Grundbegriffe erzählender Prosa
„Ich lese Lyrik,“ sagte einst Marilyn Monroe, „das spart Zeit.“ Den Satz könnte man auch auf das Schreiben anwenden – jedenfalls kann man den Eindruck gewinnen, wenn man sich Methodenbücher zum Kreativen Schreiben im Unterricht ansieht: Es dominieren Anleitungen zur Produktion lyrischer Texte. Tatsächlich lässt sich ein Gedicht im Unterricht sehr zügig ‚produzieren‘. Ein Lyriker würde zwar protestieren und darauf verweisen, dass sich ein gutes Gedicht nicht einfach nebenbei schreibt. Doch für die Unterrichtspraxis ist unbestreitbar, dass die Lyrik in der Regel zur kleinen und überschaubaren literarischen Form neigt. Dies wird ein Grund dafür sein, warum Lehrerinnen und Lehrer eher Gedichte als Romane schreiben lassen.
Nun ist Prosa natürlich alles andere als auf große Formen abonniert. Der Brief, die Nacherzählung, ein Erlebnisaufsatz sind begrenzte Formen, die auch im Unterricht oder als Hausaufgabe praktisch realisierbar sind. Doch mangelt es nach wie vor an Umsetzungen (nicht an Literatur dazu!), Schülerinnen und Schüler schrittweise kreativ ins Schreiben zu bringen. Das gilt erst Recht für den Religions- und Konfirmandenunterricht. Lesen und Schreiben sind Domänen des Deutschunterrichts und sollen es wohl auch bleiben. Dabei lebt und stirbt der christliche Glaube mit der Fähigkeit, diesen Glauben anschaulich werden zu lassen.
Die biblischen Geschichten versuchen genau dies: Glauben zu Gehör zu bringen, Glauben lesbar zu machen. Was Paulus in zum Teil sehr abstrakten Worten lehrt, machen die Evangelien anschaulich. Weil die Evangelien keine historischen Berichte sind, sondern eingängige literarische Konstruktionen von großem theologischem Tiefgang, sprechen sie Kinder wie Erwachsene oft eher an, als die neutestamentliche Briefliteratur. Es sei denn, diese Lehrtexte greifen selbst auf eine anschauliche Sprache zurück, wie z.B. Paulus im sog. Hohelied der Liebe (1. Kor 13).
1 Prämissen
Die Regel, die Dinge zu zeigen und nicht darüber zu reden, gehört zu den Grundregeln des kreativen Schreibunterrichts. „Reden kostet nichts“, heißt es bei Ronald B. Tobias. Er meint damit, dass es keine Mühe macht, Dinge zu behaupten, während es aber große Schwierigkeiten mit sich bringt, die ‚Wahrheit‘ des Behaupteten zu zeigen. Es ist ein Unterschied, ob ein Autor schreibt „Anton liebte Berta sehr“, oder ob er diese Liebe erzählend anschaulich macht, indem er zeigt, worin sich diese Liebe äußert. Was für die erotische Liebe gilt, gilt für die Nächstenliebe gleichermaßen. Deshalb gibt Lk 10 auf die Frage, wer denn der Nächste sei, keine Definition des Begriffs, sondern erzählt vom barmherzigen Samariter. Die zugrundelegende These könnte sein: „Auch der Fernste kann dir ein Nächster werden.“ Während dieser Satz abstrakt bleibt, hat die Geschichte vom barmherzigen Samariter durch ihre schlichte Konkretheit eine hohe suggestive Kraft, die dabei hilft, sich die in der Geschichte geborgene ‚Lehre‘ anzueignen.
In der Literatur zum Kreativen Schreiben werden diese Thesen auch Prämissen genannt. Es handelt sich bei diesen Prämissen um die explizite oder implizite ‚Moral von der Geschicht‘. Alle literarischen Erzählungen sind durch eine solche Prämisse strukturiert. Eine Prämisse macht den Unterschied aus zwischen dem Bericht über ein historisches Ereignis und der Erzählung eines solchen Ereignisses. Der Bericht reiht möglichst chronologisch Ereignis an Ereignis; die Geschichte nutzt die Ereigniskette, um etwas zu zeigen.
So kann ich zum Beispiel darüber berichten, wie ich einmal von A nach D über den Umweg der Stationen B und C gegangen bin: „Erst bin ich von A nach B, und dann von B nach C, und dann von C nach D.“ Das Ergebnis dürfte eher uninteressant sein. Wenn ich aber erzähle, dass ich wegen eines Zufalls gezwungen war, statt des direkten Weges einen Umweg über B und C zu nehmen, und mir auf diesem Umweg etwas passiert ist, was mir sonst nie passiert wäre, beginnt der Bericht zu einer Geschichte zu werden. Die Prämisse könnte dabei sein, dass manchmal erst ein Umweg wirklich zum Ziel führt, oder dass man auf Umwegen ganz besonders auf der Hut sein muss, oder dass man, statt Umwege in Kauf zu nehmen, lieber wieder zurück gehen sollte oder … Bei einer Prämisse geht es nicht darum, dass sie eine ewige Wahrheit enthält, sie kann nur für diese eine Geschichte wahr sein. Aber sie strukturiert die Ereignisse und gibt ihnen einen Sinn. Anschauliche Beispiele für Prämissen sind „Ein Seitensprung kann gefährlich werden.“ (Eine verhängnisvolle Affäre), „Eine Sünde erzeugt die andere.“ (David und Batseba) oder „Alles ist möglich dem der da glaubt“ (Wundergeschichten bei Markus).
2 Plots
Von der Prämisse einer Geschichte wird ihr Plot unterschieden. Plot bezeichnet zunächst einmal nichts weiter als das Grundgerüst einer Geschichte. Insofern könnte man in dem Satz „Erst bin ich von A nach B, und dann von B nach C, und dann von C nach D“ als den Plot eines Berichts bezeichnen. Das stimmt zugleich und auch wieder nicht: In der Grundbedeutung ist Plot nichts mehr als das Grundgerüst einer Ereignisfolge in einer Geschichte. Als Prinzip des Kreativen Schreibens ist der Plot aber eine Ereignisfolge im Zusammenhang der Handlungen eines oder mehrerer Handelnder.
Ronald B. Tobias beschreibt den Plot recht anschaulich: „Was geschieht, wenn eine unaufhaltsam vorwärtsdrängende Kraft auf einen unverrückbaren Widerstand trifft? Mit dieser Frage läßt sich der Kern des Plots am besten kennzeichnen.“ Dem lässt sich nur beipflichten: Der Plot ist das, was eine Geschichte für Zuhörer und Leser interessant macht. Dass eine Person von A nach D geht, nimmt man zur Kenntnis. Dass eine Person auf ihrem Weg nach D auf ein Hindernis stößt, das sie zwingt über B und C zu gehen – das weckt das Interesse. Tobias hat in seinem Buch „20 Masterplots“ versucht darzulegen, wie ein Plot funktioniert und dass es eigentlich nur eine begrenzte Anzahl von Plots gibt. Dabei ist es auch für Tobias unerheblich, ob man von 20 oder von 70 oder von 120 Grundplots ausgeht. Entscheidend ist, einen Blick für die Plotstruktur von Geschichten zu bekommen.
Das gilt auch für biblische Geschichten. Mel Gibson, der die Geschichte Jesu provokant verfilmte, bringt den Plot der Jesusgeschichte so auf den Punkt: „Gott wird Menschen, und Menschen töten Gott.“ Gibson hält diesen Plot für die größte Geschichte überhaupt. Entscheidend im Blick auf die moderne Plottheorie ist, dass auch die Evangelien einen Plot haben, der der einfachen Erklärung von Ronald B. Tobias entspricht: Auf der einen Seite drängt Jesus auf seinem Weg unaufhaltsam nach vorn und trifft dabei auf unverrückbaren Widerstand, das sind unverständige Jünger, eine missverstehende Bevölkerung und das sich gegen die neue Botschaft streubende Establishment.
3 Charaktere
Der Begriff des Plots hängt eng mit dem des Charakters zusammen. Verschiedene Personen, mit dem gleichen Widerstand konfrontiert, werden verschieden handeln. Deshalb gibt es dann auch verschiedene Geschichte: Die eine ist die eines Hochnäsigen, der an dem Hindernis zu Fall kommt, die andere die eines Unterschätzen, der angesichts des Widerstandes über sich hinauswächst, die dritte schließlich die eines Ängstlichen, der erst Mut zu sich selbst finden muss, bevor er das Hindernis meistert. Aus einem Hindernis können so bei drei verschiedenen Charakteren drei verschiedene Plots entstehen. Und jedem Plot können wiederum unterschiedliche Prämissen zugrunde liegen: „Hochmut kommt vor dem Fall.“ Oder auch: „Dem Glaubenden ist alles möglich.“
In den biblschen Geschichten sind die handelnden Personen oft nur sehr grob gezeichnet. Das bedeutet nicht, dass die Charaktere flach werden. Ein flacher Charakter ist in der Regel eine klischeehaft dargestellte Person: Das dumme Blondchen oder der ewig polternde Chef. In den Evangelien sind die Gegner Jesu oft sehr flach gezeichnet: Pharisäer und Schriftgelehrte sind z.B. nur noch vorurteilsbeladene und -fördernde Klischees.
Am Anfang des Schreibens steht für die meisten Ansätze im Kreativen Schreiben die Entwicklung eines Charakters. Der Plot wird deshalb nicht vorher entworfen (das würde zu flachen Charakteren führen), sondern er ergibt sich aus dem Charakter, der auf ein charakteristisches Problem trifft. Auch die Explikation der Prämisse sollte nicht am Anfang stehen, weil sonst die ganze Geschichte in ihren Charakteren und ihrem Plot zur bloßen Illustration würde. Interessant an der Arbeit am eigenen Text ist vielmehr, die Prämisse zu entdecken, die dem eigenen Schreiben zugrunde liegt.
Hier liegt die besondere Chance vom kreativen Schreiben erzählender Prosa in RU und KU: Sich mit fremden und eigenen theologischen Prämissen auseinander zu setzen. Das kann z.B. geschehen, indem ein Streitgespräch zwischen Jesus und Phärisäern in der Perspektive eines Pharisäers neu erzählt wird. Dazu ist zunächst der Charakter des Pharisäers zu entwickeln (sein Äußeres, seine Eigenarten, seine Lebensziele). Für diesen Pharisäer könnte zum Beispiel eine Begegnung mit Jesus zum Widerstand werden. Die Frage ist nun, beim Schreiben heraus zu finden, welche Prämissen in der biblischen Vorlage zu entdecken sind (z.B. „Die Israeliten sind ein halsstarriges Volk“), und wie sich die Perspektive auf den Phärisäer im Prozess des Schreibens verändert.
4 Szenen
Ein Roman besteht genauso wenig wie ein Evangelium aus einem ununterbrochenen Erzählstrom. Es werden vielmehr einzelne Szene beschrieben, die wesentliche Wegpunkte einer Geschichte markieren. Das heißt: eine Geschichte wird in einzelnen Szenen beschrieben: Der Charakter bricht am Punkt A auf. Er trifft an B auf ein Hindernis. Er kommt bei seinem Umweg an Punkt C an, wo etwas besonderes passiert. Er erreicht das Ziel D. Die Beschreibung des Weges, die Beschreibung von Menschen die er unterwegs traf, die aber für die Geschichte keine Bedeutung haben, Gedanken, die er sich gemacht hat – sie alle fallen fort.
Dieses Bauprinzip komplexer Erzählungen kann man sich für den Unterricht nutzbar machen, indem Geschichten als Szenen entworfen und dann Szene für Szene geschrieben werden. So lässt sich im Unterricht auch ein komplexes Projekt wie die Abfassung eines eigenen Evangeliumstextes realisieren.