Schleiermachers zweite „Rede“ über die Religion ist die längste und am häufigsten zitierte Rede. Schleiermacher entwickelt hier sein besonderes Religionsverständnis als einem dritten, eigenständigen Bereich neben Ethik und Metaphysik. Nach der einleitenden „Apologie“ legt Schleiermacher hier seine Kernbegriffe vor.
Über das Wesen der Religion
Das Problem mit der Religion ist, dass sie in reiner Form kaum zu finden ist. Religion befasst sich, wie Metaphysik und Moral, mit dem Universum und der Stellung des Menschen zum Universum (41). Da sie sich mit dem gleichen Gegenstand befassen, sind Elemente aus Metaphysik und Moral in die Religion eingedrungen, während umgekehrt Religion das metaphysische und moralische Denken beeinflusst. Was Religionskritiker bekämpfen, ist diese seltsame Mischung aus Metaphysik und Moral, die sie für Religion halten (44): z.B. die Beschäftigung mit Göttern und deren Willen. Das aber ist eben Religion im Kern gerade nicht. Zunächst muss also geklärt werden, worüber wir überhaupt reden, wenn wir von Religion reden.
Das „Wesen der Religion“ ist allerdings „weder Denken noch Handeln, sondern Anschauung und Gefühl“ (50, vgl. 66). Religion ist ein gegenüber Moral und Metaphysik notwendiges und unentbehrliches Drittes (52): „Praxis ist Kunst, Spekulation ist Wissenschaft, Religion ist Sinn und Geschmack fürs Unendliche.“ (52f) Der Mensch steht dabei dem Universum nicht reflektierend gegenüber, sondern gewinnt in der Anschauung die Erkenntnis, Teil des Universums zu sein (54, insbes. 55: „Anschauen des Universums … ist der Angel meiner ganzen Rede“). Das Nachdenken über Gott und Götter und was sie sind und wollen, gehört nicht zum Kern der Religion, sondern mündet in „leere Mythologie“ (56). Religion hält bei der unmittelbaren Erfahrung inne (58), für sie ist das Einzelne und Besondere entscheidend, nicht das Allgemeine (60), und dabei zählt jede einzelne individuelle Erfahrung. Das heißt: Wer wirklich religiös ist, ahnt, dass das, was ihn religiös anspricht, von einem anderen ganz anders und doch auch religiös wahrgenommen werden kann (62). Streit und Krieg gibt es in der Religion dann, wenn Moral und Metaphysik mit hinein spielen (63).
Anschauung und Gefühl hängen insofern zusammen, als jede Anschauung mit einem Gefühl verbunden ist (66): Umso Stärker das Gefühl, desto stärker die Religiosität (68). Diese religiösen Gefühle begleiten „wie eine Musik alles Tun des Menschen“ (68). Durch die Abgrenzung der Religion von der Moral wird Moral natürlich nicht abgelehnt. Im Gegenteil: Natürlich soll der Mensch moralisch handeln, aber nicht aus religiöser Motivation. Es ist vielmehr so, dass Religion das Handeln begleitet. Wo der Mensch nicht aus sich selbst heraus, sondern von außen bestimmt handelt, gerät er in Gefahr, Wert und Würde zu verlieren, die darin bestehen „ein freier, durch eigene Kraft tätiger Teil des Ganzen“ zu sein (71).
Die Unterscheidung von Anschauung und Gefühl ist dabei zwar methodisch notwendig (72), darf aber nicht ihren Zusammenhang aus dem Blick verlieren: Ohne Gefühl ist Anschauung genauso wertlos wie Gefühl ohne Anschauung (73). Der Augenblick, in dem Anschauung und Gefühl noch eins sind, ist der nicht machbare Ursprung und Höhepunkt der Religion (75). Der Versuch, Religiosität durch auswendig gelernte Anschauungsformeln oder durch nachgeahmte Gefühle zu erzeugen, wird erfolglos bleiben. Daraus entsteht ebenso wenig eine lebendige Religiosität, wie aus der reinen Naturerfahrung, die allenfalls an religiöse Gefühle heranführt. Natürlich ist die Naturerfahrung beeindruckend, aber das überwältigende Gefühl der Größe und Vielfalt der Welt ist doch eher eine kindliche Weltsicht. Bedeutender schon ist die Einsicht in die Naturgesetze und die Weise, wie die Welt geordnet ist. Allerdings ist es hier oft, als würde man einen kleinen Ausschnitt eines Kunstwerks als das Kunstwerk betrachtet, da es bei dem Gesamtwerk doch noch viel mehr zu entdecken gäbe (83). Das entscheidend religiöse Gefühl stellt sich dagegen erst da ein, wo die Gesetze des Universums begriffen werden – Entstehen und Vergehen als ewiges Spiel, Liebe und Abneigung, Individualität und Einheit – durch sie ist der Betrachter hineingewoben in die Welt und erkennt, wie alles „von der Gottheit durchdrungen und Eins“ ist (87).
Die Begriffe Liebe und Abneigung, Individualität und Einheit verweisen allerdings auf einen höheren Grad der Religiosität, als Natur und Naturgesetze liefern können. Diese Begriffe stammen nämlich aus dem inneren Erleben eines Menschen und werden nur auf die Weltbeziehung übertragen. Entscheidend für das religiöse Gefühl ist daher die Entdeckung der Menschheit im anderen Menschen (88). Entscheidend ist die Liebe: In der Menschheit „finden wir den Stoff für die Religion“ (89). Es geht allerdings nicht um den einzelnen Menschen, der nie dem Ideal eines Menschen entsprechen wird – so bleibt man nur im moralisierenden Denken hängen – sondern um die Entdeckung, dass jeder einzelne Mensch unverzichtbarer Teil der ganzen Menschheit ist. Das ist die religiöse Perspektive. Was es braucht, ist ein Mittler zwischen dem beschränkten Blick auf den Einzelnen und dem großen Ganzen der Welt, einen heiligen Menschen (97), in dem stellvertretend der Übergang vom Menschen zur Menschheit erblickt werden kann. Von dieser Erkenntnis erhellt wird man in der Lage sein, zu entdecken, dass in einem Selbst bereits die ganze Menschheit angelegt ist: „Ihr selbst seid ein Kompendium der ganzen Menschheit“ (99). Wer den religiösen Blick wieder nach Innen gewendet und dort das Universum gefunden hat, wird selbst zum Mittler für andere.
Eine besondere Perspektive bietet der Blick auf die Geschichte der Menschheit, die Verknüpfung von besonderen Ereignissen und ihre Abfolge. Geschichte wiederholt sich nicht einfach, sondern schreitet voran. Dieses Voranschreiten lässt sich durchaus als Fortschritt und Vervollkommung der Menschheit deuten. Religion muss dazu nichts beitragen. Es reicht, wenn die Religion diese Entwicklung beobachtet.
Die Entdeckung des Universums in Natur und Menschheit erlaubt es, einen ersten, aber begrenzten Religionsbegriff zu umreißen. Allerdings wird einem schnell klar, dass das Universum mehr und größer sein muss als das, was in einem Menschen begegnet: Das ist eben nur eine Gestalt des Universums und Religion zielt darauf, dass es etwas außer- und übermenschliches gibt. Hier ist allerdings die Grenze für viele erreicht, noch gedanklich mitgehen zu wollen. Würden sie genau hinsehen, könnten sie sehen, dass sie bereits religiös sind, weil das Religiöse in jedem Menschen angelegt ist. Leider hindert aber ihr Vorverständnis von Religion, dies anzuerkennen. Sie sehen bestimmte Formen von Religion, zum Beispiel bestimmte moralische Ansichten, und hätten gern, dass Religion immer genau das ist, weil sie es dann ablehnen können. Dabei merken sie gar nicht, dass sie nicht Religion ablehnen, sondern eine bestimmte Moralvorstellung. Religion hingegen hat gar keine spezifische moralische Sicht (107).
Am deutlichsten zeigt sich das Nichtwissen über die eigenen Religiosität daran, dass die Menschen den religiösen Aspekt von Gefühlen wie Demut, Liebe und Zuneigung, Dankbarkeit, Mitleid oder Reue (109ff) nicht erkennen: „Alle diese Gefühle sind Religion“ (111). Früher wurden sie einmal unter den Begriff der „Frömmigkeit“ gefasst und nun von den Religionskritikern dem Bereich der Moral zugeschlagen. Sie versuchen ihr moralisches, philosophisches, künstlerisches Handeln zu perfektionieren und gewissermaßen zu Virtuosen zu werden. Aber ohne Religion wäre das Ergebnis wie bei einem Musiker, der zwar perfekt einzelne Töne spielt, dessen Musik sich aber nicht zu einer Gesamtharmonie zusammenfügt (115).
Natürlich gehören auch Dogmen und Lehren zur Religion. Allerdings machen sie nicht ihr Wesen aus, wie man oft falscherweise annimmt. Dogmen und Lehren sind sie nichts weiter als Abstraktionen religiöser Phänomene oder Reflexionen über Wunder, Eingebungen, Offenbarungen und übernatürliches Erleben. Wunder beispielsweise sind Zeichen, die auf das Unendliche verweisen – und wer offen ist für Wunder, der wird sie in allem möglichen entdecken (118). Offenbarungen wiederum sind neue und ursprüngliche Erfahrungen des Universums. Eingebungen sind befreite religiöse Handlungen. Gnadenwirkungen sind unmittelbare, übernatürliche Erfahrungen, die sich in religiösen Gefühlen äußern. Man kann sagen: „… wer sich nicht wenigstens … seiner Gefühle als unmittelbarer Einwirkungen des Universums bewusst ist, …, der hat keine Religion“ (120). Glauben als bloßes Übernehmen, Nach-Denken und -Fühlen von Anderen ist ein schwacher Ausdruck von Religiosität. Zwar braucht es einen Mittler, der das religiöse Bewusstsein weckt, allerdings geht es anschließend darum, seine eigenen Erfahrungen zu machen, und sich nicht an Andere oder an heilige Schriften zu hängen: „Nicht der hat Religion, der an eine heilige Schrift glaubt, sondern der welcher keiner bedarf, und wohl selbst eine machen könnte.“ (122)
Auch eine Gottesvorstellung gehört nicht zwangsläufig zur Religion. Die Gleichung „kein Gott, keine Religion“ (124) gilt also nicht, denn die Rede von „Gott“ ist nur eine von vielen möglichen religiösen Denkweisen und Anschauungsarten. Das Problem ist, dass es von Gott keine allgemeingültige Definition gibt. Für viele ist Gott eine Art nach dem menschlichen Vorbild gestaltetes Geistwesen, für andere abstrakter ein das Universum regierender Geist. Welche Vorstellung jemand auch immer von Gott hat, es ist eine mögliche Anschauung von vielen: „Religion haben, heißt das Universum anschauen, und auf der Art, wie Ihr es anschauet, auf dem Prinzip, welches Ihr in seinen Handlungen findet, beruht der Wert Eurer Religion.“ (126) Diese Religion kann genauso gut mit wie ohne eine Gottesvorstellung auskommen.
Je nach Bildungsstand besteht für den einen die Einheit des Universums in einem großen Chaos und sein Gott ist ein eigenschaftsloses, blindes Schicksal, während für einen anderen das Universum eine „Vielheit ohne Einheit“ (127) ist und seine Gottesvorstellung sich in eine Vielzahl von Göttern ausdifferenziert. Die höchste Religion entsteht aber dort, wo die Gegensätze sich vereinigen und in einem System eine „Einheit in der Vielheit“ (128) erkannt wird. Diese Form, die das Universum anschaut „als Eins und Alles“ ist auch ohne jede Gottesvorstellung die höchste Form der Religiosität. Religion versteht das Universum so, dass es auf den Menschen einwirkt. Ob sich die Religiosität mit der Vorstellung von einem Gott verbindet, hängt davon ab, ob ein Mensch, ausgehend von seiner eigenen Freiheit, im handelnden und damit lebendigen Universum einen freien Geist am Werke sieht – in dem Fall kann sich der Mensch einen Gott vorstellen –, oder ob er das lebendige Universum über verstandesmäßig erfassbare Einzeldinge (also materialistisch) wahrnimmt, und sich darüber keinen Gott vorstellen kann. Beides sind mögliche religiöse Anschauungen des Universums, unabhängig davon, ob sie sich mit einer Gottesvorstellung verbinden oder nicht.
Und letztlich gehört auch die Vorstellung von Unsterblichkeit nicht zwangsläufig zur Religion. Das Verständnis von und die Sehnsucht nach Unsterblichkeit kann geradezu unreligiös sein, weil der Mensch sich hier ängstlich an seine Individualität klammert. Dabei ist es doch gerade das Ziel der Religion, die Grenzen der Persönlichkeit zu überschreiten und Eins zu werden mit dem Universum. Aber die Menschen hoffen, das, was sie sind, bleiben, mitnehmen und im Jenseits allenfalls noch perfektionieren zu können. Stattdessen sollten Menschen eher versuchen, aus Liebe zum Universum das eigene Leben und seine Individualität aufzugeben (vgl. Mt 16,25) und „im Einen und Allen zu leben“. Daraus entsteht eine ganze andere Hoffnung über den Tod hinaus, als das Festhalten an der Begrenztheit des eigenen Lebens.
In der Religion ist Gott also nicht Alles, sondern Eins: „das Universum ist mehr“ (133). Man kann auch nicht an Gott glauben, weil man will oder weil der Gottglaube nützlich, tröstlich und hilfreich ist, sondern weil man muss. Unsterblichkeit ist wie ein Rätsel, das zu lösen ist und nichts, was man für sich wünschen kann. „Mitten in der Endlichkeit Eins werden mit dem Unendlichen und ewig sein in einem Augenblick, das ist die Unsterblichkeit der Religion.“ (133)