Zitate zur Tradition

Theodor W. Adorno: Dialektik der Tradition

„Wie die in sich verbissene Tradition ist das absolut Traditionslose naiv: ohne Ahnung von dem, was an Vergangenem in der vermeintlich reinen, vom Staub des Zerfallenen ungetrübten Beziehung zu den Sachen steckt. Inhuman aber ist das Vergessen, weil das akkumulierte Leiden vergessen wird; denn die geschichtliche Spur an den Dingen, Worten, Farben und Tönen ist immer die vergangenen Leidens. Darum stellt Tradition heute vor einen unauflöslichen Widerspruch. Keine ist gegenwärtig und zu beschwören; ist aber eine jegliche ausgelöscht, so beginnt der Einmarsch in die Unmenschlichkeit.“

Rudolf Bultmann: Geschichte und Tradition

 „[…] wie es keine Geschichte ohne Tradition gibt, so gibt es auch keine Tradition ohne Geschichte, wenn anders die Tradition nicht nur in der Weitergabe und unreflektierten Übernahme alter Ordnungen und Vorstellungen besteht, sondern wenn es zur Tradition gehört, daß sie wesenhaft variabel, lebendig ist, das heißt aber, wenn sie selbst geschichtlich ist. Die Geschichte bringt Tradition hervor, und Tradition stiftet die Kontinuität der Geschichte.“

Gilbert Keith Chesterton: Bemerkungen zu Tradition und Demokratie

„Die Tradition ist eine Ausdehnung des Wahlrechts. Tradition heißt, der unbekanntesten aller Klassen – unseren Vorfahren – Stimmen zu geben. Tradition ist die Demokratie der Toten.“

„Die Demokratie gebietet uns, die Meinung eines guten Menschen nicht in den Wind zu schlagen, selbst wenn er unser Stallknecht ist. Die Tradition bittet uns, die Meinung eines guten Menschen nicht in den Wind zu schlagen, selbst wenn es unser Vater ist.“

Johann Wolfgang Goethe: Bemerkungen zur Tradition

Tradition als schweres Erbe

Es erben sich Gesetz‘ und Rechte
Wie eine ew’ge Krankheit fort,
Sie schleppen von Geschlecht sich zum Geschlechte
Und rücken sacht von Ort zu Ort.
Vernunft wird Unsinn, Wohltat Plage;
Weh dir, daß du ein Enkel bist!
Vom Rechte, das mit uns geboren ist,
Von dem ist leider! nie die Frage.

Überlieferungen

„Wenn der Mensch daran denken soll, von Ereignissen, die ihn zunächst betreffen, künftigen Geschlechtern Nachricht zu hinterlassen, so gehört dazu ein gewisses Behagen an der Gegenwart, ein Gefühl von dem hohen Werte derselben. Zuerst also befestigt er im Gedächtnis, was er von Vätern vernommen, und überliefert solches in fabelhaften Umhüllungen; denn mündliche Überlieferung wird immer märchenhaft wachsen. Ist aber die Schrift erfunden, ergreift die Schreibseligkeit ein Volk vor dem andern, so entstehen alsdann Chroniken, welche den poetischen Rhythmus behalten, wenn die Poesie der Einbildungskraft und des Gefühls längst verschwunden ist. Die späteste Zeit versorgt uns mit ausführlichen Denkschriften, Selbstbiographien unter mancherlei Gestalten.
Auch im Orient finden wir gar frühe Dokumente einer bedeutenden Weltausbildung. Sollten auch unsere heiligen Bücher später in Schriften verfaßt sein, so sind doch die Anlässe dazu als Überlieferungen uralt und können nicht dankbar genug beachtet werden. Wie vieles mußte nicht auch in dem mittlern Orient, wie wir Persien und seine Umgebungen nennen dürfen, jeden Augenblick entstehen und sich trotz aller Verwüstung und Zersplitterung erhalten! Denn wenn es zu höherer Ausbildung großer Landstrecken dienlich ist, daß solche nicht einem Herrn unterworfen, sondern unter mehrere geteilt seien, so ist derselbe Zustand gleichfalls der Erhaltung nütze, weil das, was an dem einen Ort zugrunde geht, an dem andern fortbestehen, was aus dieser Ecke vertrieben wird, sich in jene flüchten kann.
Auf solche Weise müssen, ungeachtet aller Zerstörung und Verwüstung, sich manche Abschriften aus frühern Zeiten erhalten haben, die man von Epoche zu Epoche teils abgeschrieben, teils erneuert.“
   

Überlieferung und Erfahrung

„… jeder, der nur irgend etwas treibt, will Künstler, Meister und Professor heißen, und bekennt wenigstens durch diese Titelsucht, daß es nicht genug sei, nur etwas durch Überlieferung zu erhaschen oder durch Übung irgendeine Gewandtheit zu er langen; er gesteht, daß jeder vielmehr über das, was er tut, auch fähig sein solle zu denken, Grundsätze aufzustellen und die Ursachen, warum dieses oder jenes zu tun sei, sich selbst und andern deutlich zu machen.“

Jürgen Habermas: Traditionale und postraditionale Lebensform

„Marx verwendet es [das Konzept der Entfremdung] für die Kritik jener Lebensverhältnisse, die mit der Proletarisierung von Handwerkenr, Bauern und ländlichen Plebejern im Laufe der kapitalistischen Modernisierung entstanden sind. An dieser repressiven Entwurzelung traditionaler Lebensformen kann er aber den Aspekt der Verdinglichung von dem der strukturellen Ausdifferenzierung der Lebenswelt nicht unterscheiden – dafür ist das Entfremdungskonzept nicht hinreichend trennscharf. Die Werttheorie bietet keine Grundlage für ein Konzept der Verdinglichung, das gestatten würde, Syndrome der Entfremdung relativ zum jeweils erreichten Grad der Rationalisierung einer Lebenswelt zu identifizieren. Auf der Stufe posttraditionaler Lebensformen zählt der Schmerz, den das Auseinandertreten von Kultur, Gesellschaft und Persönlichkeit denen, die in moderne Gesellschaften hineinwachsen und darin ihre Identität ausbilden, auch zufügt, als Prozeß der Individuierung und nicht als Entfremdung. Verdinglichung darf sich in einer weitgehend rationalisierten Lebenswelt nur noch an Bedingungen kommunikativer Vergesellschaftung überhaupt, nicht an einer nostalgisch beschworenen, oft romantisierten Vergangenheit vormoderner Lebensformen bemessen.“

Eric Hobsbawm: Erfindung der Tradition

 „Unter ‚erfundener Tradition‘ sind Gewohnheiten zu verstehen, die normalerweise bestimmt werden durch offen oder stillschweigend akzeptierte Regeln und die ritueller oder symbolischer Natur sind, welche durch Wiederholung versuchen bestimmte Werte und Verhaltensnormen einzuschärfen, die automatisch Kontinuität mit der Vergangenheit unterstellen. Tatsächlich versuchen sie normalerweise, wo möglich, Kontinuität mit einer passenden historischen Vergangenheit zu stiften. Ein treffendes Beispiel ist die bewußte Wahl eines gotischen Stiles für den Wiederaufbau des Britischen Parlaments im 19. Jahrhundert, und die gleichermaßen bewußte Entscheidung nach dem 2. Weltkrieg die Parlamentskammer nach exakt dem gleichen Grundriß wie zuvor wiederaufzubauen. Die historische Vergangenheit, in die hinein die neue Tradition eingesetzt wird, muß sich nicht lang zurückdehnen in die angenommenen Nebel der Vergangenheit. Revolutionen und ‚progressive Bewegungen‘, die mit der Vergangenheit brechen, haben per definitionem ihre eigene entsprechende Vergangenheit, auch wenn sie sich möglicherweise zu einem bestimmten Zeitpunkt abtrennt, wie etwa 1789. Wie auch immer, insoweit es einen solchen Verweis in eine historische Vergangenheit gibt, ist die Besonderheit ‚erfundener Traditionen‘, daß die Kontinuität mit ihr im allgemeinen künstlich ist. Kurzum, sie sind Antworten auf neuartige Situationen, die die Form des Verweises auf alte Situationen annehmen, oder die ihre eigene Vergangenheit schaffen durch quasi-verpflichtende Wiederholung. Es ist der Kontrast zwischen der beständigen Veränderung und Erneuerung der modernen Welt und der Versuch letztendlich einige Teile des sozialen Lebens in ihr als unveränderlich und invariant zu strukturieren, der die ‚Erfindung der Tradition“ in den vergangenen zwei Jahrhunderten so interessant für Historiker machte.“
(A. d. Engl.: KD)

Wilhelm Kamlah: Was ist Tradition?

Doch was ist nun eine „Tradition“ ? – der Ausdruck wurde ja in diesem Paragraphen, aber auch schon früher und bereits in der ,Logischen Propädeutik“ mehrfach vorgreifend gebraucht. Z. B. wurde von der Vernunft gesagt : „Wir nennen einen Menschen vernünftig, der dem Mitmenschen als seinem Gesprächspartner und den besprochenen Gegenständen aufgeschlossen ist, der ferner sein Reden nicht durch bloße Emotionen und nicht durch bloße Traditionen oder Moden, sondern durch Gründe bestimmen läßt“ (LP S. 127 unten). Die Antithese: „dort bloße Tradition, hier rationale Begründung“ ist das Hauptthema der Philosophie seit den Griechen.
Während im Falle des Terminus „Institution“ das Substantiv am Platze sein dürfte, halten wir uns im Falle des Terminus „Tradition“ lieber an den Prädikator „tradiert“, den wir ins Deutsche mit „überliefert“ oder „überkommen“ zu übersetzen pflegen. „Tradiert“, d. h. weitergegeben von einer Generation zur anderen, werden z. B. Handlungsschemata der Sprache, der Rechtsprechung, des Kultus, der Sitte, der gemeinsamen Arbeit. Tradiert werden aber auch Texte z. B. des Mythos, Gesetzestexte, Lieder usw. In archaischen Gruppen „gilt“ Tradiertes einfach als solches. Z. B. mythische Erzählungen gelten als wahr, weil und indem sie überliefert, von den Vorfahren „überkommen“ sind ? es ist genau diese bloß traditionale Geltung von Sätzen, gegen die sich seit den Griechen die Anforderung richtet, die Wahrheit von Sätzen in selbständiger Forschung und Rede zu begründen.
Werden in nacharchaischer, bereits mit Aufklärung konfrontierter Zeit immer noch oder aufs neue Sätze für wahr ausgegeben, weil sie als überliefert geschrieben stehen“ oder weil eine maßgebende Person sie ausgesprochen hat (ein Prophet, Jesus, ein Papst, Luther, Marx ? dieser interpretiert durch die unfehlbare //88// Partei), so sprechen wir von Dogmen“. Selbständige Vernunft unterwirft sich also der Autorität weder bloßer Tradition noch bloßer Dogmen.
Doch daß überlieferte Sätze als wahr gelten, ohne daß nach ihrer stets reproduzierbaren Begründung gefragt wird, ist nur ein Spezialfall der Geltung von Tradiertem. Für die Anthropologie noch wichtiger ist jener andere Spezialfall: Tradierte Handlungsund Verhaltensschemata gelten in einer Gruppe als verbindlich“. Z. B. es gehört sich“, den Hut zu ziehen, wenn man einem anderen auf der Straße begegnet.
In diesem Falle handelt es sich um eine Norm der „Sitte“. Wird der Verstoß gegen Normen von der Gruppe nicht nur durch Mißbilligung irgendwelcher Art geahndet, sondern „bestraft“ durch Handlungen wie Gefangensetzung, Tötung, Geldeinziehung, durch Handlungen also, deren Schemata ihrerseits als gewohnte und tradierte festgelegt sind, so sprechen wir von Normen des „Rechtes“, nicht der bloßen Sitte (man pflegt zu sagen, die Normen des Rechtes seien mit der Androhung von „Sanktionen“ verbunden).
Bestraft werden Übertretungen von Rechtsnormen, d. h. in erster Linie von „Verboten“. Da die Glieder einer Gruppe stets miteinander und gegeneinander handeln, sorgen Rechtsnormen für den Bestand der Gruppe und für den Schutz ihrer Glieder, indem sie Weisen besonders bedrohlichen Gegeneinanderhandelns verbieten, unter empfindliche Strafen stellen, jedoch auch, indem sie „Gebote“ des Handelns gegenüber anderen oder gegenüber der Gruppe aufstellen, und ferner, indem sie ausdrücklich angeben, was weder geboten noch verboten, sondern „erlaubt“ ist ? damit haben wir wieder die drei traditionell so genannten „moralischen Modalitäten“ beieinander.
Jeder von uns hat seine gerade ihm eigenen Gewohnheiten, z. B. die Gewohnheit, den Abend am Klavier zu verbringen oder täglich denselben Spaziergang zu machen. Doch auch andere haben die Gewohnheit, spazieren zu gehen, und die Gewohnheit, sich morgens die Zähne zu putzen und die Suppe mit einem Löffel zu essen, hat so gut wie jedermann. Es gibt also „individuelle“ und „kollektive“ Handlungsgewohnheiten, und diese haben ihre besondere Bedeutung dann, wenn wir miteinander handeln. Miteinander //89// sind wir gewohnt, beim Sport oder beim Musizieren oder beim Kartenspiel gewisse Rollen zu übernehmen und damit gewisse „Regeln“ zu befolgen. Spielregeln hat man sich „ausgedacht“ und eben damit ein Spiel, z. B. das Schachspiel „erfunden“. Es kann aber auch „im Familienkreise“ oder in einem Freundeskreis ein nicht tradiertes, sonst unbekanntes und ungewohntes Spiel samt seinen Regeln „aufkommen“, erfunden werden, und wenn ein Streit entsteht, dann heißt es: „das haben wir aber immer so gemacht“ ? ein Beispiel traditionaler Regeln im Kleinen, an dem sich etwas sehr Wichtiges ablesen läßt: der Übergang von der bloßen kollektiven Gewohnheit zur in einer Gruppe verbindlichen Norm.
Wir befinden uns noch im deskriptiven Teil der Anthropologie, indem wir uns, an die Lebenserfahrungen von jedermann erinnernd, lediglich darauf besinnen, daß es diesen seltsamen Übergang bloßer gemeinsamer Gewohnheiten des Handelns zu verbindlichen Normen „gibt“, den Übergang zu Normen, deren Übertretung in und von der Gruppe geahndet wird ? im Falle von Spielregeln lediglich dadurch, daß der Übertreter vom weiteren Mitspielen ausgeschlossen wird, im Falle von Rechtsnormen gegebenenfalls dadurch, daß der Übertreter vom weiteren Miteinanderleben ausgeschlossen, in ein Gefängnis eingeschlossen wird.
Die Tradition von Gewohnheiten wie auch von Normen, die Weitergabe und Übernahme von Handlungsschemata von einer Generation zur anderen ist nicht so geheimnisvoll, wie uns manche modernen Psychologen einreden wollen. Hier kommt es ja schlicht auf die „heranwachsenden“ Kinder an, die im Miteinanderleben der Familie und anderer Gruppen „hineinwachsen“ in die allgemein geltenden Handlungsschemata z. B. einer Sprache. Kleinkinder lieben die Verfestigung von Gewohnheiten zu Normen, bestehen z. B. darauf, daß gewisse Handlungen beim Zu-Bett-gehen allabendlich wiederholt und dadurch gleichsam zu „Riten“ werden. Die „Aneignung“ von Normen durch Kinder sollte man nicht, dem cartesianischen Dualismus von Außen und Innen gemäß, als „Internalisation“ zu „erklären“ versuchen, das Wort „Aneignung“ genügt hier vollauf.
Kinder leben zunächst unselbständig wie einst die Menschen archaischer Zeiten (die „mythischen Menschen“, wie wir auch sagen //90// können). Sie halten etwas für wahr, weil es „der Vater gesagt hat“. Sie halten Handlungen für geboten, weil sie diese Handlungen durch Gewöhnung wie die anderen Glieder der Gruppe regelmäßig zu vollziehen gelernt haben, oder wieder, weil „der Vater gesagt hat, daß …“. Die philosophische Antithese von bloß traditionaler Geltung und rationaler Begründung, nun nicht nur hinsichtlich von Aussagen, sondern auch hinsichtlich von Normen, wird erst mit der Personwerdung aktuell, muß also in der Erziehung jeweils an der richtigen Stelle (nicht schon nach der „Vollendung der Geburt“) berücksichtigt werden.
Daß in verschiedenen Ländern und Gruppen und in verschiedenen Zeiten höchst verschiedenartige Rechtsnormen, Sitten und Gebräuche geherrscht haben und herrschen, eben dies gab schon der antiken Sophistik den Anstoß dazu, die bloß traditionale Geltung von Normen in Frage zu stellen und nach einer rationalen Begründung von Normen Ausschau zu halten oder deren Möglichkeit dann auch gleich zu bestreiten. „Warum tust du dies?“ „Weil es durch mos maiorum geboten ist“, weil es durch das „Herkommen“ gefordert wird ? seit diese Antwort einer erwachsenen Person als ungenügend verworfen wird, beginnt bei den Griechen die „Moralphilosophie“ oder die „Ethik“. An die Selbständigkeit der Person wird eine neue Anforderung gestellt: Der begehrende und alsdann handelnde Mensch soll nicht allein selbständig überlegen, welche Mittel zur Erreichung welchen Zweckes führen, und dabei überkommene Normen befolgen, sondern er soll auch selbständig überlegen, welche Normen er zu befolgen hat.

[aus: Wilhelm Kamlah, Philosophische Anthropologie. Sprachkritische Grundlegung und Ethik, Bibliographisches Institut, Mannheim – Wien – Zürich 1972]

Immanuel Kant: Abhängigkeit der Offenbarungsreligion von Schrift oder Tradition

Es kann […] eine Religion die natürliche, gleichwohl aber auch geoffenbart sein, wenn sie so beschaffen ist, daß die Menschen durch den bloßen Gebrauch ihrer Vernunft auf sie von selbst hätten kommen können und sollen, ob sie zwar nicht so früh, oder in so weiter Ausbreitung, als verlangt wird, auf dieselbe gekommen sein würden, mithin eine Offenbarung derselben zu einer gewissen Zeit und an einem gewissen Ort weise und für das menschliche Geschlecht sehr ersprießlich sein konnte, so doch, daß, wenn die dadurch eingeführte Religion einmal da ist und öffentlich bekannt gemacht worden, forthin jedermann sich von dieser ihrer Wahrheit durch sich selbst und seine eigene Vernunft überzeugen kann. In diesem Falle ist die Religion objectiv eine natürliche, obwohl subjectiv eine geoffenbarte; weshalb ihr auch der erstere Namen eigentlich gebührt. Denn es könnte in der Folge allenfalls gänzlich in Vergessenheit kommen, daß eine solche übernatürliche Offenbarung je vorgegangen sei, ohne daß dabei jene Religion doch das mindeste weder an ihrer Faßlichkeit, noch an Gewißheit, noch an ihrer Kraft über die Gemüther verlöre. Mit der Religion aber, die ihrer innern Beschaffenheit wegen nur als geoffenbart angesehen werden kann, ist es anders bewandt. Wenn sie nicht in einer ganz sichern Tradition oder in heiligen Büchern als Urkunden aufbehalten würde, so würde sie aus der Welt verschwinden, und es müßte entweder eine von Zeit zu Zeit öffentlich wiederholte, oder in jedem Menschen innerlich eine continuirlich fortdauernde übernatürliche Offenbarung vorgehen, ohne welche die Ausbreitung und Fortpflanzung eines solchen Glaubens nicht möglich sein würde.

Lescek Kolakowski: Tradition und Revolte

 „Es gibt zwei Umstände, deren wir uns immer gleichzeitig erinnern sollen: Erstens, hätten nicht die neuen generationen unaufhörlich gegen die ererbte Tradition revoltiert, würden wir noch heute in Höhlen leben; zweitens, wenn die Revolte gegen die ererbte Tradition einmal universell würde, werden wir uns wieder in den Höhlen befinden. Der Kult der Tradition und der Widerstand gegen die Tradition sind gleichermaßen unentbehrlich für das gesellschaftliche leben; eine Gesellschaft, in der der Kult der Tradition allmächtig wird, ist zur Stagnation verurteilt; eine gesellschaft, in der die Revolte gegen die Tradition universell wird, ist zur Vernichtung verurteilt. Die Gesellschaften produzierten immer sowohl den geist des Konservativismus wie den geist der Revolte; beide sind nötig, können aber immer nur im konflikt, nie in einer Synthese, koexistieren.“  

Georg Christoph Lichtenberg: Unüberlegte Hochachtung

„Der oft unüberlegten Hochachtung gegen alte Gesetze, alte Gebräuche und alte Religion hat man alles Übel in der Welt zu verdanken.“

Wilhelm Kamlah und Paul Lorenzen: Tradition und methodischer Neuanfang

„Wir beginnen also inmitten und mit Hilfe unserer Umgangssprache, aber auch der Aufbau des wissenschaftlichen Sprechens wird nicht ganz und gar der Zirkelbewegung entraten. Jedoch die Einführung derjenigen Wörter, die eines nach dem andern den Aufbau tragen werden, soll von jetzt an zirkelfrei a primis fundamentis versucht werden. Dabei werden zuweilen, aber so sparsam wie möglich, neue Wörter eingeführt werden, die der Tradition fremd sind. Andererseits werden, nach kritischer Prüfung, alte Wörter der Tradition wieder aufgegriffen werden.
Obwohl der „Lehrer“ der Vorschule seinen Plan verfolgt, nimmt er doch als Lehrer keinerlei Autorität für sich in Anspruch. Er appelliert an nichts anderes als an die selbständige Einsicht des Lesers, der insofern nicht „Schüler“, sondern Partner ist.
Aber auch die Tradition wird nirgends als Autorität in Anspruch genommen. Sie wird sorgfältig beachtet, sie wird kritisiert und zugleich respektiert in der Vermutung, daß sie uns Wichtiges zu lehren hat, ja daß die großen Denker der Vergangenheit uns überlegen sein könnten, daß wir z. B. von PLATON und ARISTOTELES, von LEIBNIZ und KANT zu lernen haben. Dennoch werden wir auch diese Denker stets nur als Partner eines vernünftigen Gesprächs hören, und etwa PLATON hätte nichts anderes von uns gefordert. In diesem Sinne wird unsere Beachtung der Tradition destruktiv und konservativ zugleich sein: kritische Bewahrung.
Damit unterscheidet sich unser Vorhaben von einer Sprachkritik, die unser Sprechen „vor das Forum der geschichtlichen Tradition stellt, der wir alle gemeinsam angehören“ [Gadamer]. Schon allein die Vielstimmigkeit dieser Tradition würde uns, wollten wir Richtersprüche von ihr erwarten, nur aufs neue verwirren.“

John Stuart Mill: Wissen und Tradition

„Wenn man also bedenkt, dass bei verschiedenen Generationen der menschliche Geist sich auch mit verschiedenen Dingen beschäftigt, und durch die umgebenden Umstände verleitet wird, seine Aufmerksamkeit zu einer Zeit mehr auf die eine der Eigenschaften eines Dinges, zu einer andern Zeit mehr auf die andere zu richten, so ist es natürlich und unvermeidlich, dass in einem jeden Jahrhundert ein Theil unseres traditionellen Wissens, da er nicht fortwährend durch die Nachforschungen und Untersuchungen, mit denen die Menschen sich gerade zu dieser Zeit beschäftigen, in Anregung bleibt, einschläft und, so zu sagen, aus dem Gedächtniss verschwindet. Er würde Gefahr laufen, ganz verloren zu gehen, wenn die Urtheile oder Formeln, die Resultate einer frühem Erfahrung, nicht zurückblieben, nicht fortwährend wiederholt und geglaubt würden, vielleicht als Formen von Wörtern, aber von Wörtern, welche einstens wirklich eine Bedeutung hatten, und von denen man immer noch annimmt, dass sie eine Bedeutung haben; und diese Bedeutung, wenn sie suspendirt worden ist, kann historisch nachgewiesen werden, und kann, wenn sie angeregt wird, von Geistern, welche die nöthige Begabung besitzen, immer noch als eine Thatsache oder eine Wahrheit anerkannt werden. So lange die Formeln bleiben, kann die Bedeutung zu irgend einer Zeit wieder aufleben; und wie auf der einen Seite die Formeln allmälig die ihnen ursprünglich beigelegte Bedeutung verlieren, so werden, wenn diese Vergessenheit ihre Höhe erreicht und angefangen hat, augenfällige üble Folgen zu haben, auf der andern Seite Geister erweckt, welche aus der Betrachtung der Formeln die ganze Wahrheit derselben (wenn es Wahrheit war) wieder entdecken und sie den Menschen wieder verkünden, nicht als eine Entdeckung, sondern als die Bedeutung von dem, was man sie gelehrt hat und wozu sie sich immer noch bekennen.“

Friedrich Nietzsche: Bemerkungen zu Tradition und Modernität 

„Tradition ist die Behauptung, daß das Gesetz bereits seit uralten Zeiten bestanden habe.“

Widersprechen können

Jeder weiß jetzt, daß Widerspruch-vertragen-können ein hohes Zeichen von Kultur ist. Einige wissen sogar, daß der höhere Mensch den Widerspruch gegen sich wünscht und hervorruft, um einen Fingerzeig über seine ihm bisher unbekannte Ungerechtigkeit zu bekommen. Aber das Widersprechen-Können, das erlangte gute Gewissen bei der Feindseligkeit gegen das Gewohnte, Überlieferte, Geheiligte – das ist mehr als jenes Beides und das eigentlich Große, Neue, Erstaunliche unserer Kultur, der Schritt aller Schritte des befreiten Geistes: wer weiß das?

Kritik der Modernität

Unsre Institutionen taugen nichts mehr: darüber ist man einmütig. Aber das liegt nicht an ihnen, sondern an uns. Nachdem uns alle Instinkte abhanden gekommen sind, aus denen Institutionen wachsen, kommen uns Institutionen überhaupt abhanden, weil wir nicht mehr zu ihnen taugen. Demokratismus war jederzeit die Niedergangs-Form der organisierenden Kraft: ich habe schon in »Menschliches, Allzumenschliches« I, die moderne Demokratie samt ihren Halbheiten, wie „Deutsches Reich“, als Verfallsform des Staats gekennzeichnet. Damit es Institutionen gibt, muß es eine Art Wille, Instinkt, Imperativ geben, antiliberal bis zur Bosheit: den Willen zur Tradition, zur Autorität, zur Verantwortlichkeit auf Jahrhunderte hinaus, zur Solidarität von Geschlechter-Ketten vorwärts und rückwärts in infinitum. Ist dieser Wille da, so gründet sich etwas wie das imperium Romanum: oder wie Rußland, die einzige Macht, die heute Dauer im Leibe hat, die warten kann, die etwas noch versprechen kann – Rußland, der Gegensatz-Begriff zu der erbärmlichen europäischen Kleinstaaterei und Nervosität, die mit der Gründung des deutschen Reichs in einen kritischen Zustand eingetreten ist … Der ganze Westen hat jene Instinkte nicht mehr, aus denen Institutionen wachsen, aus denen Zukunft wächst: seinem „modernen Geiste“ geht vielleicht nichts so sehr wider den Strich. Man lebt für heute, man lebt sehr geschwind, – man lebt sehr unverantwortlich: dies gerade nennt man „Freiheit“. Was aus Institutionen Institutionen macht, wird verachtet, gehaßt, abgelehnt: man glaubt sich in der Gefahr einer neuen Sklaverei, wo das Wort „Autorität“ auch nur laut wird. Soweit geht die décadence im Wert-Instinkte unsrer Politiker, unsrer politischen Parteien: sie ziehn instinktiv vor, was auflöst, was das Ende beschleunigt… Zeugnis die moderne Ehe. Aus der modernen Ehe ist ersichtlich alle Vernunft abhanden gekommen: das gibt aber keinen Einwand gegen die Ehe ab, sondern gegen die Modernität. Die Vernunft der Ehe – sie lag in der juristischen Alleinverantwortlichkeit des Mannes: damit hatte die Ehe Schwergewicht, während sie heute auf beiden Beinen hinkt. Die Vernunft der Ehe – sie lag in ihrer prinzipiellen Unlösbarkeit: damit bekam sie einen Akzent, der, dem Zufall von Gefühl, Leidenschaft und Augenblick gegenüber, sich Gehör zu schaffen wußte. Sie lag insgleichen in der Verantwortlichkeit der Familien für die Auswahl der Gatten. Man hat mit der wachsenden Indulgenz zugunsten der Liebes-Heirat geradezu die Grundlage der Ehe, das, was erst aus ihr eine Institution macht, eliminiert. Man gründet eine Institution nie und nimmermehr auf eine Idiosynkrasie, man gründet die Ehe nicht, wie gesagt, auf die Liebe“ – man gründet sie auf den Geschlechtstrieb, auf den Eigentumstrieb (Weib und Kind als Eigentum), auf den Herrschafts-Trieb, der sich beständig das kleinste Gebilde der Herrschaft, die Familie, organisiert, der Kinder und Erben braucht, um ein erreichtes Maß von Macht, Einfluß, Reichtum auch physiologisch festzuhalten, um lange Aufgaben, um Instinkt-Solidarität zwischen Jahrhunderten vorzubereiten. Die Ehe als Institution begreift bereits die Bejahung der größten, der dauerhaftesten Organisationsform in sich: wenn die Gesellschaft selbst nicht als Ganzes für sich gutsagen kann bis in die fernsten Geschlechter hinaus, so hat die Ehe überhaupt keinen Sinn. – Die moderne Ehe verlor ihren Sinn – folglich schafft man sie ab.

Josef Pieper: Zur Tradition als Vorgang

„Tradition als Vorgang, als geschichtlicher Prozeß, spielt zwischen zwei Partnern, einem älteren und einem jüngeren, zwischen Vater und Sohn, zwischen den Generationen. Es handelt sich dabei, genau genommen, nicht um einen Dialog, nicht um Austausch, nicht um eine wechselseitige Mitteilung, sondern um eine sozusagen »einseitige« Mitteilung. Der eine Partner, der Überliefernde, redet, und der andere hört – wenn und sofern es sich um einen Traditionsvorgang handelt. Und natürlich spielt sich zwischen den einander folgenden Generationen auch noch etwas anderes ab als Tradition [im strengen Sinn]; wenn es mit rechten Dingen zugeht, gibt es z. B. auch ein Gespräch zwischen Alten und Jungen, hin und her, wovon beide Teile profitieren. Wichtig ist nun weiter, daß der tradierende Teil im Traditionsvorgang nicht etwas Eigenes, Selbsterworbenes weitergibt, sondern etwas gleichfalls von anderswoher Empfangenes. Wozu wiederum zu sagen ist, daß es im Verhältnis der Generationen natürlich auch die Weitergabe des Selbsterworbenen gibt, etwa im Fall des Forschers, der seine eigenen Entdeckungen lehrend mitteilt; aber dies nennen wir dann nicht im strikten Sinn »tradieren« und »überliefern«; die Sprache selbst sperrt sich gegen solchen Wortgebrauch. Überlieferung, Tradition also heißt nicht einfachhin: etwas aushändigen, sondern: etwas zuvor Eingehändigtes wiederum aushändigen. Quod a patribus acceperunt, hoc filiis tradiderunt; das von den Vätern her Empfangene wird den Söhnen weitergegeben. Dieser Augustinussatz bezeichnet völlig präzis die Struktur des Traditionsvorgangs.“

Max Weber: Der Idealtypus traditionalen Handelns

Wie jedes Handeln kann auch das soziale Handeln bestimmt sein 1. zweckrational: durch Erwartungen des Verhaltens von Gegenständen der Außenwelt und von andren Menschen und unter Benutzung dieser Erwartungen als „Bedingungen“ oder als „Mittel“ für rational, als Erfolg, erstrebte und abgewogene eigne Zwecke, – 2. wertrational: durch bewußten Glauben an den – ethischen, ästhetischen, religiösen oder wie immer sonst zu deutenden – unbedingten Eigenwert eines bestimmten Sichverhaltens rein als solchen und unabhängig vom Erfolg, – 3. affektuell, insbesondere emotional: durch aktuelle Affekte und Gefühlslagen, – 4. traditional: durch eingelebte Gewohnheit.
[…] Das streng traditionale Verhalten steht – ganz ebenso wie die rein reaktive Nachahmung […] – ganz und gar an der Grenze und oft jenseits dessen, was man ein „sinnhaft“ orientiertes Handeln überhaupt nennen kann. Denn es ist sehr oft nur ein dumpfes in der Richtung der einmal eingelebten Einstellung ablaufendes Reagieren auf gewohnte Reize. Die Masse alles eingelebten Alltagshandelns nähert sich diesem Typus, der nicht nur als Grenzfall in die Systematik gehört, sondern auch deshalb, weil (wovon später) die Bindung an das Gewohnte in verschiedenem Grade und Sinne bewußt aufrecht erhalten werden kann: in diesem Fall nähert sich dieser Typus dem von Nr.2.

Carl Friedrich von Weizsäcker: Tradition und Fortschritt

„Tradition ist bewahrter Fortschritt, Fortschritt ist weitergeführte Tradition.“

Ludwig Wittgenstein: Tradition haben

„Tradition ist nichts, was Einer lernen kann, ist nicht ein Faden, den einer aufnehmen kann, wenn es ihm gefällt; so wenig, wie es möglich ist, sich die eigenen Ahnen auszusuchen. Wer eine Tradition nicht hat und sie haben möchte, der ist wie ein unglücklich Verliebter.“