Notizbücher sind hip. Aber was schreibt man rein? Hanns-Josef Ortheil will mit seinem Buch „Schreiben dicht am Leben“ Hilfestellung geben. Keine Ratgeberliteratur sei die kleine Duden-Reihe zum Kreativen Schreiben, für die Ortheil zuständig ist, sondern ein „Meisterkurs“ (Verlagswerbung), der „sich an den Werkstätten der großen Schriftstellerinnen und Schriftsteller orientiert“ (S. 17). Entsprechend stellt das Buch kein Methodenkompendium dar, sondern zeigt, wie verschiedene Autoren ihre täglichen Notizen gemacht haben. „Schreibaufgaben“ vertiefen die einzelnen Kapitel durch Hinweise für eigene Notizversuche.
Dass sich die Reihe nicht nur auf Schreiben mit Stift und Papier beschränkt, sondern den Ansprüchen heutigen Schreibens gerecht werden will, zeigt sich daran, dass neben Ortheils Buch über Notizen und Skizzen auch ein Band über Journale und Tagebücher (Christian Schärf) sowie über Elektric Writing in Blogs und sozialen Netzwerken (Stephan Porombka) erschienen ist. Zum freilich handschriftlichen Ausprobieren gibt es zudem ein Notizbuch in der gleichen Aufmachung. Hier konzentriere ich mich auf Ortheils Buch.
Hanns-Josef Ortheil ist selbst manischer Notierer. In Interviews, aber auch in dem Band „Wie Romane entstehen“ (2008) hat er seinen Notiz-Zwang immer wieder reflektiert und mit der Kindheitserfahrung des Nicht-Redens sowie der Angst vor dem Verstummen in Verbindung gebracht. Die Notiz ist daher für Ortheil mehr als nur ein flüchtiges ins Unreine schreiben: Notieren ist „das ideale Stimulans der geistigen Kapazitäten und damit das literarische Koffein par excellence“ (S. 145). Eingebettet in größere Projekte gilt es, sich das tägliche Notieren anzugewöhnen: „Schon kurzfristige Unterbrechungen machen sich – wie bei einem Musiker, der einen kurzen Zeitraum nicht mehr an seinem Instrument geübt hat – sofort bemerkbar. Das Schreiben wird ungelenkt, langsam und hat wenig Frische. Das tägliche Notieren aber hält den Sprachfluss in Bewegung.“ (S. 148).
Nur am Rande interessierten Ortheil dabei technische Details. So wird von Robert Gernhardt berichtet, dass er seine „fast täglichen Aufzeichnungen in Blankoschulhefte der Firma ‚Brunnen’ im Format DIN A5“ (S. 130) vornahm und dabei gelbe Kugelschreiber der Marke BIC verwendete. Walter Benjamin verwendete dagegen Briefpapier etwa im A4-Format, das er in Mitte faltete und dann die Seiten 1 und 3 mit Füllfederhalter und Bleistift beschrieb (S. 116f), während Peter Handke Notizbücher „nie größer als DIN A6“ (S. 109) gebrauchte, die in die Jackentasche passen, so dass sie man sie auch unterwegs gebrauchen kann. Es geht Ortheil weniger um die technischen Aspekte des Notierens, als um die Notate selbst.
In neunzehn Kapiteln, die jeweils einen Autor und seine Weise des Notierens vorstellen, führt Ortheil durch ein breites Spektrum an Möglichkeiten. Diese neunzehn Weisen des Notierens sind noch einmal in vier Gruppen zusammengefasst.
Als „elementares Notieren“ stellt Ortheil Notizformen vor, die Beobachtungen möglichst direkt und ungefiltert festhalten. Ortheil findet solche Formen
1. bei Georges Perec, der seine Umgebung aus verschiedenen Perspektiven knapp registriert,
2. in der FAZ-Rubrik „Webcam“, die wie eine Webcam eine Alltagsbeobachtung aus einer Perspektive festhält,
3. bei Peter K. Wehli, der Situationen notiert wie fotografische Schnappschüsse,
4. bei Émile Zola, der wie ein Journalist Informationen sammelt und bis ins Detail recherchiert,
5. bei Rolf-Dieter Brinkmann, der seine Gedanken zu unterwegs Beobachtetem als inneren Monolog festhält.
Formen „bildlichen Notierens“ sieht Ortheil
6. bei Theophrast, der Charaktere durch besondere, prägende Kennzeichen porträtiert,
7. bei Gerard Manley Hopkins, der Eindrücke seiner Wanderungen wie ein Landschaftszeichner festhält,
8. bei Tokutomi Roka, der Beobachtungen in seiner Umwelt mit wenigen Federstrichen skizziert,
9. bei Francis Ponge, der Beobachtungen an unscheinbaren Alltagsdingen präzise registriert,
10. bei Akutagawa Ryunosuke, der eine Geschichte in drehbuchartigen Beschreibungen fixiert.
Die dritte Gruppe bündelt das Notieren von Emotionen und Passionen, stellvertretend zu finden
11. bei Sei Shonagon (der einzigen Frau im Buch), die ihre Vorlieben und Passionen z.B. in Listen sammelt,
12. bei Roland Barthes, der in der Trauer seine Erinnerungen an seine Mutter auf Zetteln festhält,
13. bei Fernando Pessoa, der innere Monologe einer erfundenen Figur in Form von Notizen formuliert,
14. bei Elias Canetti, der in seinen „Aufzeichnungen“ genannten Notizen Gedanken konzentriert und zuspitzt,
15. bei Peter Handke, der seine täglichen, poetischen Konzentrationen erfasst.
Zu Formen des „klassischen Notierens“ findet Ortheil ideale Beispiele
16. bei Walter Benjamin, der in klassischer Gelehrtenmanier notierte und exzerpierte,
17. bei Georg Christoph Lichtenberg, der seine Gedanken sammelte wie in kaufmännischen „Sudelbüchern“,
18. bei Robert Gernhardt, der Lichtenbergs Methode aufnahm und zur Feldforschung in fremder Umgebung gebrauchte,
19. bei Paul Valéry, der Morgens früh um Fünf begann, seine Gedankenkreise und Denkwege zu notieren.
Der Ansatz, jeweils einen Autor und seine Art, Notizen zu machen, ist natürlich nicht unproblematisch. Zum einen fällt so natürlich auf, dass weitere berühmte Notizbuchschreiber wie Bruce Chatwin oder Ludwig Hohl nicht einmal erwähnt werden. Das liegt sicherlich daran, dass sie unter eine der neunzehn Ansätze fallen, aber hier wäre es interessant zu lesen, wie Ortheil typologisiert. Letztlich muss man aber zugestehen, dass so ein schmales Büchlein weder Vollständigkeit erreichen kann, noch überhaupt anstreben wird.
Der zweite Einwand ist darum gewichtiger: Auch wenn das Inhaltsverzeichnis klar gegliedert ist und die Systematik über die den Rahmen gebenden Schreibprojekte durchaus funktioniert, fehlt doch ein wenig der methodische Aufbau, wie er in manchen Titeln der von Ortheil etwas despektierlich bezeichneten „Ratgeberliteratur“ zu finden ist. (Eine Bemerkung am Rande: Warum die ersten beiden Gruppierungen „Textprojekte und Schreibaufgaben“ heißen, die letzten beiden aber „Texte und Schreibaufgaben“ leuchtet nicht ein). Ich muss gestehen: Ich hatte erwartet, dass gerade jemand wie Ortheil, mehr Einblick gibt, wie er mit den Notizen weiter umgeht. In „Wie Romane entstehen“ hat Ortheil beispielsweise auf zwei Seiten (S. 40f) ein ganzes Notiz-System skizziert, über das man gerne mehr erfahren möchte. „Schreiben dicht am Leben“ hätte dazu sicher Raum gegeben.
Die Schreibaufgaben, mit denen jedes Kapitel endet, sind im Prinzip methodische Bündelungen des jeweiligen Ansatzes und helfen, den beschriebenen Notizstil zu imitieren. Es sind keine kurzen Übungen, sondern kleine Schreibprojekte über einen längeren Zeitraum. Wer sie alle umsetzen wollte, dürfe damit mehr als einige Monate beschäftigt sein, insbesondere, wenn man die Regel zu Lichtenberg umsetzen will: „Datieren Sie Ihre Aufzeichnungen nicht. Beginnen Sie einfach mit einem Heft A und nummerieren Sie dann ihre Aufzeichnungen durch. Verwechseln Sie das Sudelbuch nicht mit einem Tagebuch. Notieren Sie also nicht ihre Befindlichkeiten, sondern Details, Zusammenhänge und Geschichten, die Ihnen von außen zugetragen wurden oder auf die Sie während Ihrer Lektüren gestoßen sind. Führen Sie Ihre Aufzeichnungen bis zu Ihrem Tod.“ (S. 128f) Das entbehrt zumindest nicht eines feinen Humors.
Mir persönlich hat der Abschnitt IV über das klassische Notieren am besten gefallen, weil er meinen überwiegenden „Schreibprojekten“, nämlichen theologisch-philosophischen Arbeiten und Predigten, am nächsten kommt. Allerdings ist es eher so, dass ich den Abschnitt zum Lesen empfehlen kann – viele neue Hinweise habe ich nicht bekommen. Hier waren es eher kleine Hinweise und Entdeckungen in anderen Kapiteln, die inspirierend sind.
Fazit: Ob es die im Vorwort erwähnte Zielgruppe von Menschen tatsächlich gibt, die ein Notizbuch hat, aber nicht weiß, wozu, sei einmal dahingestellt. Trotzdem ist das Buch zu empfehlen: Zum einen Notizbuchnutzern, die ihre eigene Praxis weiter entfalten, entwickeln, ausbauen möchten, zum anderen allen, die schreiben, aber bislang kein Notizbuch verwenden – denn sie finden hier überzeugend dargelegt, dass das Notieren und Skizzieren eine unverzichtbare Grundform des Schreibens ist. Technisch-pragmatische Hinweise zum Führen eines Notizbuchs gibt es nicht. Insbesondere Predigerinnen und Prediger finden hier aber dennoch einige Anregungen dazu, Beobachtungen, Einfälle, Illustrationen für den einen eventuellen, späteren Gebrauch zu sammeln und täglich an der eigenen Sprache zu arbeiten.
Hanns-Josef Ortheil: Schreiben dicht am Leben. Notieren und Skizzieren, 1. Aufl. Bibliographisches Institut, Mannheim, 2011.
ISBN 3411749113 | 14,95 € | 159 S. [Amazon-Link]