Adorno über Tradition

Theodor W. Adornos Traditionsaufsatz

Dieser Text ist ein Konspekt zu Adornos kleinem Traditionsaufsatz (Adorno, Theodor W., Kulturkritik und Gesellschaft I (Gesammelte Schriften Bd. 10/1+2), Darmstadt 1998, S. 310-320.

1. [Rationalität und Traditionsverlust] Der Ursprung der Tradition liegt darin, etwas von Hand zu Hand weiter zu geben. Der erste Kontext ist der der Familie (Generationenzusammenhang). Tradition ist wesentlich feudal (SOMBART: feudale Wirtschaft ist traditionalistisch), insofern steht die Tradition im Gegensatz zur bürgerlichen Gesellschaft und die sie dominierende Zweckrationalität: „Tradition steht im Widerspruch zur Rationalität, obwohl diese in jener sich bildete. Nicht Bewußtsein ist ihr Metier, sondern vorgegebene, unreflektierte Verbindlichkeit sozialer Formen, die Gegenwart des Vergangenen; das hat unwillkürlich auf Geistiges sich übertragen.“ [310]
Besonders deutlich wird dies für Adorno in einem Land wie Amerika, in dem Tradition unwichtig ist und von Bedeutung das, was aktuell Marktwert hat. Dies wird nun auch in Europa spürbar. Auch die Kunst muss auf den Traditionsverlust reagieren: „Zweckrationalität, die Erwägung, wie gut es in einer angeblich oder wahrhaft entformten Welt wäre, Tradition zu besitzen, kann nicht verordnen, was von Zweckrationalität kassiert ist.“ [311]

2. [Gegen den Versuch einer ästhetischen Kompensation des Traditionsverlustes] Ein verlorener Traditionsbezug kann nicht dadurch wettgemacht werden, dass man an seine Stelle Ästhetik setzt: „Real verlorene Tradition ist nicht ästhetisch zu surrogieren.“ [311] Genau dies aber wirft Adorno der bürgerlichen Gesellschaft vor. Die Zweckrationalität als halbierte Vernunft verdrängt notgedrungen die Tradition, die bürgerlicher Gesellschaft muss aber die Leerstelle, die sie fühlt, wieder füllen und greift dazu auf ästhetische Werte in Form der Kunst vergangener Epochen zurück. Diese werden zum „Kitt“, zum „verordnete(n) Trost“ [312]. Weiter heißt es: „Auch genuin traditionale Momente, bedeutende Kunstwerke der Vergangenheit arten in dem Augenblick, in dem das Bewußtsein sie als Reliquien anbetet, in Bestandstücke einer Ideologie aus, die am Vergangenen sich labt, damit am Gegenwärtigen nichts sich ändere, es sei denn durch ansteigende Gebundenheit und Verhärtung. Wer Vergangenes liebt, und, um nicht zu verarmen, solche Liebe nicht sich austreiben läßt, exponiert sich sogleich dem perfid begeisterten Mißverständnis, er meine es nicht so böse und lasse auch über die Gegenwart mit sich reden.“ [312f]

3. [Der Widerstand der Tradition] Adorno nennt dies „falsche Tradition“: sie glaubt sich reich (an Tradition), weil sie meint, über sie verfügen, sie verwerten zu können. Dabei erfährt der Künstler die (wahre?) Tradition gerade dort, wo er über sie verfügen will, nämlich durch ihren Widerstand. Während die bürgerliche Gesellschaft die (falsche?) Tradition mobilisiert, setzt sich für die Kunst das „Verhältnis zur Tradition … um in einen Kanon des Verbotenen“ [314], der alles enthält, was von der Gesellschaft gegen die „Auflösung traditionaler Momente mobilisiert wurde“. Aus der Verweigerung gegenüber der Tradition resultiert ein beständiger Wechsel von ästhetischen Richtungen und Programmen.

4. [Die Paradoxie der Tradition] Subjektiv wirkt Tradition so entweder zerrüttet oder ideologisch, aber objektiv wirkt sie weiter durch ihre geschichtliche Dimension. Es ist ein Fehler zu glauben, man könne an einem Nullpunkt anfangen. Dies ist genauso naiv wie eine „autoritätsgläubige Berufung auf Tradition“ [314]. Mindestens durch die Sprache sind wir der Tradition verbunden: „Wie die in sich verbissene Tradition ist das absolut Traditionslose naiv“ [315].
Die Tradition konfrontiert mit einem Paradox: „Keine [Tradition] ist gegenwärtig und zu beschwören; ist aber eine jegliche ausgelöscht, so beginnt der Einmarsch in die Unmenschlichkeit.“ [315]

5. [Die Tradition des Antitraditionellen] Wie kann man sich angesichts dieser Paradoxie verhalten? Für Kant galt: „Der kritische Weg ist allein noch offen.“ [B884]; dem stimmt Adorno zu. In der Gegenwart gilt es zu fragen, „was trägt und was nicht“: „An nichts Traditionales ist besser anzuknüpfen als daran, den Zug der in Deutschland verratenen und verschmähten Aufklärung, eine unterirdische Tradition des Antitraditionellen.“ [316]
Unklar ist bei Adorno die Verhältnisbestimmung durch den Begriff der correspondance, der in irgendeiner Weise ein Wechselverhältnis andeutet (Beleuchtungsmetapher). Zugleich soll das Verhältnis durch Distanz geprägt sein.

6. [Besinnung auf die Tradition des Randständigen] Es geht also um ein kritisches Verhältnis zur Tradition, bei dem weder Tradition gänzlich ignoriert wird, weil sie Altmodisch ist, noch historisch eingeordnet wird in eine Sammlung von Unvergänglichem. Beides wird von Adorno als historistisch abqualifiziert. Das „wahrhafte Thema der Besinnung auf Tradition“ ist „das am Weg liegen Gebliebene, Vernachlässigte, Besiegte, das unter dem Namen des Veraltens sich zusammenfaßt“ [317]. Es gilt, die Tradition zu bedenken, sie wahrzunehmen und sich zu erinnern, ohne zugleich in ihr eine unumstößliche Autorität zu sehen: „Sie [die Tradition] ist ebenso vor der Furie des Verschwindens zu behüten, wie ihrer nicht minder mythischen Autorität zu entreißen.“ [317]

7. [Traditionskritik als Traditionsbewahrung] Adornos Verständnis wird im ersten Satz auf den Punkt gebracht: „Das kritische Verhältnis zur Tradition als Medium ihrer Bewahrung …“ [318]. Am Beispiel des modernen Dramas (und zwar der Dramen Becketts) wird dies vorgeführt: Man kann die Tradition aufkündigen und ihr doch zugleich folgen, etwa indem die von der Tradition behauptete Sinnhaftigkeit negiert und so in der „bestimmte(n) Negation“ [318] bezug genommen wird.

8. [Unmöglichkeit eines absoluten Neuanfangs] Die gleiche dialektische Struktur, die für die Werke gilt, gilt auch für die Autoren (auch hier Beckett): Da der Künstler weder einfach auf die Tradition zurückgreifen noch bei Null anfangen kann, muß er reflektieren, welche Elemente der Tradition er beibehalten kann und bei welchen dies nicht mehr geht. Der Künstler kann (im Umgang mit der Tradition) nicht mehr naiv sein: „Wer traditionell derart sich verhält, daß er spricht, wie er sich einbildet, daß ihm der Schnabel gewachsen sei, wird im Wahn der Unmittelbarkeit seiner Individualität erst recht schreiben, was nicht mehr geht.“ (320). Tradition wird vielmehr bewahrt durch ihre bewußte Ablehnung.