Eine Herausforderung des Predigens ist, zu versuchen mit Worten anschaulich zu machen, was nicht unmittelbar wahrzunehmen ist: „in Szenen unserer Welt“ Wahrheit aufscheinen zu lassen (Henning Luther[1]). 1888 drückte Paul Gauguin in seinem Gemälde „Die Vision der Predigt“ einen ähnlichen Gedanken aus. Das Bild ist kunsthistorisch von großer Bedeutung, kann aber auch für die Homiletik von Interesse sein.
„La Vision du sermon“ steht für einen Wendepunkt in Gauguins künstlerischer Entwicklung. Zunächst hatte Gauguin sich an den Impressionisten orientiert, aber dieser Weg schien einigen Künstlern irgendwann als Sackgasse. Im bretonischen Pont-Aven suchte Gauguin mit andern Künstlern nach neue Wegen. Von einer Reise nach Panama und Martinique 1886, die Gauguin wegen einer Erkrankung abbrechen musste, brachte er Impulse und Ideen mit in die Bretagne. „La Vision du sermon“ macht die neue Richtung sichtbar: leuchtend klare Farben, starke Kontraste und konturierte Formen prägen diesen post-impressionistischen Stil des sogenannten Synthetismus. An die Stelle der Darstellung atmosphärischer Sinneseindrücke tritt der Versuch, äußere Wahrnehmung und innere Bilder zu vereinen.
Gauguin schreibt im Herbst 1888 an Vincenz van Gogh, er habe das Bild der Kirche von Pont-Aven schenken wollen, der Priester habe das Geschenk aber „natürlich“ nicht angenommen („Naturellement on n’en veut pas.“).[2] Der ebenfalls zur Schule von Pont-Aven zählende Émile Bernard erinnert sich 1904, Gauguin habe das Bild der Gemeinde in Névez angeboten:
Alors le prêtre questionna sur le sujet, le déclara d’interprétation non religieuse. Si encore cela représentait franchement la fameuse lutte! mais ces énormes bonnets, ces dos de paysannes remplissant la toile, et la chose capitale réduite, au loin, à des proportions si insignifiantes!!… Ce n’était pas possible, on le blâmerait…[3]
„Nun fragte der Priester nach dem Thema, das er als nicht-religiös bezeichnete. Wenn es nur offen den berühmten Kampf zeigte! aber diese riesigen Hauben, diese Rücken der Bäuerinnen, die die Leinwand füllen und die Hauptsache in die Ferne drängen, die Größenverhältnisse so unbedeutend. Es war nicht möglich, man würde ihn schelten …“
Nun erschließt sich das Bild tatsächlich sich nicht auf den ersten Blick und auch die religiöse Aussage liegt nicht auf der Hand, auch wenn Gauguin selbst von einem religiösen Bild spricht („un tableau religieux“). Das erste, was an dem Bild auffällt, ist die dominierende, rote Farbe, die den Blick anzieht, und die junge Frau im Zentrum des Bildes, deren Blick den Blick des Betrachters auf das Geschehen rechts oben lenkt. Indem die Frauen im Vordergrund dem Betrachter den Rücken zuwenden, entsteht der Eindruck, man würde aus der Mitte der Frauen heraus, über deren Schultern, dieses Geschehen beobachten: einen Ringkampf zwischen einer Person mit Flügeln mit einem bärtigen Mann. Die Szene stellt Jakobs Kampf am Jabbok dar (Genesis 32) – deshalb auch der oft begegnende, alternative Bildtitel „Der Kampf Jakobs mit dem Engel“. Rechts außen ist das Gesicht eines Priesters zu sehen. Einige wollen darin ein Selbstporträt Gauguins sehen, der damit sich selbst als Prediger in das Bild hineingemalt hätte. Das Bild wird diagonal durch einen Baumstamm geteilt, so dass die obere Bildhälfte wie eine Bühne wirkt. Der Priester befindet sich mit den beiden Ringern auf der zweiten Bildhälfte, gewissermaßen am Rand der Bühne. Links oben ist ein seltsam verrenktes Rind zu sehen, dessen Beinstellungen an das Ringerknäuel auf der rechten Seite erinnert.
Dem Priester von Névez ist zumindest in der Hinsicht Recht zu geben, dass die biblische Geschichte verhältnismäßig wenig Raum einnimmt. Auch wenn der Blick durch die Bildgestaltung auf die Szene gelenkt wird, scheint es Gauguin nicht um eine bildhafte Darstellung der Ereignisse am Jabbok zu gehen, sondern um etwas Anderes. Wahrscheinlich hätte Gauguin genauso gut die Opferung Isaaks oder den Verrat des Judas auf die Bühne stellen können, ohne dass sich die Bildaussage wesentlich verschöbe – wenn nicht das Ringen wiederum Ausdruck des Ringens Gauguins sein soll, wie einige Exegeten vermuten. Was der Priester von Névez erkannt, aber nicht verstanden hat: Das Gemälde illustriert nicht vorranging eine biblische Szene, sondern die gelungene Inszenierung einer Predigt, indem es im Bild sich ein Bild davon macht, was in den Köpfen der Hörerinnen vorgeht.
„La Vision du sermon“ ist also eher ein Bild für den Prediger, das ihn das Ereignis der Predigt selbst bedenken lässt. Denn auch dies ist auffällig: Niemand sieht sich das Ringen wirklich an. Fände vor den Augen einer Menschenmenge ein Kampf statt, wäre doch anzunehmen, alle Blicke wären auf das Geschehen gerichtet. Doch der Priester richtet wie die meisten bretonischen Frauen den Blick nach unten. Wohin die Frauen sehen, die uns den Rücken zuwenden, ist nicht zu entscheiden. Selbst die junge Frau in der Bildmitte, die den Blick des Betrachters lenkt, sieht nur vage in die Richtung, ihr Blick wirkt verträumt und scheint eher in Richtung des seitlichen Bildrands ins Nirgendwo zu gehen. Zwei Welten erscheinen gleichzeitig in dem Gemälde: Die Bretonninen und der Priester in der Kirche und das, was während ihrer Zusammenkunft, angeregt durch die Predigt, in ihren Köpfen entsteht. Kein Wunder also, dass „La Vision du sermon“ als Geburtsstunde des Synthetismus gilt. In einem Comic würde die Szene auf der Bühne wohl von einer Wolke umrandet und mit kleinen Bläschen mit den Köpfen der Frauen verbunden sein. Hier markieren die Größenverhältnisse der Frauengruppe zu den Kämpfenden und der Kuh die unterschiedlichen Welten. Gauguin schreibt im schon erwähnten Brief an van Gogh:
„Pour moi dans ce tableau le paysage et la lutte n’existent que dans l’imagination des gens en prière par suite du sermon, c’est pourquoi il y a contraste entre les gens nature et la lutte dans son paysage non nature et disproportionnée.“
„Für mich existieren in diesem Bild die Landschaft und der Kampf nur in der Vorstellung der Leute, inspiriert durch die Predigt, weshalb es dort einen Kontrast gibt zwischen den natürlich dargestellten Leuten und dem Kampf in einer nicht-natürlichen, überproportionalen Landschaft.“
Der Kunsthistoriker Mark Roskill deutete das Bild so, dass die Frauen nach dem Gottesdienst durch die Betrachtung einer Kuh in ihrer Wirklichkeit erinnert werden an den Kampf – daher die Ähnlichkeit in der äußeren Form.[4] In der Tat wird das Bild zuweilen auch „Vision après le sermon“ (Vision nach der Predigt) genannt. Nach der Predigt bedeutet aber nicht notwendig nach dem Gottesdienst. Die Haltung der Frauen und des Priesters legen keine Bewegung nahe. Sie befinden sich eher in der Kirche, Körper- und Handhaltung entsprechen der Gebetshaltung. Die vorgestellte Welt steht auf dem roten Boden, wobei die Kuh das Bindeglied bildet, das die Welt der Geschichte in einer anderen Zeit an einem anderen Ort mit der eigenen Wirklichkeit verbindet. Jede Imagination braucht einen solchen Anker in der Wirklichkeit, um etwas wahrnehmen zu können, was darüber hinaus geht. In der Geschichte vom Kampf am Jabbok ist dies der Hinweis, dass die Israeliten bei einem geschlachteten Tier „bis auf den heutigen Tag den Muskelstrang nicht essen, der über dem Hüftgelenk liegt“ (Gen 32,33), weil der Engel Jakobs Hüftgelenk ausrenkte (Gen 32,26). Dass die Proportionen des Rinds nicht zur den Bretoninnen passen ist als Hinweis zu lesen, dass das Rind zur Welt der Erzählung gehört. Es befindet sich aber „diesseits“ der Trennlinie, so dass es zugleich Teil der Lebenswelt der Bäuerinnen ist.
Der Impressionismus wollte unmittelbare Sinneseindrücke im Bild sichtbar machen. Gauguin genügte das aber nicht, denn Welt ist mehr als das, was sich sinnlich wahrnehmen lässt. Deshalb ist „La vision du sermon“ im besten Sinne ein „tableau religieux“: Es zeigt, wie in der Wirklichkeit eine andere Wirklichkeit aufscheint. Ursprünglich wollte Gauguin sein Bild deshalb „Apparation“ nennen, „Erscheinung“.[5] Vielleicht ist es dieser letztlich unkontrollierbarer Vorgang, der den Priester das Kunstwerk als nicht-religiös zurückweisen ließ. Es wäre dann auch Ausdruck der kirchlichen Furcht davor, dass sich Gemeindeglieder und Predigthörerinnen ein eigenes Bild machen könnten. So erklären sich auch die Vorbehalte mancher heutiger Pfarrerinnen und Pfarrer gegen erzählendes Predigen: Statt den Hörenden die Geschichte vor Augen zu stellen wird sie Punkt für Punkt erklärt, dogmatisiert und moralisiert.
Meine Vision von Predigt wäre – da lehne ich mich an Henning Luther an – so zu reden, dass Wahrheit in den Szenen der Lebenswelt von Hörerinnen und Hörern aufscheint. Das kann beispielsweise dadurch geschehen, dass ein biblischer Text innerhalb der Kontexte des Alltags erscheint und aus diesem Kontext verständlich wird. In diesem Sinne wäre eine gute Predigt in der Tat synthetisch: Die Bilder zweier Welten verbinden sich zu einer neuen Sicht auf die Welt, so wie in Paul Gauguins „Vision du sermon“.
[1] Luther, Henning, Frech achtet die Liebe das Kleine: biblische Texte in Szene setzen ; spätmoderne Predigten. Stuttgart: Radius-Verl 1991, S. 13.
[2] Paul Gauguin to Vincent van Gogh. Pont-Aven, on or about Wednesday, 26 September 1888. – http://vangoghletters.org/vg/letters/let688/letter.html 12.2.2016 20:08
[3] Ebd., Anm. 2.
[4] Vgl. Dario Gamboni: Die Vision einer Vision. Paul Gauguins «Vision der Predigt» in neuem Licht. http://www.nzz.ch/articleE1SUT-1.27005 12.2.2016 20:09.
[5] Janet McKenzie: Gauguin’s Vision. http://www.studiointernational.com/index.php/gauguin-s-vision/ 12.2.2016 20:32