Reden über die Religion 4

In der vierten Rede über die Religion führt Schleiermacher aus, warum Gemeinschaft zentral ist für das religiöse Leben. Dieser Gemeinschaftsaspekt läuft allerdings an manchen Punkten wahrer Religiosität entgegen. Das liegt für Schleiermacher vor allem in der engen Verbindung von Staat und Kirche. Der Staat macht sich bestimmte religiöse Aspekte zu eigen und delegiert an die Kirche Aufgaben wie die Erziehung und die Etablierung moralischer Regeln und verbindet religiöse Rituale wie Taufe und Konfirmation mit bürgerlichen Anliegen. Die Kirche wiederum genießt die Bedeutsamkeit der Rolle, die ihr der Staat ermöglicht. Dadurch gerät die Kirche aber in eine unglückliche Abhängigkeit, bei der am Ende die bürgerlichen Bürokraten in der Kirche mehr zu sagen haben als die religösen Virtuosen. Wichtig ist für Schleiermacher daher, dass religiöse Gemeinschaften ihre Freiheit wiedererlangen und sich ihre Unabhängigkeit bewahren.

Über das Gesellige in der Religion oder über Kirche und Priestertum

Religionskritiker betrachten Religion wie eine Krankheit, mit der man noch umgehen kann, solange sie nur Einzelne betrifft; durch gezielte Behandlung kann man die Religion vielleicht unter Kontrolle halten (173). Problematisch wird es für sie, wenn Religion sich in Gemeinschaften nahezu unkontrolliert ausbreitet und ganze Generationen und Nationen ansteckt. Deshalb sehen Religionskritiker Kirchen und religiöse Veranstaltungen, bei denen Religion verbreitet wird, kritischer als die Religion selbst. Auch moderate Religionskritiker, die Religiosität zwar als sonderbar; nicht aber als krankhaft ansehen, sind vor allem gegenüber religiösen Gemeinschaften skeptisch. Sie vermuten, dass Menschen in der religiösen Gemeinschaft ihre Individualität aufgeben und sinnlose Rituale praktizieren. Auch was diesen Punkt betrifft, gilt es, in diesen Reden einiges richtig zu stellen, ohne sicherlich berechtigte Kritik, die manchmal beispielhaft vorgebracht wird, zu widerlegen oder vermeintliche Ursachen zu klären. Ziel der folgenden Überlegungen ist vielmehr, alles von einem ganz neuen Gesichtspunkt aus zu betrachten.
Religion ist notwendig gesellig, denn Geselligkeit liegt in der Natur des Menschen wie in der Natur der Religion (177). Was der Mensch erdenkt, das will er auch ausdrücken. Je mehr ihn eine Sache innerlich bewegt, desto mehr drängt es einen Menschen, sich darüber auszutauschen, dass das, was ihn bewegt, etwas menschliches ist. Es geht dabei nicht darum, andere zu missionieren. Hauptmotiv ist, zu klären, ob Anschauungen und Gefühle, die ihm widerfahren, normal sind. Über abstrakte Ideen kann er schweigen, aber für seine Gefühle braucht er Zeugen. Und wenn das Universum selbst auf ihn einwirkt und er eine religiöse Erfahrung macht, die ihn über ihn selbst hinaus bringt, dann will er diese Erfahrung erst recht mit anderen teilen. Das gilt vor allem, weil einem Menschen bei einer religiösen Erfahrung besonders bewusst wird, dass er unfähig ist, diese Erfahrung von Unendlichkeit und eigener Begrenztheit erschöpfend wiederzugeben (178f). Der Mensch will sich also redend und hörend im Gespräch mitteilen. Bücher sind keine geeignetes Medium, weil der lebendige Eindruck schnell zum toten Buchstaben wird. Allerdings bietet auch das leichte und scherzende Gespräch keinen geeigneten Rahmen, um die Tiefe religiöser Erfahrung auszudrücken. Es braucht die Rede und alle Künste, „die der flüchtigen und beweglichen Rede beistehen können“ (181). Die Kraft der Rede kommt nicht aus einem Amt oder einer übertragenen Aufgabe, sondern aus dem freien Geist des Redners und seinem Gefühl, dass alles mit allem verbunden ist und eine Einheit bildet: „er spricht das Universum aus und im heiligen Schweigen folgt die Gemeine seiner begeisterten Rede“ (182). Es entsteht ein Gemeinschaft zwischen Redner und Gemeinde, deren unaussprechbare Geheimnisse sich in Musik und Hymnen ausdrückt. Das „himmlische Band“, das hier Gemeinschaft entstehen lässt, wird deutlich stärker als jedes politische Band.
Oft wird die Unterscheidung von Priestern und Laien als ein Grundübel der Religion gesehen, allerdings bezieht diese Unterscheidung sich eigentlich nicht auf Personen, sondern auf ihre Verfasstheit und ihr Handeln. Jeder, der eine besondere Erfahrung gemacht hat und andere als religiöser Virtuose unterrichten kann, ist Priester, jeder, der einem anderen darin nachfolgt, ist Laie. Die kritisierte Hierarchie gibt es, so gesehen, gar nicht.
Auch die Auffassung, Religion sei die Ursache für Streit und Spaltung, stimmt nicht, denn Religion zielt im Gegenteil auf Einheit und Gemeinschaft. Zwar ist religiöse Erfahrung höchst individuell, aber daraus folgt nicht, dass die Religion Menschen auseinander treibt, sondern sie bringt sie im Gegenteil zusammen. Es gibt eine Art durchlässiges Stufensystem: Gläubige auf einer niedrigeren religiösen Stufe sind miteinander verbunden, aber einige stehen auch in Kontakt mit Leuten auf einer höheren Ebene, so dass alles miteinander zusammenhängt. Die Frucht der Religion ist grenzenlose Universalität und deshalb ist die religiöse Welt insgesamt ein unteilbares Ganzes.
Ebenso ist es mit der angeblichen Bekehrungswut und dem Motto „kein Heil außer uns“. Die gegenseitige Mitteilung zielt auf Menschen, die schon religiös sind, egal zu welcher Religion sie gehören. Denn Religion ist immer das Ganze einer Religionsgemeinschaft, ein Einzelner kann das in seiner Gesamtheit ebenso wenig erfassen, wie die Religionsgemeinschaft das unendliche Ganze, das sie bestimmt. Träger der Religion sind immer Einzelne und was für sie das Höchste ist, bringen sie in Verbindung mit all ihrem alltäglichen Tun und Streben. Natürlich will dieser einzelne Mensch jenen Menschen, die sich gewissermaßen nur in den Niederungen des Lebens bewegen, mitnehmen in eine Höhe, in der man Einblick bekommt in das Große und Ganze. So ein Mensch ist aber letztlich wie jemand, der in der Fremde Sehnsucht nach seiner Heimat hat und deshalb in dieser Fremde Dinge aus der Heimat mit sich führt.
Nun könnte der Eindruck entstehen, hier wird ein Bild von Kirche konstruiert, dem auch die Kritiker als einem Ideal zustimmen können, aber es geht nicht darum, wie Kirche sein soll, sondern wie die wahre Kirche immer schon ist. In ihr versammeln sich Menschen, die durch Religion sich ihrer selbst bewusst geworden sind und die eine religiöse Sicht auf das Leben selbst haben. Es sind gebildete und kraftvolle, wahrhaft religiöse Menschen, die nicht unbedingt in den Großkirchen gefunden werden, sondern eher in kleinen Gemeinschaften (192).
Die Kritiker haben dagegen Menschen im Blick, die allenfalls auf der Suche nach Religion sind. Sie sind „negativ religiös“ und drängen zum „positiv religiösen“ (194). Sie nehmen deren Energie in sich auf, verlieren sie aber bald wieder. Ihr ganzes religiöses Leben ist ein vergebliches Streben nach Religion, solange sie nicht auf das Ganze sehen, sondern sich immer nur in Kleinigkeiten und Gewohnheiten verlieren. Sie vertrauen nicht auf ihre eigene Wahrnehmung, sondern schauen bloß auf fremde Religiosität. Bei ihrer Suche täuschen sich sich selbst, wenn sie beim Besuch einer religiösen Veranstaltung meinen, jetzt religiös zu sein, obwohl sie letztlich von Religion „weder Begriff noch Anschauung“ (197) haben. Hätten sie Religion, würden sie sich andere Kreise suchen, in denen sie die Religion leben könnten. „Und so wird in der Tat die Kirche den Menschen um so gleichgültiger je mehr sie zunehmen in der Religion, und die Frömmsten sondern sich stolz und kalt von ihr aus.“ (197).
Menschen dagegen, die ihre individuellen religiösen Erfahrungen mitteilen wollen, werden in ihrer Individualität beschränkt, weil man lieber Abstraktionen in Form von Begriffen, Meinungen und Lehrsätzen haben möchte (198). Auch die symbolischen Handlungen werden nicht als Verweise auf das große Ganze erkannt, sondern sie haben ihren Wert in sich selbst. Die scheinbar religiösen Menschen hängen daran ebenso fest, wie an toten Begriffen und Reflexionsresultaten. Sie hoffen darauf, dass die Begriffe ihnen einen Weg zu jener religiösen Erfahrung ebnen, aus der sie hervorgegangen sind. Das funktioniert aber nicht, denn das Symbol setzt die Erfahrung voraus, nicht umgekehrt.
Die Idee der wahren Kirche bedeutet aber nicht, dass die reale Kirche zerstört werden sollte. Auch wenn religiöse Erfahrungen individuell sind, darf man Religion nicht so verstehen, als sei sie der einzige Bereich, den man nicht lernen könnte. Zwischen denen, die wirklich religiös sind und denen, die noch auf der Suche sind, gibt es ein Verbindungsstück, und das ist die reale Kirche. Zweifellos gibt es Missstände in der Kirche, aber man kann es nicht der Religion vorwerfen, dass aus ihr nicht die wahre Kirche hervorgegangen ist. Auch kann man der Religion nicht vorwerfen, dass es in der Kirche eine Tendenz zur Sektiererei gibt, denn wenn in der Kirche der Weg zur Religion über die Vermittlung religiöser Meinungen geht, die in kirchliches Ganzes eingegliedert ist, dann muss fast zwangsläufig jeder Andersdenkende als Störer empfunden werden. Vermutlich ist religiöse Vielgötterei sogar deutlich liberaler im Bezug auf Abweichungen. Der realen Kirche geht es leider mehr um Verstehen und Glauben, um Taten und Rituale als um Anschauung und Gefühl, und dadurch gerät sie, selbst wenn sie sich aufgeklärt gibt, in den Bereich des Aberglaubens und entfernt sich weiter von wahrer Religion. Die Unterscheidung von Priestern und Laien ist letztlich durchaus sinnvoll, denn wer wahre Religion in sich hat, wird damit zum Priester und ist nicht mehr Laie. Er könnte die reale Kirche nun verlassen, allerdings wäre diese Abspaltung letztlich nicht religiös, sondern irreligiös (weil Religion ja auf Einheit abzielt). (203)
Wenn die reale Kirche ihre wichtigsten Priester und Leitungspersonen aus der wahren Kirche bekommt, könnte man durchaus einwenden, wie es dann sein kann, dass so viele Missstände geduldet werden. Warum widerspricht so vieles in der realen Kirche dem Geist der wahren Religion? Wieso wurde die Kirche statt zum Segen zu einer Geißel der Menschheit? Es ist in der Tat so, dass die Kirche trotz der in ihr tätigen „religiösen Virtuosen“ nicht so ist, wie sie sein sollte. Der Vorwurf kommt normalerweise aus der Philosophie und aus der Politik und es könnte jetzt wie ein argumentativer Trick aussehen, wenn nun dafür argumentiert wird, dass gerade die Politik mit dafür Verantwortung trägt. Der Punkt ist aber folgender:

  1. Sobald eine neue religiöse Lehre auf das Basis einen echten religiösen Erfahrung entsteht, gewinnt sie Anhänger, für die das besondere Neue die Religion anziehend macht (205). Obwohl die Lehre nur einen Ausschnitt darstellt, sind die Anhänger so ergriffen von dem neuen Verständnis, dass dieses für sie als der eigentliche Zugang zum Heil erscheint. Solange sie davon begeistert sind, reden sie nur noch davon und ziehen andere an, aber nach und nach ebbt die Begeisterung ab. Andere wiederum, die in der Gemeinschaft noch begeistert sind, passen sich den anderen an und geben ihre besonderes Empfinden auf, so dass sich insgesamt am Ende eine nur noch unvollkommen Religion findet. In der Kirche sind also echte religiöse Erfahrung und bloße Nachahmung vermischt. Wir kennen das Phänomen, wenn man unterschiedliche Flüssigkeiten vermischt: Erst wirkt es wie eine Einheit, aber mit der Zeit trennen die Flüssigkeiten sich wieder und leichtes schwimmt oben, schweres unten (208). So hätte sich auch in der Kirche die wahre Religion mit der Zeit abgesetzt, wäre nicht die Politik in die Religion eingedrungen: Menschen, die Macht und Einfluss suchen, sind an die Stelle von religiösen Virtuosen getreten, religiöse Ehrfurcht ist in Herrschaftshäuser und Gerichte eingezogen, Pracht und Prunk wiederum in Kirchen und Tempel. Indem die Politik die Kirchen zu Körperschaften machte, hat sie verhindert, dass das wirkliche Religiöse sich absetzt, sondern wahre und falsche Religiosität vermischt blieb und die Kirche in dieser Gestalt versteinerte. Plötzlich kann die Kirche und ihr Glaube sich nicht mehr verändern.
  2. Dazu kommt: Die Kirche ist zur Organisation geworden und selbst die wirklich Religiösen sind nun dadurch gebunden, Haushalts- und Verwaltungsaufgaben zu erledigen, statt Priester zu sein (212). Zugleich übernehmen Menschen in der Kirche Leitungsaufgaben, weil sie hier ihren Ehrgeiz, ihre Machtgelüste, ihre Eitelkeit und Habgier befriedigen können. Für die religiösen Virtuosen bleibt da kein Platz.
  3. Dann überträgt der Staat auch noch bestimmte Aufgaben an die Kirche, durch die sie ebenfalls gebunden wird (214): a) sie soll sich um Erziehung kümmern, b) sie soll in den Bereichen, die nicht durch Gesetze geregelt sind, für Moral und Sitte sorgen und sie soll c) die Menschen zu guten Bürgern machen. Dafür verliert die Kirche ihre Freiheit, weil sie nun wie eine staatliche Einrichtung funktioniert und der Staat redet sogar mit, wer sich als Priester eignet und wer nicht.
  4. Schließlich greift der Staat sogar soweit in die Religion ein, dass an wichtigen Lebensstationen religiöses und bürgerliches Anliegen vermischt werden: die Geburt mit der Taufe, die Einführung Heranwachsender in das Zentrum des religiösen Lebens (bei den Evangelischen die Konfirmation) mit der Einführung ins bürgerliche Leben, die Trauung mit der Ehe. Bis hin zur Beerdigung reicht diese staatliche Nutzung religiöser Rituale (215).
    Die Religion ist letztlich so sehr von moralischen und politischen Ansprüchen durchdrungen, dass diese die ursprüngliche religiöse Idee verdrängen. Die Kirchenleitungen verstehen zudem oft nichts von der wahren Religion und die Kirchenmitglieder suchen nicht mehr danach (216).
    Es ist recht offensichtlich, dass es der Kirche schadet, wenn sie staatliche Vorteile genießt, die ihr für ihre Aufgabe nichts nützen, wenn sie Aufgaben übernimmt, die ihr sogar schaden, die sich vom Staat missbrauchen lässt und bereitwillig ihre Freiheit aufgibt, um Dinge zu tun, die nicht ihrem eigentlichen Zweck dienen. Die Kirche braucht keinen Staat als Rahmen, sondern nicht mehr als eine Sprache, um sich zu verständigen, und einen Raum, um sich zu treffen (218).
    Es gibt viele Möglichkeiten, wie die Kirche sich vom staatlichen Zugriff befreien könnte. Hier soll nur ein Weg aufgezeigt werden: Denen, die einen Sinn für das Religiöse haben, denen das aber noch nicht bewusst ist, muss Religion so gezeigt werden, dass ihre religiöse Anlage sich entwickeln kann (219). Aktuell wird das noch dadurch verhindert, dass der Staat in kirchlichen Leitungs- und Unterrichtsstrukturen mitbestimmt. Ein guter Lehrer und moralischer Mensch versteht nicht zwangsläufig auch etwas von Religion. Aber selbst angenommen, alle, die diesen Dienst tun, wären religiöse Virtuosen, so würden sie daran scheitern, dass wie beim Kunstunterricht nicht alle Schüler die gleichen Voraussetzungen mitbringen. Das aber wäre notwendig, damit der Schüler durch Übungen Fortschritte macht, denn der religiöse Meister kann nichts anderes tun als „zeigen und darstellen“ (220). Nehmen wir aber weiter an, es kämen nur religiös offene Menschen, wäre damit nicht viel gewonnen, weil das Feld der Religion zu weit ist, als dass ein religiöser Virtuose es allein abdecken könnte. Dazu sind die Anschauungsmöglichkeiten des Universums zu vielfältig und die religiöse Form muss auch zu dem passen, was der Schüler mitbringt. Niemand kann gleichzeitig Mystiker, Theologe und Künstler sein, Deist und Panteist und Meister in verschiedenen religiösen Disziplinen. „Meister und Schüler müssen einander in vollkommener Freiheit aufsuchen und wählen dürfen, sonst ist einer für den anderen verloren.“ (221) Natürlich kann jemand neben seiner religiösen Aufgabe auch eine andere Aufgabe übernehmen und zum Beispiel im Auftrag des Staates Ethik unterrichten, aber das eine muss vom anderen unterschieden werden. Besser wäre es, wenn der Staat dem religiösen Künstler, wie anderen Künstlern auch, die Freiheit lassen würde, ihre Kunst zu entwickeln. Letztlich muss von daher Schluss sein mit der engen Verbindung von Staat und Kirche (224).
    Auch die enge Bindung von Priestern, Pfarrern, Pastoren mit einer festen Gemeinde und Kirche schadet der Sache des Glaubens. Statt in einer Kirche sollte man sich besser in Privaträumen treffen und zwar als Versammlung von Menschen, die einen Redner auch hören wollen und nicht als festgefügte Kirchengemeinde. Der religiöse Geist muss frei fließen können. Zu einer freien Religion gehört auch, dass es keine Abgrenzung zwischen verschiedenen Glaubensrichtungen gibt.
    Es gibt also ein gemeinsames Interesse von Religionskritikern und den Vertretern wahrer Religion: die Verbindung von Staat und Kirche aufzulösen. Es gibt unterschiedliche Wege, diese Trennung herbeizuführen (226f). Wer für die Staatskirche arbeitet, soll das ruhig weiter tun, soll sich aber bemühen, das religiöse Reden zu trennen von den Aufgaben, die ihm durch den Staat aufgetragen sind. Eine wirklich religiöse Person sieht das Religiöse und Heilige in allen Dingen des Lebens und sie wird sich bemühen, das zu bewahren und auszudrücken, bis einmal die Trennung von Staat und Kirche vollzogen ist. Für religiöse Menschen, die keine akademische theologische Ausbildung genossen haben, ist das eigene Haus und die Familie der Ort, in der sie ihrem Priestertum nachgehen können. Auch eine kleine Wohnung kann „ein Allerheiligstes sein, worin mancher die Weihe der Religion empfängt“ (230). Diese Form der Religiosität ist der Ursprung und letztlich auch das Ziel.
    Es braucht also letztlich keine Staatskirche, sondern nicht mehr als „fromme Häuslichkeit“ (230). Allerdings sind die meisten Menschen nicht frei, das zu leben, weil Männer und Frauen zu letztlich unwürdiger Arbeit gezwungen sind. Wir sind Sklaven unserer eigenen Welt und das behindert die Entwicklung einer freien Religiosität. Der wissenschaftliche und technische Fortschritt wird uns hoffentlich einmal aus dieser Sklaverei befreien und alle zu freien Menschen machen, die in Ruhe und Muße die Welt betrachten können. In der freien Zukunft wird „jeder der Religion teilhaftig, der ihrer fähig ist“ (232). Dann gibt es keine „einseitige Mitteilung“, in der die einen die anderen lehren, sondern alle werden zu einer „Versammlung der Anbeter des Ewigen“ (232), zu einer „erhabenen Gemeinschaft wahrhaft religiöser Gemüter“ (232). Sie werden gewissermaßen zu religiösen Künstlern, die ausdrücken, was sie selbst erlebt haben, was sie fühlen und begriffen haben. Das muss letztlich auch Religionskritiker wieder begeistern, die sich für das Schöne und Gute begeistern. Es ist eine Besondere Gemeinschaft, die hier entstehen wird, eine „Akademie von Priestern“, ein „Chor von Freunden“ (233), „ein Bund von Brüdern“ (234): „Jeder weiß, dass auch er ein Teil und ein Werk des Universums ist, dass auch in ihm sein göttliches Wirken und Leben sich offenbart.“ (232) „Alles menschliche ist heilig, dem alles ist göttlich.“ (234) Diese Gemeinschaft ist nicht mehr nur eine Ansammlung einzelner Menschen, sondern sie sind eine Menschheit „auf dem Wege zu(r) wahren Unsterblichkeit und Ewigkeit“ (234).