Tradition und kritisches Verfahren
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Bevor ich in die Überlegungen des letzten Kapitels einsteige, will ich noch einmal auf den Gang der Untersuchung zurückblicken, um festzustellen, wo wir nun stehen. Ausgangspunkt war die These von der konservativen Aneignung des Traditionsbegriffs, die im ersten Teil der Untersuchung im Mittelpunkt stand. Auf diese Aneignung wurden die Begriffsoppositionen von Tradition und Moderne sowie Tradition und Rationalität zurückgeführt – und letztlich auch die Rede von der posttraditionalen Gesellschaft. Das Konzept der Heiligen Tradition, das vom Französischen Traditionalismus in die geisteswissenschaftliche Diskussion des 19. Jahrhunderts eingebracht (und im 20. Jahrhundert vor allem von Pieper weiterentwickelt) wurde, ist von Weber zur Konstruktion des idealtypischen Traditionsbegriffs verwendet worden. Weber ging es dabei nicht um traditionstheoretische Klärungen, sondern um die Entwicklung eines sozialwissenschaftlich brauchbaren Handlungsbegriffs. Trotzdem haben Webers Überlegungen zum traditionalen Handeln wirkungsgeschichtlich wesentlich zur Gegenüberstellung der Begriffe Tradition und Rationalität beigetragen. MacIntyre hat, unter anderem gegen einen von ihm missverstandenen Weber, versucht, auf die Traditionalität der Rationalität aufmerksam zu machen. Obwohl dieser Hinweis berechtigt ist, hat MacIntyre daraus die problematische Konsequenz gezogen, Tradition als eigenständige Form der Rationalität einzuführen. Er hat damit, wie die anderen untersuchten Autoren auch, das Naheliegende übersehen: nach der Handlung des Tradierens zu fragen und von dieser Fragestellung aus einen Traditionsbegriff zu entwickeln, der auf die Zuschreibung einer besonderen Dignität verzichten kann und mit Rationalität (und Modernität) vereinbar ist. Erste Überlegungen zu einem von der Handlung des Tradierens hergeleiteten Traditionsbegriff wurden dann im II. Teil der Untersuchung vorgenommen.
Ich hatte einleitend angekündigt, den Traditionsbegriff als Teil einer Kulturtheorie und im Blick auf seine Relevanz für die Ethik zu diskutieren. Darauf fokussierte der III. Teil der Untersuchung, indem im Rückgriff auf den vorläufig entwickelten Traditionsbegriff die Ansätze von Habermas und dem Methodischen Konstruktivismus auf ihre traditionstheoretischen Implikationen befragt wurden, und zwar zum einen hinsichtlich der jeweiligen Rahmentheorie, zum anderen im Blick auf ihre verfahrensethischen Entwürfe. Dabei konnte zweierlei festgestellt werden: Erstens rekurrieren die kulturtheoretischen Ausführungen auf einen Traditionsbegriff, auch wenn das Wort Tradition vermieden wird. Gerade Habermas hat dem Traditionsbegriff mit seiner Theorie der kulturellen Überlieferung durch kommunikatives Handeln eine zentrale Position zugeschrieben. Schwemmer hingegen hat zwar auf einen Traditionsbegriff verzichtet, aber durch die prominente Rolle, die der unerläuterte Ausdruck Kultur bei ihm spielt, ist zu unterstellen, dass auch er letztlich auf einen Traditionsbegriff angewiesen ist. Zweitens ist die in beiden Ansätzen zu entdeckende Rede von Posttraditionalität insbesondere auf Ethik bezogen und hat dabei die Funktion, den normenbegründenden Verweis auf eine religiöse Berufungsinstanz auszuschließen. Dies geschieht vor dem Hintergrund, dass beide Ansätze die Ethik als ein kommunikatives Verfahren zur Beilegung von Dissensen respektive Konflikten entwerfen. Dieser formalen Ausrichtung der Ethik würde es widersprechen, wenn tradierte Inhalte als Begründungsinstanzen zugelassen würden. Vielmehr bilden die überlieferten Inhalte den kulturellen Hintergrund eines Dissenses oder Konflikts. Das prozedurale Traditionsverständnis des kommunikativen Traditionsbegriffs expliziert hingegen, dass Tradition nicht über ihre Inhalte sondern über die Handlung des Tradierens/Akzipierens zu rekonstruieren und somit selbst als Verfahren zu verstehen ist.
Ethik als Kulturtheorie
Es gehört zu den grundlegenden Erfahrungen jedes Menschen, dass gemeinsames Leben und Handeln von Konflikten zwischen Menschen, zuweilen auch von Konflikten in einem Menschen begleitet ist. Schon in den ersten Lebensmonaten lernt ein Kind – freilich ohne darauf reflektieren zu können –, dass die Befriedigung eigener Bedürfnisse mit den Bedürfnissen etwa der Eltern oder der Geschwister kollidieren kann. Während zunächst nur das Schreien als unspezifische Äußerung von Unwohlsein und Schmerz, Frustration und dem Bedürfnis nach Zuwendung etc. möglich ist, werden in den ersten Lebensjahren mit wachsender Sprach- und Handlungskompetenz zunehmend differenziertere Äußerungsmöglichkeiten entwickelt, deren Komplexität unter anderem an individuellen Dispositionen, familiären Gepflogenheiten und schichtenspezifischen Sprach- und Handlungsschemata orientiert ist. Dabei eignet sich ein Kind zugleich eine soziale Handlungskompetenz an, das heißt, es lernt sich in seinem Handeln an anderen zu orientieren. Dieses soziale Handeln ist nicht schon ein moralisches Handeln. Auch die Einübung konkreter sozialer Handlungsanweisungen, wie zum Beispiel nicht zu lügen, sich unterhaltende Erwachsene nicht zu unterbrechen und die Schaufel nicht zum Schlagen anderer Kinder zu verwenden, hat nur bedingt moralische Qualität. Dabei sind die genannten Beispiele mit Bedacht gewählt: Aus der Sicht eines Kindes unterscheiden sich Anweisungen zu instrumentellen und zu sozialen Handlungen kaum und es gehört zum moralischen Lernen dazu, einzusehen, dass die Anweisungen andere Kinder nicht zu schlagen und mit Klebstoff sparsam umzugehen unterschiedlicher Art sind. Geht es nun um den Umgang mit Konflikten selbst, ist die Anweisung, Konflikte nicht durch den Einsatz von Gewalt zu lösen, sondern nach gewaltfreien Wegen zu suchen, alles andere als selbstverständlich, sondern muss erlernt werden.
Die Entwicklung individuellen Handelns, die sich innerhalb von Beziehungen ereignet, lässt sich in wechselseitiger Einwirkung auch auf die Entwicklung gemeinschaftsspezifischer Handlungsmuster übertragen. Sofern jedes Mitglied einer Gemeinschaft lernfähig ist und sich dieser Lernprozess nach dem Gesprächmodell durch wechselseitige Tradierungen rekonstruieren lässt, kann man verstehen, was es heißen soll, eine Gemeinschaft lerne etwas. Für komplexe Gemeinschaften Erwachsener halte ich es für das entscheidende Kriterium der angeeigneten Anweisung, Konflikte gewaltfrei zu bewältigen, wenn sie in der Lage ist Verfahren zu entwickeln, die das eigene kulturelle System reformieren können, ohne das soziale Gefüge der Gemeinschaft und die individuelle Integrität der ihr angehörenden Person zu gefährden. Individuelle Kultivierung und Kultur innerhalb von Gemeinschaften bedingen sich wechselseitig, wobei das individuelle Lernen als erinnerte eigene Erfahrung innerhalb von Gemeinschaften an die Möglichkeit der Weitergabe von Erfahrungen gebunden ist. Der Anfang von Kultur ist dann gegeben, wenn Sprach- und Handlungsschemata weitergegeben werden können. In einem solchen Fall wären wir aber nur mit einer Gemeinschaft konfrontiert, wie sie der Konstruktion einer idealtypisch-traditionalen Gesellschaft entspräche. Dass es solche Gesellschaften jemals gegeben habe, ist bereits bestritten worden: Sie sind nicht als menschliche Gesellschaften denkbar, jedenfalls nicht in dem Sinne wie wir uns selbst als Menschen verstehen, nämlich als sprechende und hörende Menschen, die erhobene Geltungsansprüche zurückweisen können.
Dieses Verständnis weicht von Habermas’ Verständnis der Kultur als einer lebensweltlichen Komponente neben Gesellschaft und Persönlichkeit. ab. Während Habermas dem phänomenologischen Gesellschaftsbegriff vorwirft, kulturalistisch verkürzt zu sein, lässt sich gegen seinen Traditions- und Kulturbegriff der Einwand einer Verkürzung auf Wahrheitsfähigkeit erheben. Denn Kultur ist für ihn Produkt der kulturellen Überlieferung wahrheitsfähigen Wissens. Verstehen wir aber erstens mit Habermas unter Gesellschaft die sozialen Ordnungen, über die die Zugehörigkeit zu Gemeinschaften und die Solidarität mit anderen Kommunikationsteilnehmern geregelt wird, und verstehen wir zweitens unter sozialer Ordnung ein Netz sozialer Handlungsregeln, das tradierbar ist, so ist Gesellschaft mittelbar tradierbar und also Teil dessen, was als Kultur ausgezeichnet werden kann. Um in diesem Zusammenhang keine Missverständnisse bezüglich des Gemeinschaftsbegriffs aufkommen zu lassen: Gemeinschaft gebrauche ich als Ersatz für Kamlahs Rede von Gruppen, Mengen und Klassen. Mengen oder Klassen von Menschen lassen sich hinsichtlich äußerer Merkmale auszeichnen: alle schwarzhaarigen Brillenträger, alle Maiers aus dem Telefonbuchgeltungsbereich 47 etc. Gruppen zeichnen sich für Kamlah dagegen durch Überschaubarkeit und Gemeinsinn (Wir-Bindung) aus. Ich hatte daran das Kriterium der Überschaubarkeit kritisiert, weil es sehr wohl ‚Mengen‘ mit Gemeinsinn geben kann. In einem ähnlichen Sinn verwende ich den Ausdruck Gemeinschaft: Dabei wird das Kriterium der Überschaubarkeit durch die Kommunikationsfähigkeit der Mitglieder ersetzt. Im Anschluss an Lutz Wingert lautet die Bestimmung daher: „Eine Gemeinschaft wird sowohl von bestimmten Gemeinsamkeiten als auch von den aktuellen Kommunikationen ihrer Mitglieder gebildet, zu denen diese Gemeinschaft verbindet.
Mit der Subsummierung der Gesellschaft unter die Kultur wird – zumindest begrifflich – ein Teil der Theorie kultureller Ausdifferenzierung umstrukturiert. Sie ist seit Weber ein zentraler Bestandteil soziologischer Modernisierungstheorien. Habermas könnte dagegen einwenden, ich fiele damit in einen vorweberischen Historismus zurück, der ja ebenfalls gesellschaftlichen Phänomene der Kultur als Obergriff subsumieren wollte. Tatsächlich verfolge ich aber eine andere Absicht. Der Ausdifferenzierungsprozess moderner Gesellschaften ereignet sich unter bestimmten kulturellen Bedingungen, unter denen Modernisierung als eigener Wert behauptet oder bestritten werden kann. Damit geschieht Modernisierung relativ zu der Kultur, in der sie sich ereignet und zwar als Erneuerungsprozess relativ zu einer älteren Kultursituation. Da die Modernisierung nicht nur systemisch an das Kriterium der Ausdifferenzierung gebunden ist, sondern sich auch innerhalb der ausdifferenzierten Teilbereiche vollzieht, wird sie zu dem einzigen Wertmaßstab, der an alle kulturellen Ausdifferenzierungen angelegt wird. Maßeinheit sind die Grade der Rationalisierung. Um diese Entwicklung kritisch bewerten zu können genügt es nicht, sich an der sozialen Ordnung zu orientieren und Fragen der Richtigkeit an den ausdifferenzierten Teil der (soziologischen) Gesellschaftstheorie zu delegieren, denn damit wird nur theoretisch umgesetzt, was bereits gemeinsame Bewertungspraxis ist. Diese Bewertungspraxis zu reflektieren ist Aufgabe des normativen Teils einer kritischen (philosophischen) Kulturtheorie: Sie bringt die wahrheitsfähigen Aussagen über die objektive Welt mit den richtigkeitsfähigen Aufforderungen bezüglich der sozialen Welt zusammen.
Die Kernfrage nun einer Ethik als kritischer Kulturtheorie ist, wie Dissense und Konflikte über Wahrheits- und Richtigkeitsansprüche ohne den Einsatz von Gewalt geklärt werden können. Unter einem Konflikt verstehe ich unverträgliche Zwecksetzungen. Einfache Beispiele für Konflikte sind: Anton und Berta wollen beide auf den gleichen Parkplatz; Carla will mit dem Aufzug nach oben, David nach unten; zwei Fußballmannschaften wollen beide Weltmeister werden. Unter einem Dissens verstehe ich Uneinigkeit in Bezug auf die Wahrheit oder Richtigkeit von Äußerungen. Ich gebe auch hierfür ein paar einfache Beispiele: Anton behauptet, er habe den Autoschlüssel Berta gegeben, Berta bestreitet das; Carla meint, man dürfe Sonntags keine Wäsche waschen, David meint, man dürfe Wäsche waschen, wann man wolle; einige Fußballfans halten es für gerecht, ein unentschiedenes Qualifikationsspiel durch eine ausgespielte Verlängerung und gegebenenfalls durch ein Elfmeterschießen zu entscheiden, andere sind der Auffassung, dass das erste gefallene Tor in einer Verlängerung das Spiel entscheidend beendet. Konflikte und Dissense sind nicht kategorial zu unterscheiden; die Übergange sind fließend. So kann zuweilen ein Konflikt auf einem Dissens beruhen (der Konflikt darüber, wo Anton und Berta ihren Urlaub verbringen gründet auf einem Dissens darüber, was Urlaub machen bedeutet). Zu betonen ist, dass Konflikte und Dissense nicht abzuqualifizieren sind. Sie sind Probleme, die sich stellen. In den Problemlösungen zeigt sich, ob sich die tradierten Praxen bewähren oder nicht.
Eine Handlungsmöglichkeit, die beim Auftreten eines Dissenses oder eines Konflikts zur Verfügung steht, ist Gewalttätigkeit. Gewalt ist ohne jede Kultur möglich – wir sprechen dann von roher Gewalt. Das bedeutet aber nicht, dass Gewalt und Kultur sich ausschlössen, oder Kultur erst dort anfinge, wo Gewalt aufhörte, denn die Kulturgeschichte ist zugleich eine Geschichte kultivierter Gewalthandlungen, in deren Verlauf Ungleichgewichte in Macht und Stärke durch die Entwicklung von Siegstrategien und Gewaltwerkzeugen sukzessive ausgeglichen wurden. Auch wenn Gewalt ohne Kultur möglich ist, bleibt Gewalttätigkeit als ein Handeln immer ein Teilbereich der Kultur, denn Gewalttätigkeit, sofern sie nicht rohe Gewalt ist, ist lern- und damit tradierbar. Dies ist von einer Kulturtheorie im Blick zu halten. Eine Ethik als Kulturtheorie bezieht aber zur Gewalttätigkeit wertend Stellung.
Auch die strategische Verwendung von Sprache lässt sich als eine Form von Gewalt verstehen – aber hier kommen wir in Grenzbereiche dessen, was noch sinnvoll Gewalt genannt werden sollte. Gewalt, Herrschaft, Zwang, Streit oder Konflikt mögen manchmal und zuweilen in polemischer Absicht synonym und der Gewaltbegriff selbst oft recht weit verwendet werden. Ich möchte hier Gewalt enger verstehen, nämliche als angedrohte oder durchgeführte Handlung, die einem Anderen physischen oder psychischen Schaden zufügt. Robert Northoff weist darauf hin, dass sich dieser Gewaltbegriff auf rechtlich sanktionierte Handlungen bezieht; Mord, Totschlag, Vergewaltigung, Missbrauch oder Körperverletzung wären Beispiele für solche Handlungen. Ich halte das rechtliche Verständnis von Gewalt in unserem Zusammenhang für sinnvoll, weil es einen weitgehenden kulturellen Konsens formuliert, was unter Gewalt verstanden werden kann: Ein Kind, das einem anderen Kind in einer Auseinandersetzung Prügel androht oder es ernsthaft verletzt, mag zwar als Rechtsperson nicht schuldfähig sein, trotzdem ist sein Verhalten etwa in Schule und Familie sanktioniert. In der Regel ist solche Gewalt nicht Selbstzweck, sondern Mittel zu anderen Zwecken. Der Gebrauch dieses Mittels mag als rohe Gewalt aus einer Neigung zur Aggression hervorgehen, kann aber auch trainiert, eingeübt und – etwa in Form einer Kampfsportart – kultiviert werden. Dabei sind die möglichen Zwecke vielfältig: Bei einem Raub ist Gewalt Mittel zum Zweck, etwas in seinen Besitz zu bringen; ein Staat kann Gewalt einsetzen, um eine bestimmte Rechtsordnung durchzusetzen; und Gewalt kann als Gegengewalt zum Zwecke der Selbstverteidigung eingesetzt werden.Gewalt stellt immer auch eine Möglichkeit dar, als Mittel zur Entscheidung eines Konfliktes zwischen mehreren Konfliktparteien eingesetzt zu werden. Das bedeutet zwar nicht unbedingt, dass Konflikte damit gelöst würden, aber es ist zuzugestehen, dass Gewalt einen Konflikt beenden kann, und sei es dadurch, den oder die Konfliktgegner durch Totschlag aus dem Weg zu räumen. Ob Gewalt ein zweckmäßiges Mittel ist, das heißt, ob Gewalt in einem konkreten Konflikt das Erreichen des Zwecks wahrscheinlich macht oder nicht, ist zunächst nur eine technische Frage. Die Einbeziehung der Möglichkeit, dass eine Gewalthandlung in der Hinsicht scheitern könnte, dass nicht ich, sondern der Gegner den gewaltsam ausgetragenen Konflikt für sich entscheiden könnte, lässt die pragmatische Frage entstehen, ob es nicht Mittel gäbe, die sicherstellen, dass egal wie der Konflikt entschieden wird, ich auf jeden Fall nicht zu Schaden komme. Mögliche Mittel wären etwa Kontrakte. Ob das Mittel der Gewalt überhaupt eingesetzt werden soll, ist dagegen eine moralische Frage; der Satz, Gewalt solle niemals Mittel zur Entscheidung von Konflikten sein, ist mithin ein moralischer Satz, der unberührt ist von der Tatsache, dass Gewalt faktisch ein erfolgreiches Mittel sein kann und historisch oft war.
Ethik und Diskurs
Was jeweils als eine Kultur in den Blick genommen wird, ist das Resultat einer (mehr oder weniger umfassenden) Rekonstruktion der sie begründenden Sprach- und Handlungstraditionen. Von Kultur lässt sich konkret allerdings nur hinsichtlich konkreter Gemeinschaften sprechen. Sobald Mengen wie etwa alle rechtlich als Bürger eines Staates anerkannten Menschen in den Blick genommen werden, lässt sich von kultureller Gemeinschaft entweder nur bezüglich bestimmter ausgewiesener Aspekte (z.B. einer geteilten Sprachpraxis) oder einem zu bestimmten Zwecken abgegrenzten System von Traditionsclustern reden. Erst wenn darüber hinaus geklärt ist, wie Kultur zugleich als gemeinsam geteiltes und in den Einzelheiten variables Konstrukt aus rekonstruierten Traditionen von Sprach- und Handlungsschemata, Sach- und Handlungswissen gebildet wird, kann die Frage erörtert werden, wie mit strittigen Geltungsansprüchen innerhalb einer solcherart rekonstruierten Kultur umgegangen werden kann.
Der Traditionsbegriff, wie ich ihn hier vorgestellt habe, ist daran gekoppelt, dass die in kommunikativen Handlungen (als Tradierungen) erhobenen Geltungsansprüche zurückgewiesen werden können – wobei diese Zurückweisung nicht unbedingt explizit geschehen muss, sondern auch eine stillschweigende Nichtanerkennung sein kann. Wenn der Akzipient ihm übergebene Sprach- und Handlungsschemata nicht bleibend in sein Handlungsrepertoire aufnimmt und bewusst oder unbewusst weiterübergibt, sei es, weil er ihnen wiederspricht, sei es, weil sie für seine Alltagspraxis keine Bedeutung haben, dann kann eine Praxis in einer Gemeinschaft an Bedeutung verlieren und gegebenenfalls ganz in Vergessenheit geraten. Weil es zur Charakteristik sprachlicher Handlungen gehört, dass die in ihnen erhobenen Geltungsansprüche zurückgewiesen werden können, und wir dann von einer Kultur sprechen können, wenn gemeinsames sprachliches Handeln möglich ist, ist das Bestehen einer Kultur darauf angewiesen, dass sie Umgangsweisen dafür entwickelt, wie strittige Geltungsansprüche zu behandeln sind. Natürlich wäre es möglich, Streitfragen durch eine tätliche Auseinandersetzung zu klären. Recht hätte dann die Position, deren Vertreter in der Lage ist, den Geltungsanspruch gewaltsam durchzusetzen und aufrecht zu erhalten. Die Folge einer solchen sozialdarwinistischen Sicht wäre aber ein instabiles kulturelles Gefüge, weil es mit jedem Wechsel der Machtverhältnisse neu strukturiert würde. Stabilität und Weiterentwicklung ist aber von einer kulturellen Kontinuierung abhängig. Die gleichermaßen moralische wie pragmatische Alternative zu nur erfolgsorientierter Gewalt als Mittel zur Beseitigung von Dissens und Konflikt sind Verständigungshandlungen. Kommunikative Handlungen, so wie Habermas sie einführt, haben nicht nur die Funktion, einen kulturell eingespielten Konsens zu erhalten und zu erneuern, sondern auch, ihn überhaupt erst zu erzielen. Damit wird in kommunikativen Handlungen sowohl Verständigung hergestellt als auch die Grundlage für gelingende Verständigung geschaffen, indem nämlich ein gemeinsam geteiltes Hintergrundwissen hergestellt wird, auf das sich die verständigungsorientiert Handelnden beziehen.
Habermas hat dieses Hintergrundwissen als Kernbestand der Kultur bezeichnet – deshalb auch die Rede von kulturellem Hintergrundwissen. Da ich den Terminus Kultur anders verwende, bin ich genötigt, auch hier eine Umdeutung vorzunehmen: Den kulturellen Hintergrund einer Gemeinschaft bilden einerseits die Systeme wahrheits- und richtigkeitsfähiger Äußerungen, auf die sich die Mitglieder selbstverständlich beziehen und die sie in ihrem Handeln und Sprechen voraussetzen. Andererseits gehören dazu die als zweckmäßig und richtig, aber auch als gut und schön ausgezeichneten Praxen. Eine lebensweltlich orientierte Kulturtheorie kann nicht darüber hinwegsehen, dass die Mitglieder von Gemeinschaften de facto wechselseitige Bewertungen ihrer Praxen vornehmen. Es gehört deshalb zum deskriptiven Teil einer Ethik, die Bewertungspraxis in einer Kultur zu erfassen. Diese Bewertungspraxis bezieht sich auf tradierte Praxen, zu denen, als Beispiele für gemeinsames Sprechen und Handeln, unter anderem kollektive Gewohnheiten, soziale Institutionen und technische und praktische Handlungsregeln gehören. Die Untersuchung dieser tradierten Praxen geschieht nicht unmotiviert, sondern wird dann nötig, wenn Diskurse an kulturellen Verzerrungen scheitern oder zu scheitern drohen. Diese Aufgabe kommt einem das Diskursverfahren ergänzenden Kulturdeutungsverfahren zu.
Mit dem veränderten Gebrauch des Wortes Kultur ergibt sich auch ein Veränderung des Verständnisses von Ethik. Habermas identifiziert Ethik mit Konzeptionen des guten Lebens. Tatsächlich fällt der Eudämonismus darunter, er ist aber nicht mit Ethik gleich zu setzen. Mein Verständnis orientiert sich an der griechischen Herkunft, dem Wort ethos respektive äthos, die beide unter anderem Gewohnheit, Brauchtum und Sitte bedeuten. Darüber hinaus macht die starke Unterscheidung von Ethik und Moral, die bei Habermas begegnet, etymologisch zunächst einmal nur wenig Sinn, weil das eine Wort ursprünglich nur die lateinische Übersetzung des anderen ist. Erst als griechisches Lehnwort wird im lateinischen ethica zum Terminus für die philosophische Reflexion der mores – und ist damit gerade nicht synonym mit eudaimonia. Ich mache von der Unterscheidungsmöglichkeit also gebrauch und verstehe unter Moral die mos resp. das äthos, also die lebensweltlichen Sitten, Gebräuche, Handlungsregeln, Normen etc., unter Ethik aber (in Anlehnung an ethos) die philosophische Reflexion auf Moral. Der Begriff der Ethik als Kulturtheorie umfasst dabei zwei Teile: einen deskriptiven, der die faktischen Bewertungen von Praxen, also die Moral, in den Blick nimmt, und einen normativen, der Rechtfertigungsfragen erörtert. Das diskursethische Verfahren ist ein Vorschlag dazu, wie Rechtfertigungsfragen erörtert werden können. Die Stärke dieses Verfahrens ist erstens, dass es die Rechtfertigung nicht dem jeweils handelnden Einzelnen überlässt – oder gar einem einzelnen oder einer Gruppe von Experten, der oder die Normen stellvertretend prüfen und rechtfertigen –, sondern denen, die von den Folgen und Nebenfolgen einer tradierten oder neu vorgeschlagenen Norm betroffen sind. Die zweite Stärke ist, das es hinreichend formal und abstrakt ist, um eine große Anzahl von Normen zu prüfen, nämlich alle Normen, die Fragen der Gerechtigkeit berühren.
Das auf Gerechtigkeitsfragen spezialisierte ethische Diskursverfahren kommt zum Einsatz, wenn Verständigungen scheitern und einfache Reparaturleistungen misslingen. Ich habe allerdings darauf hingewiesen, dass bei Habermas eine Lücke klafft zwischen dem kommunikativen Handeln und dem Eintritt in den Diskurs, weil kommunikatives Handeln als Tradieren selbst zur Erzielung, Erhaltung und Erneuerung eines Traditionskonsenses dient, dieser Traditionskonsens aber im Diskurs seinen sonst kategorischen Gültigkeitsanspruch verliert und wie ein neu erhobener Anspruch bloß hypothetisch gilt. Alles darf in Frage gestellt und muss begründet oder gerechtfertigt werden. Deshalb ist der Diskurs so problematisch, weil dadurch eine gefügte Ordnung zerbrechen könnte. Es ist die gleiche Aufgabe, die Neurath und Lorenzen als Umbau eines Schiffes auf dem Meer beschreiben. Bei Habermas stellt sich dies eher, im Bild gesprochen, als ein umzubauendes Gerüst dar, bei dem die Bauarbeiter im Gerüst an jedem Schnittpunkt die statische Funktion bewerten müssen. Im Bild wird die von Habermas angedeutete Gefahr offenkundig: Das gemeinsame Hintergrundwissen könnte zusammenbrechen. Deshalb brauchen die Arbeiter im Gerüst ein genaues Wissen über die Statik. Im Diskurs sind die Gesetze die Diskursregeln; sie sind das einzige, was für die Beteiligten noch kategorisch gelten muss, und sie werden performativ durch sprachliches Handeln bereits anerkannt.
Die Diskursregeln werden als Vernunftregeln gewonnen aus den Präsuppositionen kommunikativen Handelns: Sie werden selbst gerechtfertigt durch das, was wir als ideale Gesprächssituation voraussetzen, wenn wir alltäglich miteinander sprechen. Die Rechtfertigung des Diksursverfahrens appelliert also daran, dass die divergierenden oder konfligierenden Parteien in ihrem Sprechen bereits eine gemeinsame Praxis teilen. Problematisch ist allerdings die notwendig zugrundeliegende Annahme, kommunikatives Handeln gründe unabhängig von der jeweils gesprochenen, konkreten Sprache auf den gleichen sprachlichen Regeln, denn sie sind ja reflexiv gewonnen aus der Sprache, die wir sprechen. Wegen dieses recht schwachen Fundamentes verzichtet Habermas auf einen Letztbegründbarkeitsanspruch. Er ist mit Alexy nur aufgrund der Annahme, dass alles Sprechen unabhängig von der konkret gesprochenen Sprache ähnlich funktioniert, in der Lage, Diskursregeln zu formulieren. Die Mannigfaltigkeit individueller und gemeinschaftsspezifischer Sprachweisen wird so auf einheitliche formale Grundregeln gemeinsamen sprachlichen Handelns verdichtet. Weil dieses Fundament äußerst schwach ist, ist auch der Schritt der Universalisierung problematisch. Die Diskursregeln sind das, von dem wir wollen können, dass sie allgemeine Gültigkeit beanspruchen könnten. Hier bereits wird deutlich, dass mit den Ansprüchen der Diskursgrundsätze eine ethische Dimension erreicht ist. Vernunft- und Sittengesetz sind identisch. Erst danach differenziert sich die Vernunft in ihre technischen, pragmatischen und moralischen Untergruppen auf.
Der kommunikativ Handelnde geht von der Universalität der seinem Handeln zugrundeliegenden Diskursregeln aus – was ihm nicht bewusst zu sein braucht. Erst die reflektierende Analyse klärt den Sprecher darüber auf, dass er nach diesen Regeln bereits spricht. Daraus resultiert die Stärke des transzendentalpragmatischen Arguments. Dabei darf aber nicht übersehen werden, dass wir de facto verschiedene Sprachen sprechen: Denn wir sprechen nicht verschiedene (Ideal?)Sprachen (im Sinne idealtypischer Sprachen), sondern eine Sprache ist das, was als Aktualisierung von Sprachhandlungsschemata in einer konkreten Kultursituation möglich ist. Hieraus wird die ideale Gesprächssituation erst gebildet, und zwar angeleitet von der Unterstellung, dass der Oberzweck kommunikativer Handlungen die Verständigung ist. Zwar gibt es gute Gründe dafür anzunehmen, dass die Diskursregeln transkulturell gelten, aber im Dissensfall sind sie über das transzendentalpragmatische Argument immer wieder erneut zu rechtfertigen. Eine Diskurstheorie, die das leugnet, würde ihr eigenes Verfahren nicht ernstnehmen.n
Diskurs als entgrenzte Beratung
Zum praktischen Diskurs sind nach Habermas’ Vorstellung alle sprach- und handlungsfähigen Wesen zugelassen. Im Diskurs etwas erörtern zu können, setzt aber mehr als Sprach- und Handlungsfähigkeit voraus, zum Beispiel die Abstraktionsleistung, zu erkennen, dass ein Satz hypothetisch gelten kann. Wer nicht weiß, was es heißt, dass etwas hypothetisch gelten kann, kann unmöglich etwas als hypothetisch betrachten. Das ist aber nötig, um mögliche Folgen und Nebenfolgen einer Norm vorstellen zu können. Wir können nur wissen, welche Folgen und Nebenfolgen eine Norm hat, wenn wir sie hypothetisch erwägen können. Dadurch scheint es, als wäre der Diskurs entweder unmöglich oder nur elitär möglich. Für das diskursethische Verfahren gilt deshalb, was Hans J. Schneider über das moralische Argumentieren insgesamt sagt, dass sein Ort „das Gespräch unter erwachsenen, handlungsfähigen, voll verantwortlichen Personen mittleren Alters zu sein [scheint], die die moarlische Erziehung hinter sich und (im besten Fall) die Altersweisheit vor sich haben.
Inwiefern könnte der Diskurs als elitär missverstanden werden? Erstens wächst mit steigendem Abstraktionsniveau die Menge derer, die von den Folgen und Nebenfolgen zwar betroffen sind, sich aber im Diskurs nur noch über Advokaten äußern können. Stellen wir uns die von Gerechtigkeitsnormen Betroffenen einmal vor, so bildet sie wohl eher ein corpus permixtum denn ein auf einem egalitären Level sprachlich handelndes Gremium. Zweitens handeln die kommunikativ Handelnden im Diskurs reflektiert kommunikativ. Hier öffnet sich die Kluft zwischen kommunikativem Handeln und Diskurs. Die Bezugnahme auf die objektive, subjektive oder soziale Welt geschieht vor einem durch Tradition geteilten kulturellen Hintergrund. Ich muss mich aber nicht nur zu diesem kulturellen Hintergrund reflektiert verhalten, sondern auch zum Medium seiner Tradition: Sprache und Handlung. Andersfalls kann ich überhaupt nicht verstehen, was lösgelöst von den jeweiligen Inhalten Regeln des Diskurses sein können. Ich muss mich zu meiner Sprache und meinen Handlungen als Traditionsmedien reflektiert verhalten können. Wer dazu nicht in der Lage ist, scheint als Diskursteilnehmer trotz seines Status als Betroffener nicht in Frage zu kommen.
Selbst wenn nun das Zugeständnis gemacht würde, alle Menschen seien prinzipiell in der Lage, die notwendigen Abstraktionsschritte zu leisten und die Konzeption deshalb nicht elitär, bliebe als weiterer Einwand die Unmöglichkeit des Diskurses. Allen Betroffenen überhaupt die Möglichkeit zur Teilnahme am unbegrenzten Diskurs zu ermöglichen, stellt dabei nur ein technisches Problem dar. Gesetzt, das technische Problem wäre gelöst, stellt sich vor allem die Frage nach den Gelingenskriterien diskursiven Handelns. Für Habermas wäre dies ein erzielter Konsens: Das fraglich gewordene Hintergrundwissen konnte neu stabilisiert werden. Woher können wir aber wissen, dass alle am Diskurs Beteiligten in kommunikativer und nicht einige in strategischer Absicht gehandelt haben? Dadurch, dass Diskurs per definitionem nicht-strategisch ist? Das wäre ein recht schwacher Argumentationszug und blanker Idealismus in einem recht vulgären Sinne des Wortes.
Die Frage der Beteiligungskriterien hat Habermas nicht eingehend erörtert. Die Kriterien der Sprach- und Handlungsfähigkeit sowie die Advokatorenregelung sind aber Hinweise darauf, dass es Beteiligungsbeschränkungen gibt. Sie lassen sich aber nicht als prinzipieller Einwand gegen das Diskursverfahren vorbringen. Darin ähnelt das Diskursverfahren einem demokratischen Wahlverfahren: Der Umstand, dass Kinder nicht zur Bundestagswahl zugelassen sind, ist kein Einwand gegen das Wahlverfahren selbst. Die Beteiligungsbeschränkung hat eine Schutzfunktion für die demokratische Gesellschaft insgesamt. Ähnliches gilt für das Diskursverfahren. Wer wegen der Beteiligungsbeschränkung gegen das Diskursverfahren argumentiert, ist in der Bringschuld zu zeigen, wie eine möglichst große Anzahl an Betroffenen beteiligt und zugleich sichergestellt werden kann, dass es nicht verfahrensintern zu Verzerrungen des Ergebnisses zum Beispiel durch eine zu starke Fremdbeeinflussung kommt. Allerdings ist zuzugestehen, dass die Kriterien der Sprach- und Handlungsfähigkeit noch erläuterungsbedürftig sind, weil nicht hinreichend geklärt ist, wann Sprach- und Handlungsfähigkeit zu- oder abgesprochen werden kann.
Wichtiger in dem hier diskutierten Zusammenhang ist die Frage der Praktikabilität von Diskursverfahren. Die theoretischen Erwägungen zur Diskursethik lassen oft vermissen, dass das Diskursverfahren nicht nur ein philosophisches Gedankenspiel ist, sondern eine unter räumlichen und zeitlichen Bedingen aktualisierbare Praxis. Dieser Einwand betrifft freilich die vorliegende Arbeit in gleicher Weise. Ich will deshalb zum Abschluss meiner Untersuchungen einige theoretische Schritte hin zu einem praktischen Verständnis der Diskurstheorie machen, die zugleich verdeutlichen sollen, welche Rolle die hier vorgelegten traditionstheoretischen Erwägungen spielen. Ich schlage dazu vor, Diskurs als Unterbegriff kommunikativen Handelns zu verstehen und zunächst als argumentierendes Beraten zu rekonstruieren. Das Diskursverfahren lässt sich dann unterscheiden als ein begrenztes und als ein entgrenztes Beratungsverfahren.
(1) Diskurs als argumentierendes Beraten. Ob wir von einander lernen können, hängt nicht allein ab von der Bereitschaft, Behauptungen glauben zu schenken, Aufforderungen zu befolgen und Wahrhaftigkeit zu unterstellen, sondern vor allem davon in Argumentationen einzutreten und dabei noch das intuitiv Selbstverständlichste in Frage stellen zu lassen. In Argumentationen ist Universalität ein Geltungsanspruch, der erhoben werden kann, der aber auch kommunikativ einzulösen ist, wenn er bestritten wird. Das Schwierige an argumentativer Rede ist, dass sie zwar eine kommunikative Sondersituation darstellt, aber nur aus einem kulturellen Lebenszusammenhang heraus geführt werden kann. Mindestens mit der Sprache, in der wir argumentieren, bleiben wir einem Traditionsprozess verbunden, dem wir nicht durch bloße Willensentscheidung entsagen können. Die an Diskursen als Argumentationen Beteiligten müssen ihre kulturellen Selbstverständlichkeiten mittelbar machen können. Dazu müssen sie zunächst einmal über gemeinsame sprachliche Handlungsmöglichkeiten, und das heißt über Verständigungsmöglichkeiten verfügen können. Indem sie aber sprechen, ist performativ zugleich die Bedingung der Möglichkeit von Tradition geschaffen. Zu keinem Zeitpunkt treten sie aus Traditionsprozessen heraus und hernach wieder in sie hinein, sondern die Argumentation bleibt zu jedem Zeitpunkt Teil solcher Prozesse. Das mag in einer konkreten Argumentation unauffällig bleiben, weil die Dialogpartner sich als Sprecher und Hörer begegnen. In der Rekonstruktion erweisen sie sich aber – indem sie sprechen – performativ als Tradenten und Akzipienten, die diese Rollen wechselseitig übernehmen, und dabei nicht nur Behauptungen, Glaubenssätze, Regeln etc., sondern Argumentationsschemata als Traditionscluster tradieren.
In der Argumentationspraxis lässt sich auf idealisierende Unterstellungen nicht verzichten. Wer seinen Argumentationspartnern unterstellt, dass sie Argumenten nicht zugänglich sind, dass sie bei ihrer vorgefassten Meinung bleiben werden und statt selbst zu argumentieren suggerieren oder ähnliche strategische Handlungen ausführen, der wird sein eigenes Argumentieren einstellen – wenn er sich nicht als Don Quichote sieht, der trotz der Aussichtslosigkeit seines Unterfangens weiter gegen die Windmühlen der Einsichtslosigkeit anargumentiert. Dabei steht die Argumentationsfähigkeit, die den Mitberatenden unterstellt wird, in Relation zur zugeschriebenen Sprachfähigkeit. Einem Kleinkind, das gerade einmal grundlegende Prädikatoren gelernt hat (Papa, Mama, Hund), wird man im ‚Konfliktfall‘ nicht mit argumentierender Rede begegnen. Trotzdem lernt ein Kind irgendwann den Gebrauch argumentierender Partikel wie weil, wenn, deshalb, und es lernt dies nicht einfach so, sondern indem man sich mit einem Kind begründend und rechtfertigend berät.
(2) Diskurs als begrenzte Beratung. Die Diskursregeln verstehe ich als idealtypische Kriterien, um die diskursive Rede innerhalb der Vielfalt der kommunikativen Alltagsrede auszuzeichnen. Damit ist aber noch nichts über den Diskurs als einem Beratungsverfahren ausgesagt. Zuweilen entsteht in Darstellung und Rezeption der Überlegungen Habermas’ der Eindruck, als sei mit der Diskurstheorie das Verfahren bereits umrissen. Zunächst klärt die Diskurstheorie aber nur darüber auf, was wir tun, wenn wir argumentieren. Aus der Beschreibung der Präsuppositionen unseres Sprechens folgt aber nicht, wie wir argumentierend sprechen sollen. Diese Folgerung entspräche dem naturalistischen Fehlschluss, wobei dieser Fehlschluss, da Sprechen wie kaum ein anderes Handeln Kultur repräsentiert, eher als kulturalistischer zu kennzeichnen wäre. Da Habermas’ Diskurstheorie den Diskurs nur hinsichtlich seiner formalen Kriterien – als argumentierende Rede – bestimmt, und es versäumt, ihn innerhalb einer durch Traditionalität geprägten und von Traditionsprozessen abhängigen Lebenswelt zu verorten, ist sie zu ergänzen um Angaben darüber, was den Diskurs als Beratungsverfahren auszeichnet. Hierfür liefert der Methodische Konstruktivismus eine entsprechende Vorlage, die nicht nur die Umrisse konkreter Beratungen erahnen lässt, sondern vor allem dazu in der Lage ist, die Kluft zwischen kommunikativen Handlungen und Diskurs als Sonderfall argumentierender Rede wenigstens in Ansätzen zu überbrücken.
Die Grenze zwischen Alltagskommunikation und Begründungssprache ist in beide Richtungen durchlässig, denn sie ist eine künstlich gezogene Linie zu bestimmten Unterscheidungszwecken. Der Zweck der Grenzziehung bei Habermas ist, zwischen kulturellen Überlieferungsprozessen (der Vormoderne) und rationalen Begründungsverfahren (der Moderne) zu unterscheiden und den Lernfortschritt zwischen vormodernen und modernen Gesellschaften deutlich werden zu lassen. Weil Habermas diese gesellschaftliche Dimension im Blick hat, ist es so schwierig, aus seiner Konzeption Ansätze für die praktische Bewältigung konkreter Konfliktsituationen heraus zu destillieren. Anders das Beratungsverfahren Schwemmers, bei dem es weniger um Begründungsfragen als vielmehr um das Verträglichmachen konfligierender Zwecksetzungen geht. Zwar halte ich Schwemmers Verfahren für zu eng, weil es sich nur auf einen bestimmten Ausschnitt von Konfliktsituationen beziehen lässt, trotzdem gibt er der methodisch-konstruktiven Vorstellung Gestalt, Konflikte nicht durch Gewalt, sondern durch Rede zu lösen. Diese Rede umfasst nicht nur argumentierendes kommunikatives Handeln, sondern ist – deutlicher als die Diskurstheorie – inmitten alltäglicher Verständigungen angesiedelt. Weil an konkreten Beratungen nicht alle von den Folgen und Nebenfolgen einer Handlung und den ihr zugrunde liegenden Normen Betroffenen teilnehmen, und sie unter räumlicher und zeitlicher Begrenzung stattfinden, handelt es sich bei konkreten immer um begrenzte, vernunftgeleitete Beratungen von Gemeinschaften.
(3) Diskurs als entgrenzte Beratung. Traditionsmaterialien werden in solche begrenzte Beratungen schon allein durch eine konkret gesprochene Sprache eingebracht, haben aber weder in kritischer noch in affirmativer Hinsicht eine herausgehobene Stellung: Sie bedürfen, wie jeder andere Geltungsanspruch, der bestritten wird, einer transsubjektiv einsehbaren Begründung oder Rechtfertigung, und sie bedürfen dieser Rechtfertigung erst dann, wenn über die Gültigkeit der erhobenen Ansprüche Uneinigkeit herrscht. Unter (a) und (b) tritt Tradition vornehmlich als Traditionalität und als bleibendes Gebundensein des Diskurses (als argumentierende Rede und als begrenztes Beratungsverfahren) an Traditionsprozesse vor Augen; ihr kommt aber im Rahmen ent grenzter Beratungen eine weitere, zusätzliche Aufgabe zu.
Zunächst: Was als ein vernünftiger Grund in einer begrenzten Beratung Anerkennung findet, muss nicht von jeder Gemeinschaft mit jeder neuen Beratung neu entwickelt werden; auch Rationalitätsstandards sind Beispiele für Traditionsmaterialien. Auch wenn es in den Beratungen um aktuelle Inhalte geht, lassen sie sich mit Argumentationsschemata diskutieren, die bereits Platon in ganz anderen inhaltlichen Zusammenhängen verwendet hat. Und auch die Argumentation für oder wieder ein bestimmtes Argumentationsschema, dem Gültigkeit zu oder abgesprochen wird, hat seine Kulturgeschichte, die manchmal sogar konkreten Urhebern und Tradenten zugeschrieben werden kann: Der Einwand, jemand sei unzulässigerweise von einer Beschreibung zu einem Aufforderung übergegangen, deshalb sei sein Argument fehlerhaft, wird sich auf Hume berufen, oder in einer Verfeinerung des Hume’schen Satzes, auf Moores Kritik des naturalistischen Fehlschlusses verweisen. Und natürlich lassen sich Behauptungen durch inhaltliche Argumente begründen, die nicht in der Beratung entwickelt wurden, so etwa wenn auf das transzendentalpragmatische Argument verwiesen wird. Hume, Moore und Apel müssen dazu nicht selbst anwesend sein, um in eine Beratung hineinzuwirken. Konkrete Argumente und Argumentationsschemata lassen sich tradieren und können deshalb von denen, die diese Schemata akzipiert haben, über räumliche und zeitliche Grenzen hinweg neu aktualisiert werden.
Die in konkrete Beratungen hineinwirkenden Argumente und Argumentationsschemata sind das Produkt individueller Überlegungen oder gemeinsamer Beratungen zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort. Jede neue Beratung, die frühere Beratungsergebnisse aufnimmt, hat zeitlich bereits eine Grenze übersprungen. Das gleiche gilt bei wechselnden Orten und sich verändernder Teilnehmer. Das System der Gremienarbeit gründet darauf, dass Beratungen räumlich und zeitlich entgrenzt stattfinden können. Sofern die Beratungsergebnisse nicht nur von einer Beratungsgruppe zu einer anderen, sondern von dieser wiederum zu einer weiteren – möglicherweise in modifizierter Form – weitergegeben werden können, ist dieser Prozess bereits als Tradition rekonstruiert. Diese Form der Beratung nenne ich entgrenzte Beratung. Die entgrenzte Beratung ist ein dezentralisierter, räumlich und zeitlich entgrenzter Diskurs.
Dies lässt sich nun auf das Diskursverfahren übertragen: Weil Beratungen von Großgruppen und Mengen technisch an eine Grenze stoßen, weil nicht alle Betroffenen zur gleichen Zeit am gleichen Ort unbegrenzt lange beraten können, sind Diskurse immer nur als begrenzte Beartungen möglich. Indem aber die Beteiligten an begrenzten Beratungen Teilnehmer unterschiedlicher Beratungen sein können und auf dieser Grundlage konkrete Argumente und Argumentationsschemata – wie im Gesprächsmodell skizziert – in Großgruppen und Mengen zirkulieren, ist verstehbar, wie sich die technischen Grenzen durch Weitergabe und Tradition überwinden lassen und entgrenzte Beratungen möglich werden. Diese Entgrenzung gilt sowohl räumlich als auch zeitlich, weil sie an weit auseinanderliegenden Orten zu unterschiedlichen Zeiten stattfinden kann. Mit diesem dritten Rekonstruktionsschritt sind wir bereits nah an dem, was der poststrukturalistisch-postmoderne Discourse-Begriff beschreiben möchte. Die Zirkulation der Beratungsergebnisse schließt nach dem Gesprächsmodell der Tradition natürlich auch eine Rücküberlieferung ein: Dabei ist die Überwindung der zeitlichen Grenze natürlich nur in einer Richtung möglich. Eine spätere Beratungsgruppe kann ihre Ergebnisse zwar an eine ältere Gruppe zurückgeben, deren erneute Beratung ist aber eben eine neue Beratung. Die Rücküberlieferung stößt allerdings an eine weitere Grenze, die sich auch durch Erneuerung nicht überwinden lässt. Diese Grenze ist der Tod. Sofern einige der an entgrenzten Beratungen Teilnehmenden verstorben sind (was in der Regel dann der Fall ist, wenn ein Diskurs über mehrere Jahrhunderte hinweg geführt wird), ist die kommunikative Beziehung nur in einer Richtung möglich, nämlich indem die Lebenden hören, was die bereits Verstorbenen zu sagen hatten. Das ist der Sinn der Rede vom Hören auf ‚die Tradition‘. Was sie durch Tradition weiterhin sagen, ist aber nur ein Erheben von Geltungsansprüchen neben anderen, deren Berechtigung in den aktuellen Beratungen eingelöst werden muss.
Erst Tradition ermöglicht den Diskurs als entgrenztes Beratungsverfahren. Dieses Verfahren muss nicht erst begründet und geschaffen werden, sondern es wird von der Traditionstheorie als Kern kultureller Entwicklungen beschrieben. Die normative Aufgabe besteht darin, auf der Ebene begrenzter Beratungen Verfahren zu entwickeln und allmählich zu verfeinern, wie Dissense und Konflikte durch eine Kultur begründenden Redens gelöst werden können. Wir bedürfen einer „Kultur des Konflikts, die gleichzeitig mit der Tatsache von Verständigungshemmnissen wie der Möglichkeit gelingender Verständigung rechnet. Ethik als Kulturtheorie ist die Theorie einer gewaltlosen Konfliktbewältigungskultur. Erzielte Konsense sind dabei für Kulturen nur dann von Bedeutung, wenn sie tradierbar ist. Das ist zunächst mehr, als die bloße Lehr- und Lernbarkeit kognitiver Gehalte, weil Tradierbarkeit nicht allein auf kognitive Dispositionen möglicher Akzipienten setzt. Ein kultureller Lernschritt kann aber erst dann als vollzogen gelten, wenn es gelingt Verfahren zu entwickeln, die Traditionsprozesse methodisch so abzusichern, dass Akzipienten die jeweiligen tradita durch eigene Einsicht anzueignen in der Lage sind.
Erst Akziption erklärt den Wandel traditional konstituierter Kultur. Die kommunikative Traditionstheorie erläutert den Zusammenhang von Tradieren und Akzipieren, geht aber davon aus, dass Tradierungen als Handlungen scheitern können, wobei nicht die Intentionen des Tradenten, sondern die vollzogenen Aneignungen des Akzipienten die Gelingenskriterien für Traditionsprozesse liefern. Der Versuch, Traditionsprozesse methodisch abzusichern, bleibt immer Versuch des Tradenten, Akziptionen zu beeinflussen und zu steuern. Da die tradierten Materiale in der Regel aber nicht klar umrissene Einheiten, sondern Cluster von Traditionsmaterialien sind, bleibt es dem Tradenten unverfügbar, welche Materiale akzipiert werden. So ist mit der Akziption auch unter den Bedingungen einer modernen, westlichen Rationalitätskultur keine Einheitskultur sicher gestellt, sondern Kultur immer ein Netzwerk variierender Sprach- und Handlungstraditionen. Die kommunikative Verfahrensethik bleibt an dieser Variabilität orientiert, indem sie die Methoden der Konfliktbewältigung auf formale Verfahren umstellt. Mit dieser Umstellung hat sie die Traditionsprozesse nicht neutralisiert, sondern einen Teil ihrer Tradition formalisiert und auf diese Weise methodisch abgesichert. Sie tradiert damit einen Ausschnitt ihrer konkreten Rationalitätskultur, deren Aneignungsprozesse in global entgrenzten Diskursen sie allerdings nicht steuern kann. Darauf gilt es im Fortgang der Diskussion um Tradition, Rationalität und Moderne selbstkritisch zu reflektieren: Tradition selbst ist im Zusammenspiel von Tradieren und Akzipieren als kritisches Verfahren zur menschlichen Kultur zu begreifen, das seine Maßstäbe in entgrenzten Diskursen allmählich durch die Teilnehmenden (als Tradenten und Akzipienten) selbst entwickelt und verfeinert.