Notizen zu einer nicht gehaltenen Predigt

Vier Anläufe zu keiner Predigt

Für den Sonntag Okuli im Jahr 2020 habe ich vier Anläufe gebraucht, um keine Predigt zu halten. Der erste Predigtentwurf drehte sich ums Beten. In unserem besonderen PLUS-Gottesdienst sollte als musikalischer Gast der Schoenfeldt-Chor auftreten, ein Pop-Chor aus unserer Gegend, u.a. mit dem Lied „Schick dein Gebet zum Himmel“. Die Idee war mit einem Ausschnitt aus Hape Kerkelings Rede von den „Wünschen ans Universum“ über ein modernes Verständnis von Gebet nachzudenken.

Im Lauf der Woche wurde aber allmählich klar: Angesichts der Corona-Infektionen setzen wir den üblicherweise gut besuchten PLUS-Gottesdienst aus und feiern einen einfachen Gottesdienst. Im zweiten Predigtentwurf wollte ich die vorgeschlagene Perikope (Lk 9, 57-62) daraufhin befragen, was Nachfolge in Corona-Zeiten heißen mag: Die eigenen Wünsche, Pläne und Verbindlichkeiten hinten anzustellen und alles der Frage unterzuordnen, was das Reich Gottes vorantreibt.

Meine weiteren Predigtgedanken führten mich aber absurderweise nicht zum folgerichtigen Schluss, sondern brauchten einen weiteren Schritt. Nach und nach drängte sich nämlich nun die Frage in den Vordergrund: Ist das Feiern des Gottesdienstes angesichts der Warnungen von Experten und Fachleuten nicht gerade ein Paradebeispiel für das Festhalten an eigenen (oder gemeindlichen) Wünschen, Plänen und Verbindlichkeiten? Könnte es nicht ausgerechnet das Nicht-Feiern des Gottesdienstes sein, das in dieser Situation dem Reich Gottes dient?

Statt aber nun den Gottesdienst abzusagen kam mir die grandiose Idee, das Absagen der Gottesdienste zum Gegenstand meines dritten Predigtentwurfs zu machen. Mit fiel eine Geschichte ein, die ich vor kurzem für eine anderen Predigt geschrieben hatte, unter Adaption einer indischen Geschichte:

Drei Mönche sind auf dem Rückweg zu ihrem Kloster. Sie reden über den kleinen Glauben der Menschen und die Mahnung von Engeln und Propheten: „Fürchtet euch nicht!“ Da kommt ihnen auf einem schmalen Weg hinter einem Dorf eine wildgewordene Kuh entgegen. Hinterher läuft der Kuhjunge und schreit: „Aus dem Weg! Aus dem Weg!“ Erschrocken schlagen sich zwei der Mönche in die Büsche. Der dritte lacht und sagt: „Heißt es denn nicht bei dem Propheten: Fürchte dich nicht, ich stehe dir bei!“ So stellt er sich mit ausgebreiteten Armen der Kuh in den Weg. Die walzt ihn erbarmungslos nieder.

Die beiden anderen Mönchen bringen ihren verletzten Bruder zum Abt und erzählen, was geschehen ist. Da lacht der Abt auf und sagt: „Ja, es stimmt: Gott steht uns bei. Darum müssen wir uns nicht fürchten. Aber wenn Gott uns durch Propheten, und sei es ein Kuhjunge, sagt: ‚Aus dem Weg!‘, warum hörst du auf seine Warnung nicht?“

Gott machte mich dann allerdings darauf aufmerksam, dass ich mich mit dieser Predigtidee in einen performativen Widerspruch verstricke. Gott meldete sich telefonisch bei mir in Gestalt des Kirchenmusikers, dem ich kurz zuvor die neuen Lieder für den Gottesdienst geschickt hatte: „Wollen wir wirklich den Gottesdienst feiern? Die kath. Nachbargemeinde wird auf Geheiß des Bischofs ihren Gottesdienst absagen.“ In dem Augenblick wurde ich des Umstands gewahr, dass ich mir selbst auf der Leitung stehe. Wie dumm kann man eigentlich sein? Natürlich gibt es nur eine Option: Der vierte Entwurf war daher, keinen Predigtentwurf zu machen, sondern in Rücksprache mit der Kollegin den Gottesdienst abzusagen.

Wo bleibt das Gottvertrauen?

Gut, ich gebe zu: Das hätte ich schneller haben können. Zu meiner Verteidigung kann ich anführen, dass meine Landeskirche, die EKvW, noch am Montag nach Okuli auf ihrer Internetseite empfiehlt, „Gottesdienste sollen grundsätzlich weiterhin gefeiert werden“. Mehrmals habe ich während der Gottesdienstumplanung und Predigtvorbereitung auf die Info-Seite geschielt in der Hoffnung, die Landeskirche möge mir die Entscheidung abnehmen. Aber letztlich ist es natürlich so, dass man nicht auf Behörden und Landeskirchenämter allein schauen kann, sondern auch selbst Entscheidungen treffen muss. Zur evangelischen Freiheit gehört, Verantwortung zu übernehmen, auch für die Gesundheit der Gemeindeglieder.

Statt Gottesdienst zu feiern stand die Kirche am Morgen offen. Die Kollegin und ich waren präsent, um mit denen, die dennoch kommen, zu sprechen. Um 11 Uhr – die Zeit, zu der bei uns in Regel etwa das Vaterunser gesprochen wird – habe ich ein Vaterunser in der Kirche gesprochen und dazu die Vaterunser-Glocke geläutet.

Vor der Tür gab es ein paar Gespräche mit den wenigen, die gekommen waren, um zu schauen, ob Gottesdienst ist. Die meisten hatten damit gerechnet, dass die Feier des Gottesdienstes ausfällt. Alle hatten Verständnis. Dennoch tauchte in den Gesprächen eine Frage auf: „Wo ist eigentlich unser Gottvertrauen?“

Mir fiel dazu die Geschichte ein, die ich in der nicht-gehaltenen Predigt erzählen wollte. Ja, es stimmt: In der Bibel wird immer wieder Mut gemacht, zu vertrauen. Aber das passiert in der Regel doch in einer Situation der aktuellen Bedrohung. Mein Vorschlag: Gottvertrauen als Gelassenheit verstehen und in einer bedrohlichen Situation nicht den Kopf zu verlieren. Gottvertrauen heißt nicht, die Warnungen in den Wind zu schlagen, sondern nicht kopflos zu werden durch Sorgen, Befürchtungen und Ängste.

Und da meine Gesprächspartnerin auf den beliebten Taufvers verwies, Gott habe doch seinen Engeln befohlen uns zu behüten, fiel mir ein: Es ist eine geradezu teuflische Strategie, im Gewand der Frömmigkeit zu Gottvertrauen zu ermahnen und Menschen damit in eine Gefährdungssituation zu locken. Matthäus und Lukas erzählen davon, wie der Teufel Jesus auf das Jerusalemer Tempeldach stellt, und ihn im Verweis auf den Psalmvers dazu verleiten will, sich in die Tiefe zu stürzen. Jesus geht nicht in die teuflische Frömmigkeitsfalle, sondern weist das Ansinnen zurück: „Du sollst den HERRN, deinen Gott, nicht versuchen.“ Nicht die Ignoranz gegenüber Expertenempfehlungen, sondern Gelassenheit zu bewahren zeigt Gottvertrauen.

Ein Lob des seriösen Journalismus

Eine andere Gesprächspartnerin fragt: „Ist das wirklich alles so schlimm?“ – Nun, ich bin kein Arzt und erst recht kein Virologe. Aber alles, was ich in den Zeitungen lese und in den Nachrichten höre, weist für mich nachvollziehbar darauf hin: Wir sind erst am Anfang einer weltumspannenden Krise. Als meine Gesprächspartnerin erwiderte, sie lese grundsätzlich keine Zeitung und schaue keine Nachrichten, machte mich das für einen Augenblick sprachlos.

Ja, ich weiß: Zeitungen haben massiv mit Leserrückgang zu kämpfen. Seriöse Nachrichten haben es im Fernsehen schwer. Aber zeigt nicht gerade eine Situation wie diese, wie wichtig verlässliche Informationen sind? Und: Nein, Whatsapp und Facebook sind keine verlässlichen Quellen. Doch, ich finde das Internet ist auch ein Segen, gerade in dieser Situation. Aber nicht alle Meldungen sind gleich viel wert. Und ich lese in diesen Tagen auch von Freunden und guten Bekannten merkwürdige Tipps. Aber ich glaube dem Robert-Koch-Institut einfach mehr, wenn es sagt, dass es keinen Schutz gegen das Virus gibt: Weder Knoblauch noch heißes Wasser noch Atemübungen helfen gegen eine Infektion. Wir können nur versuchen, Infektionen zu verhindern, indem wir die Kontaktwege unterbrechen.

Meine Gesprächspartnerin sagte, sie hätte keine Angst vor einer Infektion. – Nun es geht nicht um meine Angst vor eine Infektion. Eigentlich geht es gar nicht um mich. Das Problem ist nicht, dass ich mich anstecken könnte. Das Problem ist, dass ich vielleicht schon infiziert bin, aber aufgrund einer guten Konstitution keine oder kaum Symptome zeige, sie dennoch aber anstecke. Und sie steckt ihre Kinder an und die stecken die Tante an, die gerade zwar erfolgreich eine Krebserkrankung überstanden hat, aber noch zu geschwächt ist, um es jetzt mit Corona aufzunehmen.

Zeitungslektüre und Nachrichten haben mir deutlich gemacht: Anders als zunächst gedacht ist das Corona-Virus doch schlimmer als die saisonale Grippe. Grafiken machen mir deutlich, was das Problem eines exponentiellen Wachstums ist. Ja, ich weiß: Der Witz ist alt, dass ich deshalb Theologe geworden bin, weil ich so schlecht in Mathe war. Zum Glück gibt es aber Leute, die gut darin sind. Es gibt Ärzte und Wissenschaftler, die wissen wovon sie reden. Und es gibt Journalisten – Gott sei es gedankt! – die einem Menschen wie mir zu verstehen helfen, was mit dem sog. gesunden Menschenverstand nicht zu begreifen ist. Ich befürchte, es ist schlimm und wird noch schlimmer. Aber ich bin gleichzeitig zuversichtlich – darüber habe ich gerade erst gepredigt – dass auch am Ende dieser Passionszeit Ostern steht.

Über die Lügen der Tröster

Nach den Gesprächen an der Kirchentür bin ich mittags in der milden Märzsonne Laufen gewesen. Das kann man ja wunderbar und gefahrlos alleine machen. Dabei kreisten meine Gedanken natürlich weiter um die Statt-Predigt-Gespräche an der Kirchentür. Nach und nach glitten die Überlegungen weiter in Richtung einer Predigt, die ich so nie hätte halten können. Es sind Punkte, über dich ich seit einiger Zeit verstärkt nachdenke.

Meine Gedanken kreisen, wie so oft in letzter Zeit, um Schleiermachers Religionsverständnis als „Anschauung“ und „Gefühl“. Schleiermacher behauptet, Religion sei ein gegenüber Moral und Metaphysik notwendiges und unentbehrliches Drittes: „Sinn und Geschmack fürs Unendliche“. Wir Menschen stehen dem unendlichen Universum dabei nicht metaphysisch reflektierend gegenüber, sondern in der Betrachtung greift in uns die Erkenntnis Raum, Teil eines großen Ganzen zu sein. Es kann dann diese besonderen Situationen gegeben, in denen aus der Wahrnehmung der Welt im Bewusstsein etwas in uns in Schwingung gerät und Bewusstsein und Welt einen Gleichklang erzeugen. Hartmut Rosa nennt das „Resonanz“. Religion klingt so nach etwas sehr Erhabenem.

Während ich im gemächlichen Laufschritt über die Pflaumenallee trottete, fiel mir aber ein: Es gibt doch nicht nur diese erhabene Weltbeziehung, sondern auch Religion als einen Abstand zur Welt. So hat das Henning Luther bezeichnet. Auch das ist eine Weltbeziehung, bei der aber etwas in die Welt, in den gewohnten Alltag, die gewöhnlichen Abläufe einbricht.

An der Stelle merkte ich, wie laufend der Ärger über meine Landeskirche wieder hochkochte. Meine Präses schrieb mir allen Ernstes vor dem Gottesdienst eine Mail, in der sie sagte, Gottesdienst sei ein ebenso wichtiges und sinnvolles Angebot wie die Aufrechterhaltung des öffentlichen Nahverkehrs und des Lebensmittelhandels. Ja, ich weiß: Der Mensch lebt nicht vom Brot allein. Aber mich ärgerte der Vergleich und das gebetsmühlenartig wiederholte „Gottesdienst ist eine Quelle von Trost und Zuspruch“. Ist es nicht genau das, was Henning Luther als „Lügen der Tröster“ kritisierte?

Religion steht in der Spannung zwischen Welterfahrung und Weltdeutung. Natürlich arbeiten wir uns als Theologinnen und Theologen an dieser Spannung ab und versuchen zu entspannen. Aber vielleicht geht Religion gerade nicht in Trost und Zuspruch auf, vielleicht ist sie gerade nicht Sinnstiftung und die Bewältigung all dessen, was übermächtig in unser Leben einbricht. Schleiermacher meint, Anschauung und Gefühl hingen insofern zusammen, als jede Anschauung mit einem Gefühl verbunden ist: umso stärker das Gefühl desto stärker die Religiosität. Das Gefühl, dem unendlichen Universum ohnmächtig gegenüber zu stehen, ist vielleicht gerade das zentrale religiöse Gefühl – und jeder Versuch einer Vertröstung der Versuch, emotional handhabbar zu machen, was nicht zu handhaben ist.

Ein kategorische Imperativ für Coronazeiten

Als ich von den Höhen der Beckumer Berge (so nennen die Leute hier einen grade mal 175m hohen Hügelzug) langsam wieder in der Niederungen des Wersebachlaufs kam, nahm ich schnell wieder Abstand von dem Gedanken „Das würde ich gerne mal predigen“ und dachte mir: Vielleicht mache ich daraus einen Blogbeitrag: „Notizen über eine nicht gehaltene Predigt“.

Auf den letzten Meter fiel mir dann aber doch noch etwas predigttaugliches ein – auch wenn es im Widerspruch stand zu allem, was ich gerade über Schleiermacher gedacht hatte. Natürlich geht Religion auch nicht in moralischen Empfehlungen auf. Schleiermacher meint, religiöse Gefühle würden „wie eine Musik alles Tun des Menschen“ begleiten. Wenn Schleiermacher Religion von Moral abgrenzt, lehnt er aber Moral nicht ab. Im Gegenteil: Natürlich soll der Mensch moralisch handeln, aber nicht aus religiöser Motivation, sondern mit religiöser Begleitmusik. Denn wo der Mensch nicht aus sich selbst heraus, sondern von außen bestimmt handelt, gerät er in Gefahr, Wert und Würde zu verlieren, die darin bestehen „ein freier, durch eigene Kraft tätiger Teil des Ganzen“ zu sein. Womit ich wieder beim Anfang angelangt war, ob nicht die Landeskirche mir eine Entscheidung hätte abnehmen können.

Mir fiel Kant ein, von dem Schleiermacher sich ja eigentlich absetzt, und ich dachte: Vielleicht könnte ein kategorischer Imperativ für Corona-Zeiten lauten: „Handle stets nach dem Grundsatz, nicht dass du gefährdet, sondern dass du eine Gefährdung für andere sein könntest.“

Und nach dem Dehnen erstmal Duschen.