Für ein Pastoralkolleg auf Spiekeroog zur „Theologie der Wahrnehmung“ habe ich ein paar Notizen zusammengestellt. Unter der Überschrift „Kommt und seht“ ging es in dem Pastoralkolleg um eine Theologie, die in die Schule des Sehens geht. Aber auch wenn Seh-Sinn unsere Weltwahrnehmung deutlich dominiert ist „Sehen“ hier umfassender gemeint.
1. Evangelische Theologie ist absichtsvoll sinnlich beschränkte Theologie des gelesenen und gesprochenen Wortes, die sich vor allem in Sprechakten des Behauptens vollzieht. Daraus folgte über die Jahrhunderte eine zunehmend starre und verkargte Glaubenspraxis. Glauben lebt aber nicht vom trockenen Brot der Behauptung allein, sondern von allem, was Gott durch sein bloßes Wort geschaffen hat (Dtn 8,3b). Deshalb speist Glaube sich aus vielfältigen Formen der Wahrnehmung. Neben dem Hören gehört dazu das Sehen, Riechen, Schmecken und Tasten – und darüber hinaus vielleicht noch ein Sinn für das Unendliche.
2. Evangelische Theologie sollte wieder die Schule der Kunst besuchen, mit sämtlichen Unterrichtsfächern: Bildende Kunst und Literatur, Film und Theater, Tanz und Musik. Es geht dabei nicht darum, Kunstwerke theologisch zu verzwecken, sondern anzuerkennen, dass Kunst ihren Zweck zunächst in sich selbst hat. Ästhetische Erfahrungen haben eine eigene religiöse Dimension. Worüber man nicht reden kann, darüber kann man singen, malen und vieles mehr.
3. Evangelische Theologie sollte ihren „Möglichkeitssinn“ (R. Musil) üben. Dazu gehört, den Müßiggang und das Flanieren, die Pause und das Spiel als Elemente eines evangelischen Selbstverständnisses zu bedenken, weil sie die Sinne verfeinern und Erfahrungen abseits ausgetretener Pfade erlauben. Dazu gehört auch ein theologisches Denken, das Dinge probeweise kombiniert um zu schauen, welcher Sinn sich daraus ergibt – zum Beispiel durch den Essay als Predigtform.
4. Evangelische Theologie sollte eine leibhafte Theologie sein. Dazu muss sie eine moralistische und übersexualisierte Verengung des Leibbegriffs überwinden (wie sie 1. Kor 6,19f exemplarisch verlegt). Es gilt darum, mit allen Sinnen zu erfahren, was es heißt, Gott zu lieben von ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit aller Kraft (Dtn 6,5). Dazu gehört, den Menschen ohne Wertung wahrzunehmen als wollendes, begehrendes und schöpferisches Wesen. Leibhafte Theologie nimmt die Gottesebenbildlichkeit des Menschen körperlich wahr.
5. Evangelische Theologie sollte auch das Wahrnehmen selbst wahrnehmen, also nicht nur in den Blick nehmen, was ich wahrnehme, sondern dass ich wahrnehme. Dazu gehört Bedingungen, Möglichkeiten und Grenzen der Wahrnehmung zu betrachten, denn der Sinn fürs Unendliche birgt auch die Möglichkeit unendlichen Unsinns. Eine Theologie der Wahrnehmung lernt und lehrt auch das Schweigen.