Reden über die Religion 3

In Schleiermachers dritter Rede über die Religion geht es um religiöse Bildung und die Frage, inwieweit Religion lehrbar ist. Schleiermacher kritisiert einerseits die aufklärerische Pädagogik, die alles unter Nützlichkeitsaspekten betrachtet und im Religionsunterricht Geschichten erzählt, aus denen man etwas moralisch lernen soll. Andererseits kritisiert er aber auch die voraufklärerische Pädagogik, die planlos (Schleiermacher spricht hier in Anlehung an Kant von „mechanisch“) Kenntnisse und Fertigkeiten vermittelt. Dem stellt Schleiermacher etwas gegenüber, was man heute einen „subjektorientierten“ Ansatz nennen würde. Das Paradigma, an dem Schleiermacher sich beim religiöser Bildung orientiert, ist die Kunst. Schleiermacher entfaltet hier viele Begriffe, die er in der zweiten Rede eingeführt hat.

Über die Bildung zur Religion

Eine Religion kann andere nur vom Glauben überzeugen, indem „sie sich frei äußert und mitteilt“ (133). Religion muss aus eigener Kraft in einem Menschen die gleiche Schwingung erzeugen, ansonsten nützen weder leise Töne noch ein ganzes Orchester religiöser Gefühle etwas: Wenn nichts anklingt, geht es an einem Menschen vorbei. Man mag beklagen, die Leute seien heute nicht mehr religiös, aber es war früher nicht anders: Selbst wenn die Anlage zur Religion bei jedem vorhanden ist, kann man auch durch die größte Kunstfertigkeit und Geschicklichkeit allenfalls erreichen, jemandem seine eigenen Ideen mitzuteilen. Und sogar wenn eine andere Person die Ideen übernimmt, werden damit nicht zugleich religiöse Gefühle hervorgerufen (138).

Man kann also zwar auf den Kopf einwirken, aber nicht in den Wirkbereich des Universums. Allerdings lässt die religiöse Entwicklung sich unterdrücken und verstümmeln. Religionsunterricht im strengsten Sinne kann es deshalb gar nicht sinnvoll geben, denn im Unterricht geben wir allenfalls „Schatten unserer Anschauungen und unserer Gefühle“ (140) weiter. Man kann zwar quasi mit kräftigen Farben etwas anschaulich machen und eine Ahnung vermitteln, aber die Anschauung selbst ist nicht lehrbar.
Sinn für das Universum zu haben, lässt sich mit einem Sinn für Kunst vergleichen: „die Kunstwerke der Religion sind immer und überall ausgestellt; die ganze Welt ist eine Galerie religiöser Ansichten“ (141). Einer Person ohne Sinn für die Wahrnehmung der Kunst kann man die Bilder zwar erklären, aber sie wird allenfalls den Jargon nachplappern und doch nichts verstehen. Etwas anderes ist es beim Meister-Jünger-Verhältnis, weil bei Jüngern schon ein religiöser Funke vorhanden ist: Letztlich wählen die Jünger ihren Meister.

Auch in diesen „Reden“ geht es nicht darum, jemandem Religion beizubringen: „Das Universum bildet sich selbst seine Betrachter“ (143). Wir können höchstens anschauen, wie dies geschieht, sofern man dies anschauen kann. „Der Mensch wird mit der religiösen Anlage geboren wie mit jeder anderen“ (144). Würde man den Sinn (für das Unendliche) nicht unterdrücken und Erfahrungen mit dem Universum nicht verstellen, so würde jeder Mensch eine eigene Art von Religiosität entwickeln. Aber leider geschieht diese Unterdrückung von Kindheit an. Die Entwicklung einer freien Religiosität behindern aber nicht die Religionskritiker, weder Zweifler noch Spötter noch unmoralische Menschen, sondern es sind die, die Vernunft und Nützlichkeit über alles stellen. Kaum regt sich in einem Kind die Fantasie, unterdrücken sie jede Sehnsucht nach dem Wunderbaren und Übernatürlichen (145). Natürlich geht es am Ende nicht darum, das Unendliche jenseits des Endlichen zu suchen, denn dann verstrickt man schnell religiöse Erfahrungen mit fantastischen Geschichten: „Gott, Heiland und Engel waren nur eine andere Art von Feen“ und Luftgeistern (146) Aus dieser Verstrickung, diesem metaphysischen Labyrinth, muss man sich irgendwann befreien, aber heute wird Kindern von Anfang an alle Fantasie ausgetrieben und sie werden darauf getrimmt, was für das Leben nützlich erscheint. Statt wunderbarer Fantasiegeschichten gibt es langweilige Moralgeschichten, aus denen die Kinder etwas lernen sollen. Trägheit und Müßiggang werden nicht akzeptiert, sondern alles muss einen Zweck haben und zu etwas nützlich sein. Statt ruhige Anschauung zuzulassen, gilt es, sich zu ertüchtigen durch Arbeit, Sport und Spiel. Und über allem steht das Ziel, die Dinge zu verstehen.

Gegen das Verstehenwollen an sich ist nichts einzuwenden, würde es sich darauf beziehen, was einem im Leben begegnet und wie es zum Ganzen des Lebens steht. Im tatsächlichen Unterricht soll man aber verstehen, wo etwas herkommt und wozu es dient. Entsprechend wird die Beschäftigung mit Kunst und Literatur nur geduldet, solange man es nicht übertreibt, ansonsten wird es als unnütze Beschäftigung angesehen. Menschen, die ihre Gefühle nicht unter Kontrolle haben, werden mitleidig angesehen und alles Originelle wird so zurechtgestutzt, so dass nur ein eng umgrenzter Bereich akzeptiert wird – ohne alle Ansatzpunkte, die eine eigenständige Entdeckung der Welt erlauben würden: ein Bereich „ohne Wissenschaft, ohne Sitten, ohne Kunst, ohne Liebe, ohne Geist – und wahrlich auch ohne Buchstaben“ (152). Dabei meinen sie, diese eingeschränkte Welt sei die „wahre und wirkliche Welt“ (152) und sie würden die wahren Zusammenhänge erkennen. Zu meinen, es gäbe eine Betrachtungsweise für alles, wird aber der Vielfalt des Universums nicht gerecht: Man muss vielmehr versuchen, vom Gegenstand, den man betrachtet, selbst her zu sehen, was ihm wesentlich ist.

Im Weltbezug des Menschen gibt es bestimmte Schneisen, die einen Blick erlauben auf Momente, die im Mensch Gefühle hervorrufen, die zwar noch nicht religiös sind, aber religiösen Gefühlen ähneln. Solche Momente sind die Geburt und der Tod. Auch hier wird versucht, die Sicht auf diese Momente zu verdecken durch „ein schlechtes Bild, eine philosophische Karikatur“ (153). Dazu gehören zum Beispiel Methoden der Lebensführung, die ein langes Leben versprechen, das Leben bestimmten Prinzipien unterwerfen und letztlich wieder alles unter das Kriterium der Nützlichkeit stellen. Die, die dafür verantwortlich sind, sind weder Verächter der Religion noch Gebildete, aber sie schaden der Religion.
Zwei Aspekte, die sich in unterschiedlicher Weise vermischen können, zeichnen religiöse Menschen aus: eine Neigung zur Mystik und eine Neigung zum Fantastischen, das sich nicht gern mit der Wirklichkeit befasst. Jenen, die zum Fantastischen neigen, mangelt es oft an der Fähigkeit, die Dinge in der Tiefe zu ergründen. Sie sind oft nur von oberflächlicher Schönheit angezogen und haben von daher „Anfälle von Religion“ (158). Den mystischen, in sich gekehrten Menschen dagegen fehlt es irgendwann „an Stoff um Virtuosen oder Helden der Religion zu werden“ (158). Es gibt zwar kraftvolle und beeindruckende Mystiker, aber das sind oft nur Leute, die in der Innenschau sich bloß auf sich selbst beschränken. Die Folge: „das Universum (ist) in ihnen ungebildet und dürftig, sie haben zu wenig anzuschauen, und allein wie sie sind mit ihrem Sinn, gezwungen sich in in einem allzuengen Kreise ewig umher zu bewegen, erstirbt ihr religiöser Sinn nach einem kränklichen Leben aus Mangel an Reiz an indirekter Schwäche“ (160). Die anderen, die fantasievoll nach außen drängen, begehen dagegen eine Art geistigen Selbstmord, weil sie mit ungezügelter Fantasie an den falschen Stellen nach dem Universum suchen und den Zusammenhang zwischen Innerem und Äußerem übersehen.
Mag man auch aktuell keine Vertreter echter Religiosität entdecken, ist keine Zeit besser oder schlechter für Religion als jede andere Zeit auch. Die Frage ist nur, wie denn religiöse Bildung aussehen müsste, damit es wieder einmal echte religiöse Virtuosen gibt (162).

Die Anschauung des Universums ist abhängig von der Weite und Schärfe sinnlicher Wahrnehmung: „der Weiseste ohne Sinn ist der Religion nicht näher als der Törichteste der einen richtigen Blick hat“ (162). Ein Unterricht, der aus Übungen besteht, in denen nichts geübt wird, in dem Dinge erklärt werden, die nicht zum tieferen Verständnis beitragen und in dem Gegenstände als reiner Selbstzweck analysiert werden, führt nicht weiter. Die erneuerte praktische Erziehung seit Kant fällt am Ende doch in die vorkantische „mechanische“ Erziehung zurück. Statt der Erschließung eines breiten, enzyklopädischen Wissens ist man mittlerweile dabei, in der Pädagogik mit allen Sinnen zu lernen und sich in den Unterrichtsgegenständen zu beschränken. Diese Tendenz wird sich auch positiv auf das religiöse Lernen auswirken. Sich in der Vielfalt der Anschauungen auf eine Sache zu beschränken und sie in der Tiefe zu ergründen, hilft am Ende zu erkennen, dass dieses eine nicht ohne alles andere zu verstehen ist. So bekommt man eine Ahnung vom Universum und eine Sehnsucht nach dem Unendlichen. Dabei bewegt sich die sinnliche Wahrnehmung in drei Richtungen: nach Innen auf das Ich, nach außen auf das Fremde oder als Hin- und Herbewegung zwischen beidem, wie es sich vor allem in der Kunst äußert. Jeder Mensch hat eine Tendenz zu einem dieser Wege, und jeder Weg ist ein eigener Weg zur Religion, wobei die religiöse Gestalt geprägt ist durch den Weg, auf dem sie gefunden wird.
Man kann versuchen sich selbst objektiv zu betrachten, indem man versucht auszublenden, was „Ich“ ist. Das Gefühl des Unendlichen in einem selbst tröstet dabei über den „Schreck der Selbstvernichtung“ (166) hinweg. Genauso kann man subjektiv ein Detail der Welt betrachten, indem man versucht, zu sehen, was es für sich selbst und in mir ist: Das Endliche wird dabei in den Hintergrund und das Universum hervortreten. Dieser Effekt lässt auch in der Betrachtung von Kunstwerken beobachten. Es ist der Übergang von Kunst zur Religion: „Ich bescheide mich[,] nicht zu sehen, aber ich – glaube“ (167). In der östlichen Mystik tritt diese Fähigkeit besonders hervor: das unendlich Große noch im Kleinsten zu sehen, an der Grenze zum Nichts. In dieser Art, die Welt zu betrachten, wurzelt alle Religion. Leider ist die Verbindung von Religion und Kunst verloren gegangen und beide stehen nebeneinander, ohne ihre Verwandtschaft zu sehen. Die beiden Quellen der Anschauung des Universums, seine objektive und subjektive Betrachtung, sprudeln nicht mehr und die reine sinnliche und einfache Wahrnehmung ist eingetrübt durch Pochen auf missverstandene Wissenschaftlichkeit und ein eingebildetes Halbwissen. Reinigen lässt sich das, indem Bildung und Religion vereint werden. So werden ausgerechnet die gebildeten Religionsverächter „Retter und Pfleger der Religion“ (170f). Die Wissenschaften wie Ethik, Philosophie und Physik werden bereichert durch einen neuen Blick auf das Universum, in dem die Menschen nicht nur Geschöpfe, sondern auch Schöpfer sind. Die Menschen bekommen ein Verständnis dafür, dass das größte Kunstwerk eine durch das Universum selbst durch die Kulturgeschichte hindurch gebildete Menschheit ist.