Predigen als Handlung

Predigt ist die Form, in der im kirchlichen Leben Glaube meistens zur Sprache gebracht wird. Meistens betritt die Pfarrerin oder der Pfarrer etwa in der Mitte des Gottesdienstes die Kanzel und beginnt – gerahmt von Kanzelgruß und –segen – die meistens schriftlich ausgearbeitete Auslegung eines Bibeltextes vorzutragen. Meistens handelt es sich bei diesem Bibeltext um den von der Perikopenordnung für einen bestimmten Sonntag vorgeschlagenen Text. Meistens dauert der Vortrag 12 bis 15 Minuten. Meistens.

Es dürfte schwer fallen jemandem, der nicht weiß, was Predigen heißt, zu erklären, was das ist. Am einfachsten ist es wahrscheinlich, jemanden in einen Gottesdienst mitzunehmen und wenn die Predigerin die Kanzel betritt auszurufen: „Das ist jetzt die Predigt!“ Manchmal kann man auch auf vergleichbares in anderen Religionen verweisen, und zwar dann, wenn es eine ähnliche Redesituation in einer gottesdienst-ähnlichen, religiösen Versammlung gibt –zum Beispiel im jüdischen Synagogengottesdienst und im muslimischen Freitagsgebet.

Predigen ist Reden

Predigen heißt zunächst einmal: etwas öffentlich verkündigen. Wie ein königlicher Herold, der auf dem Marktplatz die neuste Botschaft des Königs verliest. So jedenfalls lässt sich der vorchristliche Gebrauch des Wortes erklären. In diesem Wortsinn sprechen auch die Evangelien vom Predigen. Die Evangelisten gebrauchen in der Regel das Wort kerysso, das dem lateinischen praedico entspricht – das wiederum die Wurzel für unser Wort „Predigt“ darstellt (oder preaching im Englischen und prédication im Französischen). So wird von Johannes dem Täufer berichtet, er habe verkündigt, die Taufe bringe Sündenvergebung. Von Jesus wiederum heißt es, er verkündigte die frohe Botschaft vom nahen Gottesreich. Nach dem Pfingstereignis beginnen die Anhänger Jesu diesen Jesus von Nazareth als den Christus zu verkündigen. Die erste uns überlieferte Predigt, nämlich die des Petrus vor der erstaunten Jerusalemer Öffentlichkeit, wird in der Apostelgesichte zwar nur als Reden bezeichnet und nicht als Verkündigen, meint hier aber das Gleiche. Das Besondere dieses Predigens: Es bringt eine unerhörte Neuigkeit zu Gehör.

Es wäre übertrieben zu sagen, davon wäre heutiges Predigen weit entfernt, aber meistens ist Predigen eben etwas anderes. Nicht unerhörte Neuigkeit, sondern Variation des schon Bekannten. Dafür gibt es durchaus gute Gründe: Noch die Predigten zum Beispiel von Petrus und Paulus, die das Neue Testament überliefert, wandten sich nicht christliche Gemeinden, sondern an Menschen, denen das Evangelium unbekannt war. Heute würde man sagen: Es waren missionarische Predigten. Anders verhält es sich bereits bei den neutestamentlichen Briefen (von denen man zum Teil annimmt, dass sie Predigten gewesen sein könnten). Ihre Adressaten waren Gemeindeglieder. Deshalb haben sie auch andere Inhalte, als missionarische Predigten: In den Briefen werden die Gemeindeglieder in strittigen Glaubensfragen belehrt und aufgeklärt; sie werden aufgerufen, dem Glauben treu zu bleiben und ermahnt, das Leben als Christinnen und Christen bewusst in einer bestimmten Art und Weise zu führen – und anderes mehr. Die Briefe variieren, ergänzen oder interpretieren das schon bekannte Evangelium. Darin ähneln sich neutestamentliche Briefe und heutige Predigten.

Predigen ist also mindestens schon einmal dreierlei: Teil des Gottesdienstes, Verkündigung und Auslegung. Zuweilen ist Predigen alles drei, zuweilen nur einer dieser Aspekte. So kann zum Beispiel ein Gastredner in einem Gottesdienst das Kanzelrecht erhalten und während des Gottesdienstes von der Kanzel aus eine Rede halten, die weder Verkündigung noch Auslegung ist, und dennoch würden die meisten Gottesdienstbesucher diese Rede als „Predigt“ bezeichnen. Hier dominiert der gottesdienstliche Ort das Predigtverständnis. Wer dieses Verständnis kritisiert, argumentiert in der Regel mit einem inhaltlichen Anspruch. Die Rede eines Evangelisten in einer Fußgängerzone wird so jemand vielleicht eher als Predigt anerkennen können – während anderen dafür der gottesdienstliche Rahmen fehlt. Und schließlich werden wieder andere in einem Vortrag über einen Bibeltext im Rahmen einer Ökumenischen Bibelwoche nichts anderes als eine Predigt sehen; andere halten dies vielleicht nur für einen informativen Vortrag aber keine Predigt.

Ulrich Nembach hat in seinem Buch „Predigen heute“ 19 verschiedene Predigtdefinitionen zusammengetragen, die sich zum Teil ergänzen, zum Teil widersprechen oder einfach nur völlig verschiedene Dinge in den Blick nehmen. Die Definitionen gehen soweit auseinander, dass es unmöglich erscheint, einen gemeinsamen Nenner zu destillieren oder eine Meta-Definition zu wagen. Nembach sieht nur zwei Tendenzen: „Einmal steht mehr das Wort des Evangeliums, einmal mehr der Mensch im Vordergrund.“ (S. 130) Ein Aspekt fehlt dabei, obwohl Nembach ihn durchaus nennt: Beim Nachdenken über das Predigen bei der Form anzusetzen. Wahrscheinlich würde Nembach diesen Ansatz darunter fassen, dass der Mensch mehr im Vordergrund steht. Aber das wird dem formalen Ansatz nicht gerecht. Wenn zum Beispiel Gert Otto Predigt als Rede versteht, so lässt sich nicht einfach sagen, ob hier das Evangelium oder der Mensch im Vordergrund steht. Das gleiche gilt für Henning Luther, wenn er über Predigt als Redehandlung nachdenkt. Es handelt sich nicht um Definitionen, sondern um Kennzeichnungen einer Betrachtungsweise: Predigt wird als Rede betrachtet. Damit ist vieles ausgeblendet, was Predigt auch und darüber hinaus ist. Aber es schärft den Blick, was der Prediger tut, wenn er predigt: Reden. Predigen ist öffentliches, christliches Reden.