Religiöses Bewusstsein

Im Zuge der Auseinandersetzung mit David Buttrick habe ich mir nach vielen Jahren Friedrich Schleiermachers „Reden über die Religion“ wieder einmal vorgenommen. Mich hat dabei v.a. interessiert, wie Schleiermacher mit den Begriffen des Bewusstseins und des Subjekts umgeht. Obwohl Schleiermacher der bedeutendste Theologe des 19. Jahrhunderts war, kannte ich ihn bis zum Studium nicht. Das geht vielen außerhalb der Theologie so, wie ich immer wieder feststelle.

Vor allem das Frühwerk „Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern“ hat mich damals angesprochen. Seitdem ging es mir dabei wie bei einem vor Jahren gelesenen Roman, mit dem sich eine bestimmte Stimmung verbindet, ohne dass ich den Inhalt nacherzählen kann. Nur die üblichen Stichworte blieben im Gedächtnis. Aber irgendwie inspirierte das Buch mich untergründig weiterhin. Jetzt, beim Wiederlesen, haben ich auch gemerkt, warum: Schleiermacher denkt mit großer Kühnheit über Religion nach, ohne sich an dogmatischen Richtigkeiten zu orientieren. Dabei gibt es eine merkwürdige Spannung zwischen einer großen Frömmigkeit und einer geradezu häretischen Offenheit.

Schleiermacher gilt als Vater des später so genannten „Kulturprotestantismus“ und die „Reden“ haben daran einen wichtigen Anteil. Vom Kulturprotestantismus grenzt David Buttrick sich entschieden ab. Das ist einer der wichtigen Unterschiede zwischen beiden. Ich würde sagen: Weil Buttrick den Punkt nicht richtig trifft, aber das ist eine andere Diskussion. Bei allen Unterschieden zwischen Buttrick und Schleiermacher lässt sich zwischen beiden Ansätzen durchaus eine „phänomenologische“ Linie ziehen. Ich will das im Folgenden kurz andeuten. Diese Notizen erheben keinen wissenschaftlichen Anspruch: Es sind eher Assoziationen, die ich später gerne vertiefen würde.

Schleiermacher wurde 1768 geboren. Als die Reden über die Religion 1799 erschienen, war Schleiermacher also noch keine 30 Jahre alt. Natürlich hat sein Denken sich ab 1800 verändert und weiterentwickelt. Natürlich kann man Schleiermacher nicht als Phänomenologen bezeichnen. Aber es gibt einige Aspekte in Schleiermachers Denken, die mit der Phänomenologie verwandt sind: Subjektorientierung, Religionsphilosophie, Hermeneutik, Theorie der Wahrnehmung, Bedeutung des gelebten Lebens oder Pädagogik sind Felder, auf denen sich Schleiermacher und das spätere phänomenologische Denken treffen.

Schleiermacher betonte, dass religiöse Erfahrung im subjektiven Erleben gründet und hat seine Zweifel daran, inwiefern diese Erfahrung objektivierbar und damit z.B. lehrbar ist. Dadurch unterstreicht Schleiermacher die Bedeutung der religiösen Erfahrung und des Gefühls als zentrale Elemente des Glaubens. Als Hermeneutiker ist Schleiermacher daran interessiert, wie Sprache und Kommunikation mit dieser Erfahrung zusammenhängen und damit verstehbar machen.

David Buttrick kritisiert an der Romantik, für die Schleiermacher steht, eine Flucht in die Subjektivität. Aber diese Kritik streift Schleiermacher nur und wird dessen Position nicht ganz gerecht. Ja, Religion ist für Schleiermacher das „Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit“ (so Schleiermacher in seiner Glaubenslehre). Aber der Begriff des „Gefühls“ ist bei Schleiermacher aber nicht ganz deckungsgleich mit unserer heutigen Verwendung. Wir würden heute eher von einem Bewusstsein vollkommener Abhängigkeit reden. Wichtig bei Schleiermacher ist, dass es ein Selbst bzw. ein Subjekt gibt, das dieses Bewusstsein hat und diese Abhängigkeit wahrnimmt und dass dieses Bewusstsein auf etwas ausgerichtet ist, von dem das Selbst sich als vollkommen abhängig erfährt: das Universum – was für Schleiermacher nahezu gleichbedeutend ist mit „Gott“.

Die Abhängigkeit kann man dabei so verstehen, dass das Subjekt sich als Teil des Universums versteht. In einer Formulierung, die Schleiermacher kurz vor den Reden notiert, heißt es:

„Subiekt, Obiekt und Subiekt-Obiekt als Betrachtungsarten des Ich sind nur Kategorien der Anwendungen von Eins Vieles und Alles.“

Religion ist mithin das, was bei Schleiermacher die Subjekt-Objekt-Spaltung überwindet, indem das Subjekt nicht nur das Viele als Objekt wahrnimmt, sondern sich selbst als Teil von allem. Buttrick kritisiert am romantischen Subjektivitätsbegriff, dass dieser auch sprachlich nur auf das Ich-Bewusstsein zielt, nicht auf ein Wir-Bewusstsein. Allerdings ist gerade die Gemeinschaft für Schleiermacher zentral für sein Religionsverständnis. Das ist Gegenstand der vierten Rede: Religion zielt nachgerade auf Gemeinschaft, einen „Chor von Freunden“ und einen „Bund von Brüdern“, die sich miteinander als Teil eines großen Ganzen verstehen.

Religion als Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit ist grundlegend subjektiv und die Anschauung der Unendlichen, die für Schleiermachers Religionsbegriff zentral ist, sich je nach Betrachtung ändert, jedem aus seiner Perspektive anders erscheint. Aber Schleiermacher bleibt eben nicht nicht bei einer beschränkten Subjektivität, sondern die Vielfalt der Perspektiven auf das Ganze erlaubt so etwas wie Objektivität – nur das diese Objektivität eben nicht vorgibt, die ganze Wahrheit zu kennen. Auch hier gibt es eine Schnittstelle zur Phänomenologie und zu Buttrick.

Das wird gerade in der fünften Rede über die Religion deutlich: Hier wendet sich Schleiermacher gegen den aufklärerischen Versuch, eine Art natürliche Religion zu beschreiben, die Religion auf ihren rationalen Kern reduziert und sich einen „Gott der Philosophen“ erdenkt, der qua Vernunft erkennbar ist. Schleiermacher grenzt sich deutlich von Versuchen einer natürlichen Vernunftreligion ab. Religion lässt sich für ihn nicht abstrakt bestimmen, sondern nur erfahren in seinen vielfältigen Erscheinungsformen, d.h. in der Vielzahl der empirischen, „positiven“ Religionen.

Kernidee des christlichen Glaubens ist für Schleiermacher die Freiheit. Getreu dem paulinischen Motto alles zu prüfen und das Gute zu behalten eignet sich das Christentum als „Religion der Religionen“ religiöses Denken an: „Das Prinzip ist echt christlich, solange es frei ist“. Weder der biblische Kanon, noch die Dogmatik, noch die historische oder gegenwärtige Kultur bestimmt, was christlicher Glaube ist.

In ähnlicher Weise versteht Buttrick seine Homiletik als eine Befreiung der Predigt aus „biblischer Gefangenschaft“, innerkirchlicher Bindung und historischer Kultur. Im Gegenteil: Christlicher Glaube ist Kulturkritik (bei Buttrick) oder inner- wie außerkirchliche Polemik im Sinne einer Differenzierung (bei Schleiermacher).

Subjektivität, Perspektivität, wahrnehmendes Bewusstsein und Hermeneutik bilden für mich die Übergänge zum phänomenologischen Denken und zu David Buttrick. Vielleicht ist das zunächst nicht mehr als eine steile Hypothese, die Schritt für Schritt zu überprüfen wäre. Hier kann ich die Idee nur skizzieren. Der nächste, waghalsige Schritt ist, die fünf Reden über die Religion in möglichst einfacher, gegenwärtiger Sprache widerzugeben. Das ist riskant, weil ich vielleicht ein Schleiermacher-Fan, aber kein Experte bin und vielleicht mit manchen Interpretationen daneben liege. Wer mag, kann mir gerne Korrekturvorschläge für meine zusammenfassenden Formulierungen schicken.

Hier ist eine Übersicht über die Titel der fünf Reden, die ich in den nächsten Wochen mit meinen Zusammenfassungen verlinken werde:

  1. Apologie
  2. Über das Wesen der Religion
  3. Über die Bildung zur Religion
  4. Über das Gesellige in der Religion oder über Kirche und Priestertum
  5. Über die Religionen

Ich verwende die Ausgabe:
F.D.E. Schleiermacher: Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, Hamburg: Felix Meiner 1958 (Nachdruck 1970).