„Eine kleine Rhetorik“ nennt Dietrich Sagert sein Buch „Vom Hörensagen“, ein „Spielbuch“, wie er sagt, kein abgeschlossenes Werk. Und tatsächlich hat das Buch etwas verspieltes, aber es ist nicht das selbstvergessene Spiel eines Kindes, sondern eher ein selbstgefälliges Spielen mit kleinen Denkfiguren, Beobachtungen, Wörtern. Dieser Versuch einer homiletischen Avantgarde kann einem auf die Nerven gehen: der manierierte Schreibstil, das Hin und Herschieben postmoderner „Wortstellwände“ (vgl. 115), die ablenken wollen von den notierten Trivialitäten, das Sammelsurium an Zitaten, die mehr illustrieren als zeigen. Trotzdem ist Sagerts Buch gar nicht so schlecht, wie es auf den ersten Blick wirkt.
Was mir gefällt ist, dass Dietrich Sagert hevorhebt, was man in der homiletischen Diskussion nicht oft genug betonen kann: Rhetorik ist nicht allein Kunst, sondern unverzichtbar immer auch Technik der Rede (vgl. 71). Leider begegnet häufig ein Vorbehalt gegenüber der Rhetorik, weil Rede als Werkzeug für bestimmte Zwecke dienen kann, z.B. zum Zweck des Verkaufs. Es erstaunt Sagert, dass diese Verkaufsrhetorik in einigen kirchlichen Kreisen gut ankommt. Er übergeht, dass Homiletiker oft zu jenen gehören, die diesen technischen Aspekt der Rhetorik, also einen bewusst zweckhaften Einsatz der Rede, verteufeln. Aber Sagert dreht die kritische Perspektive um und will den Begriff der Rhetorik nicht kampflos den Verkäufern überlassen. Rhetorik ist immer auch Technik, geht aber nicht in Technik auf. So wird das Verständnis einer Rhetorik sichtbar, die leicht, offen, mehrstimmig sein soll.
Sagert entwickelt seine Position nicht systematisch, sondern legt eigentlich einen kleinen Sammelband mit Aufsätzen und kleineren Notizen mit homiletischen Beobachtungen und Anregungen vor. Bei einem Teil der Aufsätze steht die Frage im Hintergrund: „Was ist Rhetorik?“ Das wird sichtbar im Blick auf eine kleine Sammlung von Texten, die im Downloadbereich des Zentrums für evangelische Predigtkultur, bei dem Sagert als Referent arbeitet, zu finden sind (Link). Es sind Texte, die überarbeitet Eingang in „Vom Hörensagen“ gefunden haben. Anders als im Buch beginnen die drei Texte ursprünglich immer mit der ausdrücklichen Frage „Was ist Rhetorik?“. Statt einer systematisch entwickelten Antwort steckt Sagert dabei Bereiche ab und zieht Grenzen. Einerseits grenzt er ab, was nicht Rhetorik sein soll: „sterile Eloquenz“, Benutzung der Sprache „als Vehikel von vorgetäuschtem Sinn“, „Deklamation von besessener und besitzender Wahrheit“, „raffinierte Verbindung von Worthülsen“ (S. 46f) Andererseits skizziert er locker, was Rhetorik sein könnte: ein Geschehen zwischen Sprecher und Zuhörenden, Flirt und Tanz (45ff), eine „Skulptur aus Luft“ (50). Sagert betont die Komplexität der Redesituation:
„Da ist keine Tänzerin. Und doch ist da ein Körper, Atem, sind Positionen und Gesten im Raum. Da ist kein Sänger. Und doch ist da eine Stimme, ist Klang im Raum. Da ist kein Schauspieler. Und doch sind da Haltungen, Blicke und Charme. Da ist keine Dichterin. Und doch sind da Worte, ist Sprache gesprochen. Da ist kein Denker. Und doch sind da Gedanken, geformt und zugespitzt, Mitteilungen. Da ist kein Liebespaar. Und doch sind da Leidenschaft, Emotion und Kontakt. Und das alles in einem Raum, in dem andere Menschen sind, die ihrerseits… zuhören.« (25)
Der Titel „Vom Hörensagen“ verweist auf das Besondere der Redesituation „Predigt“: In Aufnahme einer Formulierung von Deleuze/Guattari geht es darum, weiter zu sagen „was man gehört hat und was einem ein anderer gesagt hat“, nicht um das, was man selbst gesehen hat (98). Für die Rede gilt zunächst grundsätzlich, dass die Inventio – das Auffinden, wenn nicht gar das Erfinden des Gegenstands der Rede – der zentrale Arbeitsschritt ist. In der Predigtarbeit ist dieser Schritt zwar gebunden an den biblischen Text, doch der Text gibt das Thema der Rede nicht einfach vor: „Einen Text zu lesen und zu interpretieren kommt … einem Experimentieren gleich, einem Ausprobieren und Erfahrungen machen. Ein solches experimentelles Erfinden ist die vornehmste Aufgabe der Rhetorik als inventio.“ (64) Das Auf- und Erfinden des Predigtgegenstands setzt also eine Bereitschaft voraus, zunächst aufmerksam zu hören, was ein anderer sagt und dadurch dem auf die Spur zu kommen, was zu sagen ist.
Das ist das zweite, was mir an Sagerts Buch gefällt: der Gedanke einer Rhetorik als Experiment, allerdings weniger als „Rhetorik des Zauderns“ (60), wie Sagert es sich denkt, als vielmehr als des riskanten Versuchs, etwas Verbindliches, ja vielleicht sogar etwas wie „Wahrheit“ auszusagen, bzw. mit-zu-teilen, wie es Sagert vielleicht formulieren würde. Die Rede von der „kleinen Rhetorik“ verweist dabei noch einmal auf Deleuze und dessen Rede von der „kleinen Sprache“, die sich von den großen Diskursen, hehren Begriffen und moralischen Belehrungen abgrenzt (vgl. 115f). Die kleine Sprache verlässt die sicheren Gebiete und wagt sich in neues Terrain vor. Sie experimentiert, sucht und geht Risiken ein. Eine Rhetorik, die darauf aufbaut, wäre meines Erachtens gerade keine Rhetorik des Zauderns, wenngleich des Tastens, des Innehaltens, des Abwägens und Versuchens.
Sagert macht also keine leeren Versprechungen, wenn er eine „kleine Rhetorik“ ankündigt: einen großen, neuen Ansatz wird man nicht finden. Sagert tastet, versucht und probiert, was homiletisch hilfreich sein könnte. Wer sich auf Sagerts Schreib- und Denk-Stil einlässt, wird sicher den einen oder anderen anregenden Gedanken mitnehmen.
Sagert, Dietrich: Vom Hörensagen. Eine kleine Rhetorik. Evangelische Verlagsanstalt: Leipzig 2014.
ISBN 978-3374038015 – 14,40 €.