Tagebuch schreiben scheint einfach und voraussetzungslos: eine Kladde und ein Stift genügen, um mit täglichen Aufzeichnungen aus dem eigenen Leben zu beginnen. Probleme scheint es allenfalls damit zu geben, wirklich regelmäßig zu schreiben. Aber stimmt dieser Eindruck? Wie schon in Ortheils „Schreiben dicht am Leben“ stellt Christian Schärf im zweiten Band der Duden-Reihe „Kreatives Schreiben“ an konkreten Beispielen Möglichkeiten des Tagebuchschreibens vor. Schnell wird dabei deutlich: Selbst ein jugendlicher Herz-Schmerz-Eintrag ist nicht einfach unmittelbarer Ausdruck, sondern schreibend gestaltet: „In diesem Sinn ist das Tagebuchschreiben eine Form des literarischen Schreibens“ (17), auch wenn es nicht auf Veröffentlichung zielt, sondern privater Eintrag ist und bleiben soll.
Was fällt unter ein Tagebuch? Die Grundlage ist für Schärf zunächst die Notiz über ein Ereignis oder Erlebnis. Der Übergang zum Tagebuch geschieht, wo diese Notizen einer chronologischen Ordnung folgen: „Schreiben Tag für Tag bedeutet, festzuhalten, was sonst im Strom des Zeit untergehen würde.“ (11f) Das kann in einer sehr einfachen Form eine Notiz im Kalender sein, wie dies beispielsweise E.T.A. Hoffmann eine zeitlang praktiziert hat (S. 29ff). Dennoch lassen die Grenzen nicht immer scharf ziehen: Gottfried Benns Aufzeichnungen im Notizbuch folgen keiner strengen Ordnung und sind doch auch eine Art von Tagebuch. Auf der anderen Seite können die Einträge klar definierten Absicht folgen, wie beim Journal, das einen Arbeitsprozess begleitet: „Beim Tagebuchschreiben ist somit im Prinzip alles möglich und alles erlaubt.“ (16)
Dennoch gibt es natürlich Elemente, die tagebuch-typisch sind: neben der Chronologie gehört dazu der private Selbstbezug (13) und die Monologstruktur (ebd.): „Es ist die Stetigkeit des Vor-sich-selbst-Zeugnis-Ablegens, von der sich Tagebuchschreiber aller Epochen eine klarere Erkenntnis ihrer selbst wie ihrer Umwelt versprochen haben.“ (14).
Pragmatische Erwägungen spielen nur am Rande eine Rolle (wie schon in „Schreiben dicht am Leben“): Wie organisiert man die Schreibzeit? Morgens, abends, zwischendurch? Welches Material bietet sich an? Nimmt man ein kostbares Buch für Zuhause oder ein Notizbuch zum Mitnehmen? Was bedeutet das handschriftliche Tagebuch führen – im Unterschied zum Schreiben am PC? Zwar gibt es vereinzelte Hinweise auf die Praxis der verschiedenen Tagebuch-Autoren, aber es bleibt bei Randnotizen. Nur im Schlusskapitel geht Schärf kurz darauf ein. Obwohl er anmerkt, dass die Rahmenbedingungen des Schreibens für Tagebuchschreiber „von erheblicher Bedeutung“ (142) sind, beschränkt er sich auf eine Skizze von rund einer Seite.
Die 25 Kapitel des Buches sind nicht noch einmal untergliedert. Schärf gliedert in der Einführung ohne Angabe der Kaptitel nach spontanen Aufzeichnungen, Formen von Chronik und Journal, herausragenden Themen und Schreibweisen sowie literarische Überformungen. Diese Einteilung aufgreifend könnte man die Kapitel wie folgt gruppieren:
[A Grundformen des Tagebuchs]
1. Die spontane Aufzeichnung (Franz Kafka)
2. Das anarchische Notizbuch (Gottfried Benn)
3. Der Schreibkalender (E.T.A. Hoffmann und Christiane Goethe)
[B Tagebuch als Chronik und Journal]
4. Die minimale Chronik (Johann Wolfgang Goethe)
5. Das elementare Journal (Samuel Pepys)
6. Das asketische Journal (Trauerarbeit bei Novalis)
7. Die pedantische Chronik (Thomas Mann)
8. Das erzählte Leben (Victor Klemperer und Andy Warhol)
9. Das Arbeitsjournal (Berthold Brecht)
[C Tagebuch als Selbstreflexion]
10. Die Entdeckung des Ichs (Franz Kafka)
11. Ich selbst, so wie ich bin (Jean-Jacques Rousseau und Friedrich Hebbel)
12. Die persönliche Liste (Susan Sonntag und Jochen Schmidt)
13. Ich elender Mensch ! (Schonungslose Selbstbeurteilung bei Leo Tolstoi, Cesare Pavese und Franz Kafka)
14. Das Allerheiligste meiner Seele (Selbstverherrlichung und „pharaonisches Tagebuch“ (G.R. Hocke) bei Georg Heym und Franz Kafka)
[D Thematische Tagebücher]
15. Offensein für die Dinge (notierte Beobachtungen und Entdeckungen bei Hanns-Josef Ortheil und Anne Frank)
16. Gefühle (Romy Schneider, Max Frisch, Georg Heym)
17. Träume (Theodor W. Adorno und Georg Heym)
18. Das Arsenal der Ideen (Albert Camus und Charles Baudelaire)
19. Beschreiben (Reisetagebuch z.B. bei Franz Kafka, Anäis Nin und Arthur Schopenhauer)
20. In my secret life (Erotisches Tagebuch, ohne Beispiele)
21. Tage des Lesens (Lektüretagebuch bei Jochen Schmidt)
22. Das Gesellschaftsjournal (Fritz J. Raddatz)
[E Literarische Tagebuch-Formen]
23. Die autobiografische Collage (Walter Kempowski)
24. Das Journal als Hypertext-Performance (Rainald Goetz)
25. Die verdichtete Zeit (fiktional verfremdete Geschichten bei Clemens Meyer)
Die Probleme des Buches sind sehr ähnlich denen von Ortheils „Schreiben dicht am Leben“ (siehe Rezension):
- Durch die Orientierung an konkreten Tagebuch-Schreibern fällt auf, dass bekannte Tagebuchschreiber fehlen (z.B. Jochen Klepper, Erich Mühsam oder Sylvia Plath, Anne Frank wird nur einmal erwähnt), während Franz Kafka omnipräsent ist. Aber auch hier ist zuzugestehen: Vollständigkeit ist nicht möglich.
- Das Inhaltsverzeichnis ist leider nicht so klar gegliedert wie bei Ortheil. Zur schnelleren Orientierung in der Systematik wären überschriebene Blöcke von Kapiteln hilfreich. Zudem sind nicht alle Kapitelüberschriften selbstverständlich. Warum Kapitel 6 beispielsweise „Das asketische Journal“ heißt, ist mir unklar geblieben, geht es darin doch um Novalis Trauerarbeit und Todesreflexionen.
- Die Schreibaufgaben am Ende jedes Kapitel sind wieder methodische Bündelungen. Sie sollen dabei helfen, heraus zu finden, welcher Tagebuchtyp man selbst ist. Dabei wirken die Aufgaben zum Teil sehr gestelzt und künstlich. Die Anregungen gehen eher von den Beispielen aus, nicht von diesen Schreibaufgaben. Ich habe den Verdacht, dass die Aufgaben Tagebuchneulingen wenig nützen werden.
Die größte Schwäche von Schärfs Buch ist, dass er den Adressatenbezug des Tagebuchs nicht systematisch reflektiert. Ich halte das allerdings für die zentrale Frage des Tagebuchschreibens. Wahrscheinlich führen die wenigsten Menschen Tagebuch, um Literatur zu produzieren. Sie halten schriftlich fest, was ihnen am Tag wichtig war. Dass das Tagebuch dabei „in den meisten Fällen der Verständigung eines Ichs mit sich selbst“ diene (10), hält Schärf zwar für einen wesentlichen Grundzug des Tagebuchschreibens. Trotzdem grenzt er sich deutlich z.B. von Tristine Rainers Ansatz ab, die im New Diary die Möglichkeit sieht, dass der Schreiber mit sich selbst kommuniziert (vgl. Rainer, Tagebuch schreiben, S. 10). Für mich sind die Voraussetzungen die gleichen, aber Rainer baut ihr ganzes Buch auf diesem Ansatz auf. Für sie ist das Tagebuch ein „praktisches, psychologisches Werkzeug“ (ebd., S.11) um zu lernen Gefühle auszudrücken, an Gewohnheiten zu arbeiten und auszusprechen, was einen im Innersten bewegt. Wer Tagebuch schreibt, benutzt das Schreiben, um etwas über sich selbst zu erfahren: indem man später das Geschriebene liest und auf Muster, Wiederholungen und Leitmotive etc. reflektiert. Adressat des Schreibens ist dann das später lesende Ich, kein literarisch interessiertes Publikum.
Für Schärf hingegen ist das Tagebuch, egal ob Chronik oder Journal, eine literarische, keine psychologische Methode der Selbstreflexion, selbst wenn der Autor nicht auf Veröffentlichung zielt und nie „zu einer ‚Professionalität’ des Tagebuchführens gelangt“ (148). Schärf weist zu Recht darauf hin, dass jede Form von Verschriftlichung bereits auf literarische Mittel zurück greifen muss und Unmittelbarkeit nicht zu erreichen ist. Gerade das Tagebuch ist aber oft (wie das Notizbuch) Ort der Skizze und des Schreibens ins Unreine. Das macht einen Teil seiner Faszination aus. Für Schärf scheint dies aber eher an die Grenzen der Tagebuch-Literatur, wie er sie versteht, zu führen: „Man kann dabei [beim Niederschreiben vom Gefühlen; KD] spontan vorgehen und aufschreiben, was und wie man gerade fühlt. Diese Art der Fixierung findet sich oft bei jungen Tagebuchschreibern, die sich mit ihren wechselnden Stimmungen beschäftigen und das Tagebuch als Gegenüber nutzen, das sie in ihrer Umwelt nicht zu finden glauben. Immer kommt es jedoch darauf an, dass einem bei aller Spontaneität die geeigneten sprachlichen Mittel zur Verfügung stehen, die eine Fixierung von Gefühlsgehalten erlauben.“ (90) Aber: Kommt es wirklich darauf an?
Es ist eine interessante Sache, dass das Tagebuch selbst zum Gegenüber – um damit selbst zum Adressaten werden kann („Liebes Tagebuch …“). Ihm kommt dabei eine Mittlerrolle zu: Das schreibende Ich teilt über das Tagebuch als aktuellem Gegenüber einem später lesenden Ich etwas mit – mit den sprachlichen Mitteln, die gerade zu Verfügung stehen. Das ist nicht unproblematisch und hat das Tagebuch in Verruf gebracht: Wenn heute bei Diary Slams Tagebuch-Autoren ihre jugendlichen Peinlichkeiten vor Publikum ausbreiten, hat das natürlich damit zu tun, dass literarisch geeignete sprachliche Mittel nicht zur Verfügung standen, sondern nur sprachliche Klischees und Plattitüden. Das später lesende Ich ist reifer und kann sich über das schreibende Ich prächtig amüsieren. In die gleiche Richtung zielt der Beleg, den Schärf anführt: einen Tagebuch-Eintrag der jugendlichen Romy Schneider. Die Unreife und literarische Unzulänglichkeit von Schneiders Text sieht Schärf darin, dass die Autorin nach kurzer Zeit nicht mehr nachvollziehen kann, warum sie „so etwas schreiben konnte“ (91). Für Tristine Rainer würde wahrscheinlich genau diese Frage, warum man einmal so etwas schreiben konnte, zum Ausgangspunkt für weiteres Nachdenken über sich selbst und die eigene Entwicklung. [Henning Luther (Religion und Alltag, S. 118ff) leitet übrigens aus dieser Erfahrung die These ab, dass ein Tagebuchschreiber eben nicht nur mit sich selbst kommuniziert, sondern mit einem „fiktiven Anderen“, der in der christlichen Tradition den Namen Gott trägt – aber das nur am Rande.]
Beim Eintrag Romy Schneiders ist der private Kontext unübersehbar. Wie Schneider werden nur wenige Tagebuchschreiber beim Schreiben an ein großes Lese-Publikum denken. Das ist zum Beispiel bei Max Frisch der Fall, den Schärf Schneiders Eintrag gegenüberstellt. Frischs Tagebücher sind gerade keine spontanen Notizen, sondern sprachlich gestaltete und überarbeitete Kunstwerke, die die Form des Tagebuchs literarisch überhöhen. Die zweifellos faszinierenden Reflexionen Frischs sind ein Beispiel für das, was Tagebuch-Literatur auch sein kann. Man muss sich aber klar sein, dass der Adressat eine literarisch interessierte Öffentlichkeit ist.
Der Adressatenbezug steht letztlich im Zusammenhang mir der Frage, wozu der Tagebucheintrag dient. Christian Schärf macht aus dem Tagebuch eine literarische Spielwiese. In seiner Eigenschaft als Dozent für Literarisches Schreiben ist das ja auch legitim. Die Bandbreite ist aber größer und reicht durchaus bis in den selbsttherapeutischen Ansatz von Tristine Rainers New Diary hinüber.
Seine Stärken entfaltet das Buch daher dort, wo es um eher abgeklärte, reife Schreibweisen geht: Schärf zeigt, dass das Tagebuch keine Angelegenheit pubertierender Mädchen ist, sondern in der Chronik und im Journal zu einem konzentrierten, zweckorientierten Schreiben führen kann. Predigerinnen und Prediger könnten zum Beispiel das Lektüretagebuch für sich entdecken als Möglichkeit, täglich Eindrücke aus Literatur und Bibelstudium zu notieren. Die Chronik bietet die Möglichkeit, Tageserinnerungen aus dem Pfarralltag festzuhalten. Wer viel schreibt, findet in Schärfs Buch zahlreiche Anregungen, daraus Formen täglichen Schreibens zu entwickeln.
Fazit: Christian Schärf legt auf 159 Seiten eine kompakte Übersicht über die Möglichkeiten des Tagebuchschreibens vor. Die Beschreibung der verschiedenen Ansätze und die Zitate sind anregend für die eigene Tagebuchpraxis. Wer schon Tagebuch schreibt, findet hier die Möglichkeit, über die Vielfalt dessen, was Tagebuch auch sein kann, nachzudenken. Ob Neulinge über das Buch in eine Tagebuchpraxis hineinfinden, lässt sich schwer beurteilen: Da wäre wohl Tristine Rainers „Tagebuch schreiben“ meine erste Empfehlung, zumindest wenn es um das Festhalten von persönlichen Empfindsamkeiten geht. Vielschreiber hingegen, die kein Tagebuch führen, können hier durchaus Anregungen finden, um mit dem Schreiben Tag für Tag zu experimentieren. Denn: „Beim Tagebuchschreiben ist [..] im Prinzip alles möglich und alles erlaubt.“
Christian Schärf: Schreiben Tag für Tag. Journal und Tagebuch, 1. Aufl. Bibliographisches Institut, Mannheim, 2011.
ISBN 978-3-411-74901-0| 14,95 € | 159 S.
Tristine Rainer: Tagebuch schreiben, 1. Aufl., Autorenhausverlag, Berlin 2005.
ISBN 3-932909-47-X | 14,90 € | 190 S.
Henning Luther: Der fiktive Andere. In: Religion und Alltag. Bausteine zu einer praktischen Theologie des Subjekts (S. 111-122), Radius-Verlag, Stuttgart, 1992.
ISBN 3-87173-842-5 | 22 € | 329 S.