Reden über die Religion 1

1799 wendet sich Friedrich Schleiermacher anonym mit fünf „Reden“ an gebildete Religionskritiker. Eigentlich sind es keine Reden, sondern fünf Kapitel einer Abhandlung oder eines Essays über ein frühromantisches Religionsverständnis. Erst gut vier Jahre nach der ersten Veröffentlichung hat Schleiermacher offen zugegeben, der Autor der Reden zu sein. In den Jahren danach hat es mehrere Überarbeitungen gegeben.

Ich wage hier mal den Versuch, meine Lektürenotizen im Zusammenhang zu veröffentlichen. Grundlage ist die Ausgabe von 1799 in der Fassung aus dem Felix-Meiner-Verlag. Den „Ich“Stil der Reden behalte ich bei, um nicht „über“ die Reden zu reden, sondern die Reden quasi als Kurzfassung in einer im Zusammenhang lesbaren Form reden zu lassen. Weil ich kein Schleiermacher-Experte bin, ist das natürlich mit Vorsicht zu genießen. Wer mag, kann mir gerne per Mail oder Mastodon kritische Rückmeldung geben. Vor ein paar Tagen habe ich was zum Hintergrund dieses Projekts geschrieben

Los geht es mit der 1. Rede, der „Apologie“.

Apologie

Religion ist noch nie „jedermanns Ding“ (1) gewesen und nur wenige haben wirklich verstanden, was Religion ist. Heutzutage ist vor allem den Gebildeten Religion fremd geworden. An ihre Stelle sind Weisheitslehren, Kunst und Wissenschaft getreten. Das eigene Leben ist reich genug, dass man keine Ewigkeit mehr braucht. Vor allem auf Pfarrer und Priester mag niemand mehr hören; sie haben alles Vertrauen verspielt. (3) Und trotzdem soll hier von Religion geredet werden.
Merkwürdig ist, dass man heute in allen möglichen Dingen auf Fachleute vertraut, nur nicht in Fragen der Religion. Ich gehöre selbst diesem merkwürdigen Club an, obwohl man das meiner Sprache kaum anmerkt. Wenn ich über Religion reden will, dann weder um über den angeblichen „Untergang der Religion“ (4) zu jammern, noch um zu alten religiösen Vorstellungen zurückzukehren. Ich will als „Mensch … von den heiligen Mysterien der Menschheit reden“, und zwar nicht, weil es mein Beruf ist, sondern weil es mich innerlich dazu drängt.
Alles Leben ist bestimmt durch den Gegensatz von Aneignung und Abstoßung: Entweder saugen wir auf, was uns umgibt, und verweben es mit unserem Leben oder wir drücken aus, was in uns ist, und wollen es der ganzen Welt mitteilen (6). Für die eine Seite steht das Begehren und Genießen von konkreten Erfahrungen im Mittelpunkt, die aber beschränkt ist auf das Einzelne und Besondere und dabei den Zusammenhang außer Acht lässt (heute würde man vielleicht von Empirismus sprechen). Auf der anderen Seite steht ein spekulativer Idealismus (10) mit seiner grenzenlosen Sehnsucht, das eigene Selbst auszudrücken und das Große und Ganze der Welt mit eigenen Gedanken zu durchdringen, wobei aber das Einzelne und Konkrete vernachlässigt wird. Beide Aspekte kommen bei den Menschen natürlich in unterschiedlichen Ausprägungen und Mischformen vor.
Was es braucht, sind Vermittler zwischen diesen beiden Extremen (10), die den beschränkten Menschen und die unendliche Menschheit zusammenbringen. Diese Vermittler sind die „wahren Priester“ (12), die die Gegensätze zusammenbringen und die „geistigen Geheimnisse“ verkündigen. Die Hoffnung ist, dass es eines Tages keine Vermittlung mehr braucht, weil alle unmittelbaren Zugang zu diesen Geheimnissen haben. Wer von Religion spricht, kann das nur in aller Demut tun, weil er über das spricht, was er selbst erfahren und erlebt hat (14). Man lernt Religion nicht durch heilige Bücher (15). Will man die beiden Positionen national verorten, so kann man nach England schauen, wo der Empirismus seine Heimat hat (16), oder nach Frankreich, wo die idealistische Aufklärung in die politische Barbarei führte (17). Das gemäßigte Deutschland ist daher ein guter Ort für einen Mittelweg (18).
Die Gebildeten könnten nun auf die einfachen Leute verweisen, bei denen man es ganz gut findet, dass sie durch religiöses Reden etwas von Sittlichkeit, Recht und Freiheit erfahren (18), während sie religiösen Glauben sonst als altmodisch und überwunden ansehen. Darum kann es aber nicht gehen, denn Religiosität ist in jedem Menschen angelegt (19f). Genau das soll mit den Reden gezeigt werden. Es geht dabei nicht um eine konkrete Religion (wie das Christentum), sondern um das Wesen der Religiosität selbst. Wenn Religionsverächter meinen, Religion sei im Kern Furcht vor einem höheren Wesen und Glaube ans Jenseits (21), so muss man eigentlich zurückfragen, wie jemand auf diese Idee kommt. Zwar gibt es entsprechende Einzelbeispiele für solche Religiosität, aber es das sind nur kontingente Erscheinungs- und Randformen. Sie entsprechend nicht dem, was Religion im Kern ausmacht. Bevor die Religionskritiker also Religion beurteilen können, müssen sie zunächst einmal zuhören, was denn ihren Kern ausmacht (24f). Auch in den kritisierten, hochtheologischen Systemen ist von Religion keine Spur zu finden (26). Die Kritiker suchen an den falschen Stellen. Fündig würden sie dort, wo ein „himmlischer Funke“ auf die Erde fällt und „eine heilige Seele vom Universum berührt wird“ (30).
Die Forderung ist daher: Seht doch mal ab von allem, was ihr normalerweise unter Religion versteht und betrachtet diesen inneren Anfangspunkt. Genau das soll in den Reden aufgezeigt werden. Ohne auf argumentative Tricks zurückzugreifen, wie jene, dass Religion notwendig ist, um Moral (Sittlichkeit) oder Recht zu begründen (31;34), soll gezeigt werden: Religion ist „eine eigene Provinz im Gemüte“ (37), ein eigener Bereich der Persönlichkeit (bzw. des Selbstwusstseins).

[Weiter zur 2. Rede „Über das Wesen der Religion“]