Ein Gespräch mit sich selbst

Olaf Georg Klein über das Tagebuchschreiben

„Wenn man ein Tagebuch noch einmal durchliest”, schrieb einmal Truman Capote in einem Reisebericht, „dann meistens die weniger ehrgeizigen Eintragungen jene beiläufigen Zufallsnotizen, die jedoch immer eine tiefe Furche durch die Erinnerung ziehen.“ Es liegt vermutlich an dem, was man heute „Authentizität” nennt, dass gerade nicht die kunstvoll gedrechselten Worte, sondern die eher beiläufigen und noch rohen Notate viel eindrücklicher wirken. Sie erzeugen zumindest den Eindruck, dass sie die unmittelbare Situation der Niederschrift doch irgendwie mittelbar machen.

Die Rede vom „authentischen Tagebuch” zieht sich denn auch wie ein roter Faden durch Olaf Georg Kleins Buch „Tagebuchschreiben”: Das authentische Tagebuch „ist wild und widersprüchlich, unvorteilhaft oder suchend” (12), weil die Notizen nicht zur Veröffentlichung gedacht sind, sondern in einem persönlichen, geschützten Raum geschrieben wurden. So ein Tagebuchschreiben folgt keinen starren Regeln und hat keine Gesetze. Das Tagebuch kann die Ereignisse des Tages sammeln oder den Tag reflektieren. Es kann von Alltäglichem handeln oder von besonderen Ereignissen. Es kann ein Leben lang täglich geführt werden, nur sporadisch oder für eine begrenzte Zeit. Es kann eine Kombination aus diesen Dingen sein und noch ganz anderes. „Jedes Tagebuch besteht aus taubem Gestein und Goldadern. Nur können Gesteine später einmal wichtig und wertvoll werden, und das, was auf den ersten Blick glänzte, war am Ende vielleicht gar kein Gold.“ (178)

Weil Tagebuchschreiben seinen eigenen Regeln folgt, ist es schwer, eine Anleitung zum Tagebuchschreiben zu geben. Olaf Georg Klein setzt deshalb auch gar nicht auf Tipps und praktische Anleitungen. Darin unterscheidet sich Kleins Buch von Titeln wie Tristine Rainers „Tagebuch schreiben”, Christian Schärfs „Schreiben Tag für Tag” oder Rosemarie Meier-Dell’Olivios „Schreiben wollte ich schon immer”. Kleins Buch ist eher eine kleine Phänomenologie des Tagebuchs. Natürlich finden sich auch zahlreiche Anregungen für die eigene Tagebuchpraxis, aber es sind eher Impulse, als konkrete Schreibanleitungen.

Für Klein ist das Tagebuch zwar nicht auf Nützlichkeit hin angelegt, aber es hat dennoch eine Funktion: Es dient dem Gespräch mit sich selbst, der Selbsterkenntnis und Selbstklärung. Nicht das schon zu Ende gedachte wird im Tagebuch festgehalten, sondern im Schreiben kommt der Tagebuchschreiber erst zu seinen Themen und wird sich beim (Wieder-)Lesen ihrer bewusst: „Woher kann ich wissen, was ich wirklich denke, bevor ich lese, was ich schreibe?“ (26) Das Tagebuchschreiben ist, so verstanden, ein Denkinstrument und die tägliche Schreibübung eine Einübung im Erkennen, Verstehen, Einordnen und Zusammenhänge aufdecken.

Zugleich ist das Tagebuch ein Archiv der eigenen Selbstwerdung. Wir bauen permanent an unserer eigenen Person und Lebensgeschichte und konstruieren uns dauernd neu und um. Im Tagebuch führt der Schreibende sich diesen kreativen und konstruktiven Prozess selbst vor Augen: Wer bin jetzt? Wo komme ich her? Wo will ich hin? Anders als das Gedächtnis bewahrt das Tagebuch frühere Perspektiven auf sich selbst zuverlässiger auf – mit zuweilen überraschenden Erkenntnissen darüber, wer man einmal war, wie man sich einmal verstanden und wovon man geträumt hat. Tagebücher sind mithin eine „authentische Quelle und bieten die Möglichkeit der Rückbesinnung auf ein ‘Ich‘, das man einmal gewesen ist“ (165).

Klein fragt nach Schreibanlässen, nach Inhalten und der Materialität des Tagebuchs, reflektiert, was Denken mit Schreiben zu tun hat und wie das Tagebuch sich auf unser Zeitwahrnehmung auswirkt. Auch die Frage, was eigentlich mit dem Tagebuch nach dem eigenen Tod geschehen soll, wird nicht ausgespart. Diese thematische Breite erlaubt es natürlich, die vielen Aspekte nur anzureißen. Schön sind die vielen eingestreuten Zitate aus veröffentlichten literarischen (und daher wohl eher unauthentischen) Tagebüchern. Insgesamt ist das Buch eine gute Einführung ins Tagebuchschreiben. „Und wenn sich der eine oder die andere inspiriert fühlen sollte, angeregt durch diese Gedanken, Betrachtungen und Erfahrungen, selbst ein Tagebuch zu beginnen, wäre das ein nicht ganz ungewollter Nebeneffekt.” (13)

Klein, Olaf Georg: Tagebuchschreiben. Berlin: Verlag Klaus Wagenbach 2018 (189 Seiten).