugrundeliegt“ (ebd., 435). Trotz einer Vielzahl miteinander konkurrierender Zielsysteme in einer Gesellschaft geht hierbei darum, jene Grundgüter zu extrahieren, die alle Mitglieder einer Gesellschaft vernünftigerweise für sich beanspruchen wollen und nach deren Maßgabe sie sich im Urzustand auf die Gerechtigkeitsgrundsätze einigen würden. Zum zweiten gehören Traditionsnormen zu jenen Gegenständen einer Gerechtigkeitstheorie, deren konkrete Inhalte zwar nicht behandelt werden, deren freie Wahl in einer wohlgeordneten Gesellschaft aber sichergestellt werden soll. Damit werden Menschen in ihren Bedürfnissen nicht gemessen an biologistischen Unterstellungen, wonach als Grundgut gilt, was zum unmittelbaren Überleben nötig ist, sondern es werden auch geschichtlich gewordene, kulturelle Bedürfnisse als elementar zugestanden. Es ist eine Stärke der Gerechtigkeitstheorie, dass sie die Pluralität von Lebensformen wirklicher Gesellschaften ernst nimmt, indem sie nach einer einheitlichen gerechten Grundstruktur einer Gesellschaft fragt, und zwar mit dem erklärten Ziel, eine Vielzahl konkurrierender, individueller Zielsysteme zu gewährleisten.
Diese formale Einbindung von Tradition geht aber weiter, und zwar dorthin, was ich den Wiedereintritt in Traditionsprozesse nennen möchte. Bestehende gesellschaftliche Institutionen erzeugen konkrete Bedürfnisse und Strebungen der Gesellschaftsmitglieder, und die beiden Gerechtigkeitsgrundsätze dienen zur Beurteilung sowohl dieser Institutionen als auch der von ihnen erzeugten Bedürfnisse. Sie bilden damit zugleich einen Maßstab, an dem sich sozialer Wandel orientieren kann. Es ist zwar Grundlage der Theorie der Gerechtigkeit, dass Gesellschaften durch Interessengegensätze geprägt sind, wobei es das Ziel gerechter Institutionen ist, Regelungen bereitzustellen, die bei divergierenden Ansprüchen schlichten können. Gleichwohl bleibt die Frage offen, inwieweit es der Gerechtigkeitstheorie über die Fiktion des Urzustandes gelingt in einer Gesellschaft Gemeinschaftlichkeit als ein Gut zu etablieren. Naheliegend scheint, wie schon oben beschrieben, auf Gemeinschaftstugenden eines Einzelnen zu setzen oder, wie im Modell der privaten Gesellschaft, auf Gemeinschaftswerte ganz zu verzichten und „gesellschaftliche Regelungen als Mittel zu … privaten Zielen“ (ebd., 566) zu verstehen, deren Einhaltung z.B. durch Sanktionen und nicht durch den Rückgriff auf einen geteilten Gerechtigkeitssinn gesichert sind. Dass die Gerechtigkeits- als Vertragstheorie sich letztlich an diesem Ideal der privaten Gesellschaft orientiere, weist Rawls von sich, da weder die Analyse des Guten als des Vernünftigen noch die soziale Natur des Menschen damit vereinbar seien. Zwar bleibt undeutlich, wie der Ausdruck „soziale Natur“ genau zu verstehen ist, er läuft aber darauf hinaus, das Menschen auf Gemeinschaftlichkeit angewiesen sind, und zwar nicht, wie Rawls betont, im jenem trivialen Sinne, dass Menschen Gesellschaft bräuchten oder gemeinschaftliches Handeln Vorteile schaffe, sondern deshalb, weil Menschen – im Gegensatz zum Verständnis des Menschen im Modell der privaten Gesellschaft – bei allen divergierenden Interessen auf gemeinsame Ziele rekurrierten und gemeinsame Institutionen und Tätigkeiten gerade nicht als bloße Mittel zum Erreichen eigener Vorteile, sondern als gut an sich betrachten würden, weil kein Einzelner alle seine Fähigkeiten entwickeln und einsetzen kann und bei all seinen Fähigkeiten immer hinter den Möglichkeiten der Menschen insgesamt zurückbleiben muß. Die soziale Natur des Menschen in seinem ‚natürlichen‘ Angewiesensein auf Gemeinschaft erklärt sich also bei Rawls als ein Modell gemeinschaftlich sich ergänzenden Handelns. Dabei ist diese gemeinschaftliche Zusammenarbeit innerhalb einer zeitgleich lebenden Gruppe von Menschen gegeben, sondern auch diachron durch die Folge von Generationen, in der das Arbeiten früherer in dem späterer Generationen eine Fortführung und Ergänzung findet: „Daß der Mensch ein geschichtliches Wesen sei, heißt, daß die Verwirklichung der Fähigkeiten der zu einer Zeit lebenden Menschen die Zusammenarbeit vieler Generationen (oder sogar Gesellschaften) über lange Zeit hinweg verlangt. Diese muß auch jederzeit geleitet sein von einem Verständnis des Früheren in seiner Deutung durch die soziale Tradition.“ (ebd., 569)
Gemeinhin wird für traditionale Gesellschaften angenommen, dass sie sich auf ein einheitliches z.B. religiöses Ziel hin orientieren, während Rawls Eineitlichkeit in diesem Sinne erklärtermaßen ausschließt. Statt dessen wird die Verwirklichung der Gerechtigkeitsgrundsätze in gerechten Institutionen und ihre Bewahrung zur zentralen, gemeinsamen Aufgabe, wobei sich die Vielzahl gesellschaftlicher Gruppen mit konkurrierenden Zielvorstellungen über den Vier-Stufen-Gang zu einer „soziale[n] Gemeinschaft sozialer Gemeinschaften“ (ebd., 128) zusammenschließt. Insofern die Aufgabe der Schaffung und Bewahrung gerechter Institutionen eine diachron über viele Generationen hinweg zu erbringende Leistung darstellt, möchte ich von einem Wiedereinstritt in Traditionsprozesse sprechen, wobei allerdings nicht mehr das klassische, sondern ein erweitertes Verständnis des Traditionsbegriffs anzulegen ist.
Teleologische Modelle sind auf ein letztes, übergeordnetes Ziel hin ausgerichtet. Das gilt für die Gerechtigkeitstheorie nicht. Die Aufgabe der Gerechtigkeitsgrundsätze besteht darin, einen gesellschaftlichen Rahmen zu schaffen, innerhalb dessen der Einzelne oder einzelne Gruppen nach ihren jeweiligen Zielvorstellungen Lebenspläne entwerfen und verfolgen können. Auch ergibt sich die Gültigkeit der Beschlüsse im Urzustand nicht aus dem Vorliegen des einmal Beschlossenen resp. einer auf dieser Grundlage gestalteten Institution, sondern aus ihrem Charakter als gemeinsam Beschlossenes, als Gegenstand eines Einigungsprozesses. Wiedereintritt in Traditionsprozesse meint also nicht jene Dimensionen des Begriffs, in dem sich Legitimationsaspekte ausdrücken, sondern jene, in denen Wissens- und Handlungsformen von früheren Generationen weitergegeben und von späteren weitergeführt werden. So gesellt sich am Schluss meiner Überlegungen zu den genannten Begriffen der Freiheit und Gleichheit die Brüderlichkeit in Gestalt einer generationsübergreifenden, sozialen Gemeinschaft. „Gesellschaft als ein Unternehmen der Zusammenarbeit“ (ebd., 105) ereignet sich nicht nur synchron, also als ein Modell der Zusammenarbeit gleichzeitig lebender Menschen, sondern diachron als Zusammenarbeit der Generationen. Eine in dieser Weise interpretierte Theorie der Gerectigkeit als Fairness lässt sich nicht verstehen ohne einen Begriff von Tradition im Sinne der Vermittlung und Weiterführung gemeinschaftlicher Leistungen. Die Gerechtigkeitstheorie bleibt bei dieser Bestimmung von Gesellschaft aber nicht stehen, sondern ergänzt sie durch das Kriterium, dass diese Zusammenarbeit „zum gegenseitigen Vorteil“ erfolgt. Damit schlägt die Gerechtigkeitstheorie einen anderen Weg als das Modell der „privaten Gesellschaft“, in der die Zusammenarbeit letztlich zum eigen Vorteil gereicht. Sie schlägt aber auch einen anderen Weg ein als das Modell einer formal-moralischen Integrität, die dem Bedeutungsverlust einer klassischen Traditionskonzeption mit dem Rückgriff auf das nach Tugenden der Form handelnde Subjekt begegnen will. Von Anfang an rechnet sie mit einer Gesellschaft, die von Ziel- und Interessengegensätzen und von einander entgegengesetzten Traditionen geprägt ist.
Zur Schlichtung der konträren Ansprüche setzt sie aber nicht auf einen blinden A- oder Antitraditionalismus, der die kulturellen Bedürfnisse der Gesellschaftsmitglieder ignoriert, sondern als Vertragstheorie – vor dem Hintergrund der Fiktion eines Urzustand – auf eine Schlichtung der Gegensätze durch freie und gleiche Gesellschaftsmitglieder im Gespräch resp. einer Diskussion: „Der Nutzen der Diskussion liegt darin, daß auch Abgeordnete begrenztes Wissen und begrenzte Denkfähigkeit haben. Keiner weiß alles, was die anderen wissen, oder kann alle Gedankengänge vollziehen, die die anderen zusammen vollziehen können. Die Diskussion ist eine Methode zur Zusammenfassung von Information und Erweiterung der Gesichtspunkte. Jedenfalls im Laufe der Zeit dürfte die gemeinsame Überlegung die Dinge weiterbringen.“ (ebd., 395)
Literatur
Rawls, John, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt a.M. 101998.