Einleitung

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Tradition und Verfahren stehen für zwei konträre Begriffe in der aktuellen philosophischen Diskussion. Insbesondere in der Ethik verweisen die beiden Begriffe auf eine in den letzten drei Jahrzehnten geführte Kontroverse über die Reichweite moralischer Geltungsansprüche. In dieser Diskussion stehen sich moralischer Universalismus und Relativismus, Liberalismus und Kommunitarismus einander unversöhnlich gegenüber – wobei die Universalisten und Liberalisten gemeinhin traditionskritisch, die Relativisten und Kommunitaristen hingegen mit der Unhintergehbarkeit traditionaler Bezüge argumentieren. Der Kern des Streits ist die Frage danach, wie mit unterschiedlichen kulturellen Traditionen zu verfahren sei. Sind Traditionen durch die Entwicklung rationaler Verfahren weitgehend zu neutralisieren? Oder bilden sie im Gegenteil eine Form von Rationalität, die erst zur notwendigen Kritik moderner Entwicklungen befähigt?

Die vorliegende Arbeit versucht, den Zusammenhang von Tradition und rationalen Verfahren deutlich zu machen. Ausgehend von einem prozeduralistischen Ethikverständnis wird gezeigt, dass es der Verfahrensethik nicht um eine Neutralisierung von Tradition geht. Im Gegenteil setzt jede prozeduralistische Ethik auf kulturell bereits gegebene Inhalte auf. Sie versucht aber für den Fall konfligierender Traditionen kommunikative Verfahren anzubieten, die es erlauben, alle Betroffenen an der Lösung des Konflikts zu beteiligen. Allerdings stößt die Kommunikation zwischen den Betroffenen schnell an Grenzen der praktischen Realisierbarkeit: Wie können sprachliche Grenzen überwunden, wie alle in ihren persönlichen, gruppenspezifischen und kulturellen Eigenarten Betroffenen an einem Ort zusammengeführt werden? Dass diese Frage überhaupt gestellt wird, hat weiterführende pragmatische Gründe, weil ihre Lösung abhängig ist von der Klärung der Frage, wie die individuellen und zuweilen egoistischen Motive menschlichen Handelns in einer entgrenzten Welt angemessen berücksichtigt und konfligierende Anliegen ohne Nachteile für Minderheiten befriedet werden können. Die technische und die pragmatische Frage lässt sich meines Erachtens aber nicht beantworten, wenn nicht der entscheidenden moralischen Aufgabe entsprochen werden kann, wie wir mit konfligierenden kulturellen Ansprüche umgehen sollen.

Die pragmatische Lösung setzt auf eine Politik allgemeiner Verträge, umfassender Kompromisse und gesatzter, rechtlicher Normen. Und tatsächlich scheint der politische Weg bloßer Klugheit der gegenwärtig einzig gangbare zu sein – wüssten wir nur, wie angesichts der offenkundigen Legitimationskrise einer demokratisch organisierten Öffentlichkeit zumindest in den westlichen Gesellschaften mit den internen und externen Gegnern umzugehen sei. Appelliert man an die vernünftige Einsicht, ist bereits die Grenze zur moralischen Argumentation erreicht. Denn das Primat des Dialogs vor der Politik fußt auf der moralischen Utopie, dass unter idealen kommunikativen Bedingungen, also unter einer räumlich und zeitlich entgrenzten Kommunikation der Betroffenen ein universal gültiges Einverständnis möglich wäre. Die Kernthese der vorliegenden Arbeit ist, dass eine solche räumlich und zeitlich entgrenzte Kommunikation nur durch verfahrensimmanente Traditionsprozesse denkbar ist.

Das Problem ist allerdings, dass sowohl die Verfahrensethik als auch ihre Kritiker den Traditionsbegriff zwar oft verwenden, an keiner Stelle aber angemessen Explizieren. Es scheint allen klar und offensichtlich, was unter Tradition zu verstehen ist: Sie ist, wie Max Weber es wirkmächtig formuliert, ein Glaube „an die Unverbrüchlichkeit des immer so Gewesenen als solche[r]. Ob man sie nun wesentlich patriarchialen Gesellschaftsstrukturen zugehörig versteht oder feudalen, sei dahin gestellt; einig ist man sich aber darin, dass sie Teil, wenn nicht gar Kennzeichen vormoderner Strukturen ist und in Opposition steht zum Begriff der modernen Rationalität. Damit steht sie zwar nicht im Gegensatz auch schon zu diskursiven resp. argumentativen Verfahren, aber dieser Schritt ist insofern angelegt als in Diskurs- und Argumentationstheorien nicht einfach empirisch untersucht wird, welche Formen von Argumentation uns in Alltag und Wissenschaft begegnen, sondern auch in normativ-kritischer Hinsicht Vorschläge gemacht werden, wie wir argumentieren sollten. Und hier gibt es unter den Prozeduralisten deutliche Präferenzen für rationale Argumentationen.

Betrachtet mn die Hintergründe für diese Präferenz genauer, so wird deutlich, dass die Opposition von Tradition und Rationalität die Frage nach der Gültigkeit von in sprachlichen Äußerungen erhobenen Ansprüchen berührt. Erstere setzt, so wird unterstellt, nicht auf Einsicht, sondern auf Autorität einerseits der Tradition selbst, der eine gewisse Würde und Heiligkeit zugeschrieben wird, andererseits des Tradierenden, der im patriarchalen Zusammenhang kraft seiner Hausgewalt den ihm Untergebenen zwar weisungsberechtigt, selbst aber an die sakrosankte Tradition gebunden ist, die er vermittelt. Rationale Argumentationen hingegen beziehen ihre Kraft aus dem Kriterium der Einsehbarkeit: Was einem anderen – durch Rede oder Demonstration – nicht einsichtig zu machen ist, kann nicht beanspruchen, rational begründet zu sein. Diese Gegenüberstellung findet philosophiegeschichtlich Anhalt in einer offenbar klaren, kantischen Alternative: Orientierung an Traditionen oder Orientierung im Denken. Weder jemand, der durch Offenbarung Einsicht in ewige Wahrheiten bekommen zu haben glaubt, noch jemand, der im Verweis auf irgendwelche Autoritäten, seien es Personen, Götter oder alte Schriften, seine Einsichten begründet, kann sagen, welche Zwecke zu haben jemand anstreben soll. Allein der selbständige Gebrauch der praktischen Vernunft kann hier die Richtung weisen.

Der neuzeitliche Wendepunkt im Gebrauch des Wortes Tradition, vor allem aber das, was ich in der vorliegenden Arbeit die konservative Aneignung des Traditionsbegriffs nenne, dominiert bis heute das Begriffsverständnis und gab sprachgeschichtlich den entscheidenden Impuls für die modernen Ambivalenzen, die den Umgang mit dem Begriff erschweren. Die Rede von Post-Traditionalität als Kennzeichen moderner Gesellschaften ist nur einer der Hinweise auf die ambivalente Beziehung, denn wer die Moderne als post-traditional charakterisiert, leugnet damit nicht automatisch jenen als unproblematisch bezeichneten Teilaspekt, dass Tradierungen natürlich auch moderne Gesellschaften prägen. Vielmehr wird Posttraditionalität fast ausschließlich auf den Bereich von Religion, Ethik und Moral beschränkt und dadurch erläutert, dass man erklärt, man könne in modernen Gesellschaften zur Begründung moralischer Handlungsregeln zum Beispiel ‚nicht mehr‘ auf religiöse Traditionen verweisen.

Schon diese knappe Problemanzeige verdeutlicht, dass wir es in der Diskussion mit einer Vielzahl unterschiedlicher Traditionsverständnisse zu tun haben. Deshalb ist einleitend zu klären, an welchen aktuellen Diskussionstand anzuknüpfen ist und mit welchem vorläufigen und noch sehr offenen Vorverständnis die Untersuchung begonnen werden kann.

Eine erste und fundamentale Unterscheidung des Begriffs der Tradition in zwei Teilaspekte ist unumstritten: Die Unterscheidung der Handlung des Tradierens von dem, was tradiert wird. Aber obwohl viele Autoren diese Unterscheidung erwähnen, erstaunt es, dass sie folgenlos bleibt. So subsummiert etwa Burghart Schmidt den ersten Teilaspekt dem Begriff der Kultur und erklärt den Traditionsbegriff selbst dadurch bereits für obsolet, während er den zweiten Aspekt unter dem Paradigma der Tradition als Ideologie einer kritischen Betrachtung unterzieht: Das erste Verständnis sei ein unverzichtbarer Teil jeder Form generationsübergreifender Gemeinschaften und als solches eine Grundbedingung für das Verstehen kultureller Entwicklungen. Das zweite Verständnis bilde dagegen den Kern des problematischen Traditionsverständnisses als einem Beharren auf einmal Erreichtem und Immer-so-Gewesenem. Wer allerdings diese grobe Unterscheidung schon für eine Lösung des Problems hält, wer also den einen Aspekt als problemlos beiseite schiebt und den anderen als halt- und sinnlos desavouiert, geht am eigentlichen Kern des Problems vorbei. Der Begriff der Tradition wird in zwei unabhängige Teile aufgespalten, ohne zu berücksichtigen, dass es sich hierbei nur um Teilaspekte eines weitaus komplexeren Zusammenhanges handelt. Die bereits erwähnte Rede von traditionalen Gesellschaften verweist auf das grundlegende Problem, dass hier bereits gesellschafts- und wissenschaftstheoretische Vorentscheidungen zum Tragen kommen, die weniger etwas von der Auffassung darüber preisgeben, was unter Traditionalität und einer durch sie geprägten Gesellschaft verstanden werden kann, als vielmehr ein modernes Selbstverständnis in Abgrenzung und Profilierung gegenüber einer diffus bleibenden Tradition.

Nicht erst durch die Vertreter der Postmoderne und des Kommunitarismus seit Ende der 1970er Jahre, sondern schon früher wurde aus phänomenologischer, existenzphilosophischer und hermeneutischer Perspektive die Kontextvergessenheit der vorherrschenden Strömungen kritisiert, die zwar zu Recht die Sprach- und Handlungsabhängigkeit des Denkens reflektierten, dabei aber übersahen, dass sie begrenzt blieb auf Gleichzeitlichkeit und Gleichörtlichkeit der miteinander sprechend Handelnden. Dass diese Einwände inzwischen ernst genommen werden, zeigt sich daran, dass in den letzten Jahren eine kulturphilosophische Neuorientierung eingesetzt hat, verbunden allerdings mit Unklarheiten darüber, was eigentlich unter Kultur verstanden werden kann oder soll. Wenn Tradierung tatsächlich Grundbedingung kultureller Entwicklung ist, so ist erstaunlich, dass in der neuerlichen Beschäftigung mit Kultur die Frage nach Tradition fast gänzlich ausgeblendet wird, indem der problematische Teilaspekt des Traditionskomplexes ausgeklammert, der unproblematische aber geradezu naiv akzeptiert und ohne weitere Überlegung dem Kulturbegriff subsummiert wird.

Deshalb mutet es erstaunlich an, wenn Kristof Nyíri schreibt: „Durch das rapide Verschwinden dessen, was traditionale Gesellschaften genannt wird, durch die Probleme und Paradoxien der Modernisierung und besonders durch die kulturellen Spannungen und Krisen innerhalb unseres eigenen modernen Lebens, steht das Problem der Traditionen und der Traditionalität tatsächlich immer noch, oder wieder einmal, im Mittelpunkt des theoretischen Interesses. Ist das tatsächlich so? Und wenn es so wäre: Welcher Art wäre dieses Interesse an Tradition? Solcherart, dass es die Beziehung von Traditionalität und Traditionen reflektierte? Oder dass es versucht, das weiterhin Bedeutende an Tradition unter den Bedingungen der Moderne zu verdeutlichen? Selbst wenn man sagen würde, Tradition sei in aller Munde – was für Theologen und Ethnologen auf jeden Fall zutrifft, aber auch richtig wäre, bedenkt man, wie häufig das Wort und seine Derivate in philosophischen Texten begegnen – so ist dennoch nur zu bemerken, dass der Gebrauch des Wortes vielfältig ist und somit auf eine enorme Bedeutungsbreite verweist.

Wo bisher die Frage nach dem systematischen Ort der Tradition explizit gestellt wird, etwa in der sog. Ritter-Schule, im Kommunitarismus sowie im Rahmen der Postmoderne-Diskussion, taucht unmittelbar der Vorwurf des (Neo?)Konservatismus auf. Das hängt sicherlich damit zusammen, dass einige der Autoren, die auf den Traditionsbegriff zurückgreifen, tendenziell einem politischen Konservatismus zuneigen. So sieht Martin Greiffenhagen in seiner Studie zum Dilemma des Konservatismus im Traditionsbegriff „den Angelpunkt des konservativen Selbstverständnisses, von dem andere konservative Grundbegriffe wie Autorität und Institution, konservatives Staats- und Religionsverständnis abhängen. Das allein kann aber nicht der Grund dafür sein, die Tauglichkeit des Begriffs selbst zu desavouieren. Trotzdem – oder vielleicht deshalb – sind jüngere Arbeiten zum Thema rar, so dass mir im Gegensatz zu Nyíris Einschätzung noch immer gültig zu sein scheint, was Joachim Ritter in Reaktion auf einen Vortrag Josef Piepers sagte, nämlich dass das Traditionsproblem „ein ebenso dunkles und verwickeltes wie wenig behandeltes Problem sei. Ritter würdigt, trotz aller Widersprüche und kritischen Einwände, dass Pieper der einzige deutsche Philosoph ist, der sich seit Mitte des 20. Jahrhunderts immer wieder explizit mit dem Begriff der Tradition befasst hat.

Letzten Endes ist für die aktuelle Diskussion zu verzeichnen, dass die Traditionstheorie heute immer noch da ist, wo Karl R. Popper sie in einem Vortrag von 1948 sah: „Auf dem Weg zu einer rationalen Traditionstheorie. Daran hat in der deutschsprachigen Diskussion auch der XIII. Deutsche Kongress für Philosophie 1984 nichts geändert, der sich explizit der Traditionsthematik zuwandte. Siegfried Wiedenhofer zieht dazu das Fazit, der Kongressband zeige zwar, dass der Traditionsbegriff nicht zu den zentralen Begriffen der Gegenwartsphilosophie gehöre, gleichwohl aber „nicht mehr übergehbar oder verdrängbar sei. Eine der wenigen deutschsprachigen Monographien, die sich nicht mit speziellen religiösen, sozialen und ethnischen Traditionen beschäftigt, sondern den Begriff selbst – allerdings aus einer stark literaturwissenschaftlichen Perspektive – in den Blick nimmt, ist Zeit und Tradition von Aleida Assmann. Sie liefert eine knappe Einführung in die Traditionstheorie(n), aber keine philosophisch-systematische Reflexion, sondern eine eher von literaturwissenschaftlichen Fragestellungen angeleitete Darstellung einzelner Autoren und Aspekte. Zusammen mit Nyíri und Jan Assmann steht sie für den Versuch, den Traditionsbegriff in einer Verbindung aus ethnologischen, literatur- und kulturwissenschaftlichen Forschungsinteressen für eine Theorie des kulturellen Gedächtnisses fruchtbar zu machen. Zudem liegen weitere literaturwissenschaftliche und ethnologische sowie einige historische und theologische oder interdisziplinäre Arbeiten vor, die vorwiegend in Sammelbänden dem Traditions- bzw. Kulturbegriff gewidmet sind. Der einzige Band, der eine eigenständige und breiter angelegte Beschäftigung mit dem Begriff darstellt, Tradition des amerikanischen Soziologen Edward Shils aus dem Jahre 1981, ist längst vergriffen; eine deutsche Übersetzung hat es nie gegeben.

Wenn nun ausführlich Begriff und Theorie der Tradition erörtert werden, so geschieht dies in der Absicht, einen Traditionsbegriff als Teil einer Kulturtheorie und im Blick auf seine Bedeutung für eine kommunikative Verfahrensethik zu entfalten. Die alltags- wie wissenschaftssprachliche Verwendung des Wortes Tradition birgt die Konnotationen des unverändert Überkommenen, des Althergebrachten; die Rede von Tradition ist in der Regel konservative Rede, weil es ihr oft um die Frage nach dem Bewahren dieses Überkommen und Althergebrachten geht. Und diese Rede wird geführt angesichts eines angeblich drohenden Verlustes von Tradition in den modernen, rational orientierten westlichen Nationen. In der vorliegenden Arbeit wird ein anderes Verständnis von Tradition vorgestellt. Ich versuche zu zeigen, dass ein Begriff der Tradition nicht über die überkommenen und althergebrachten, jeweils regional gültigen Inhalte, sondern von der Handlung des Tradierens her entwickelt werden sollte. Für einen solchen Begriff der Tradition wären Verlust und Wandel der tradierten Gehalte ein unproblematischer Vorgang, denn was sich nicht (mehr) bewährt, braucht nicht bewahrt zu werden. Damit wird zugleich ein beliebtes Konstrukt der soziologischen wie philosophischen Rede von Gesellschaft in Frage gestellt: Die Unterscheidung von Tradition und Moderne, traditionalen und modernen Gesellschaften. Nicht das Verhältnis zur Tradition hat sich verändert, sondern die Möglichkeit ist eingeschränkt worden, konkrete Traditionsprozesse monopolistisch zu verwalten und zu steuern sowie bestimmte Traditionsgehalte durch Macht und Gewalt durchzusetzen. Was die Neuzeit prägt und sie zu einer modernen Gesellschaft macht ist, nicht Traditionsverlust, sondern die Pluralisierung von Traditionen.

Grundthese dieser Untersuchungen ist, dass die universalistischen und liberalistischen Traditionskritiker entgegen den Unterstellungen ihrer Kritiker sowie des zuweilen explizierten Selbstverständnisses in punkto Traditionstheorie durchaus positiv und affirmativ zur auch unter modernen Bedingungen einflussreichen Traditionalität Stellung nehmen – nur liegen bislang keine Arbeiten zu ihren impliziten Traditionstheorien vor. Im Laufe der Untersuchungen wird sich zeigen, dass diese Stellungnahmen nicht nur am Rande der jeweiligen Ansätze verlautbart werden, sondern an vielen Punkten unmittelbar das Zentrum universalistischer und liberalistischer Positionen berühren. Deshalb bilden die Untersuchungen zu Arbeiten von Jürgen Habermas und von Vertretern des Methodischen Konstruktivismus den Schwerpunkt der vorliegenden Arbeit (Teil III, Kap. 8 und 9); sie haben zur Aufgabe, die impliziten traditionstheoretischen Aspekte der beiden Ansätze heraus zu arbeiten.

Diese Aufgabe kann nicht bewältigt werden, wenn nicht zuvor geklärt ist, was denn allgemein unter einer Traditionstheorie verstanden werden soll. Da Aufgabe und Umfang einer Traditionstheorie gegenwärtig alles andere als geklärt ist und auf keine einheitliche Konzeption zurückgegriffen werden kann, ohne bereits an ein sehr spezifisches Verständnis von Tradition anzuknüpfen, wird es in Teil I (Kap. 1 bis 5) um verschiedene Vorschläge gehen, was unter Tradition, Traditionalismus und Traditionalität verstanden und was einer Traditionstheorie als Aufgabe zugewiesen werden könnte. Diese Untersuchungen werden nicht mit dem Anspruch vorgelegt, eine allgemeine Geschichte der Traditionsbegriffe und der Traditionstheorien zu liefern. Ein solcher Anspruch hätte den Rahmen einer Dissertation gesprengt. Auch wird nicht der Versuch gemacht, alle traditionstheoretisch relevante Literatur zu diskutieren oder auch nur zu nennen – dazu ist der Textbefund in zu unterschiedliche Fach- und Teildisziplinen aufgeteilt und sind die Ansätze, Ansprüche und die theoretischen wie praktischen Hintergründe zu heterogen, um auf begrenztem Raum den jeweiligen Ansätzen gerecht zu werden.

Die Teile II (Kap. 6 und 7) und IV (Kap. 10 bis 12) stellen anders als die Teile I und III in formaler Hinsicht keine Untersuchungen vorliegender Ansätze dar, sondern dienen der Entwicklung und Darlegung eines eigenen Vorschlags auf Basis der vorgenommenen Untersuchungen. Sie sind mithin als Ergebnis der Arbeit insgesamt zu lesen. Dabei stellt der II. Teil zunächst einen Zwischenschritt dar, um die Untersuchungen zu Habermas und dem Methodischen Konstruktivismus vornehmen zu können. Aus diesem Grund möchte ich den dort entwickelten Traditionsbegriff als vorläufig verstanden wissen. In Teil IV wird an die Zwischenüberlegungen wieder angeknüpft und ein Vorschlag unterbreitet, welchen Ort Begriff und Theorie der Tradition im Rahmen einer kommunikativen Verfahrensethik bzw. einer auf Dialog und Gespräch gründenden Kulturkonzeption als Rahmentheorie finden könnte.