In einem Abschnitt in den „Vertrauten Briefen über die Lucinde“ hat Friedrich Schleiermacher einen „Versuch über die Schamhaftigkeit“ unternommen. „Lucinde“ war ein umstrittenes Romanprojekt Friedrich Schlegels. Schleiermacher, der ein Freund Schlegels war, hat das Projekt aufgegriffen. Umstritten war der Roman nicht zuletzt wegen der seinerzeit fortschrittlichen Ansichten zur Sexualität. Da ich mich gerade auf ein Pastoralkolleg zum Thema „Scham“ vorbereite, habe ich begonnen, den in Fraktur vorliegenden Text in eine leichter lesbare Form zu bringen. Dabei habe ich – den Puristen sei es gestanden – in schamloserweise die Schreibweisen der heutigen Rechtschreibung angepasst.
Das Übelste ist, dass schon vorläufig die Frage entsteht, ob es nicht schamlos sei, von der Schamhaftigkeit zu reden, oder was Jemand darüber sagt anzuhören. So wunderbar diese Frage klingt, so entsteht sie in der Tat ganz natürlich: denn einem Jeden wird sein Gefühl sagen, dass es bei der Schamhaftigkeit darauf ankomme, gewisse Vorstellungen, diejenigen nämlich, welche sich auf die Mysterien der Liebe beziehen, entweder gar nicht zu haben oder wenigstens nicht mitzuteilen, und dadurch in Andern zu erregen – denn, welches von beiden die Hauptsache sei, können wir vor der Hand noch unentschieden lassen, und man kann doch offenbar von dieser Tugend nicht reden, ohne auf ihren Inhalt hinzudeuten, und dies wiederum nicht ohne die Vorstellung selbst, welche darunter gehören und vermieden werden sollen, in sich und andern auf gewisse Weise wenigstens anzuregen. Auf der andern Seite wäre dieses Verbot widersinnig und abgeschmackt, weil dies als dann die einzige Tugend wäre, welche aus Mangel an Lust [47] ersticken und deshalb untergehen müsste, weil man ihrer edlen Flamme keinen Nahrungsstoff darreicht. Unter allen scheint auf den ersten Anblick diese Tugend am wenigsten dazu gemacht, von selbst zu gedeihen, weil diese Vorstellungen der Menschen auf mehrere Weise sehr nahe liegen, und es ihm so natürlich ist, zu äußern, was in ihm vorgeht, dass eine ausgebreitete und traurige Erfahrung dazu gehört, ehe er sich selbst das Gesetz macht, schon die Gedanken als die entferntere Gelegenheit Ursache der Sünde zu vermeiden, deshalb auch die Fehler gegen die Schamhaftigkeit, denn sie dem Mangel diese Erfahrung und der Belehrung, ich diese ersetzen kann, zugeschrieben werden müssen, selbst wiederum zu einer dieser beliebten Tugend gehören. Dies ist, beiläufig gesagt, ein anderer schwieriger Punkt, der die Untersuchung sehr verwickelt macht. Ebenso wenig ist das Beispiel allein hinreichend, die Menschen zu dieser Tugend anzuführen. Es kann überall für sich selbst nicht viel ausrichten. Denn da jede Handlung sehr zusammengesetzt ist, so muss man doch erst wissen, worauf man in dem vorgestellten Beispiel zu sehen, und wovon man zu abstrahieren hat, und der Begriff der Tugend, worauf es sich beziehen soll, muss also schon vorher gegeben sein, am wenigsten aber ist es bei einer so ganzen negativen Tugend möglich, wobei [48] es ursprünglich gar nichts zu sehen gibt. Belehrung über die Schamhaftigkeit ist daher unumgänglich notwendig, wenn es Schamhaftigkeit überhaupt geben soll – und es würde gewiss mehr wahre und weniger falsche geben wenn man das nicht aus Missverstand unterließe. – Sollte sich finden, dass die Schamhaftigkeit nichts ist, so werden wir auch nicht gegen sie gehandelt haben, und sollte der Begriff, der sich am Ende findet, die Art wie die Untersuchung geführt worden ist, tadeln, so ist dies eine Sünde, die wir ein für alle Male zum Besten der ganzen Welt begehen, und deshalb verziehen werden muss. Es ist also hierüber weiter nichts vorzureden und die Untersuchung kann angehn.
Vielleicht ist es am Besten, sie bei diesem Widerspruch anzufangen, der doch einmal gekommen ist, und ein Recht hat, zu etwas gebraucht zu werden; es muss wenigstens möglich sein, auch von hieraus der Sache aufs Klare zu kommen. Soviel geht daraus hervor, dass es auf eine gewisse Art erlaubt sein muss, die Vorstellungen, welche die Schamhaftigkeit achtet, zu haben, und dass also das Vermeiden nur in einem beschränkten Sinne zu verstehen ist. Diese große Wahrheit hätten wir freilich auch auf einem anderen Wege finden können, wenn wir zum Beispiel daran gedacht hätten, dass die Mysterien der [49] Liebe doch gewissermaßen ins Bewusstsein kommen müssen, wenn sie ausgeübt werden, und dass dieses gewissermaßen notwendig ist, wäre es auch nur um der Schamhaftigkeit selbst willen – welches hier unstreitig der beste Beweis ist – der es sonst bald genug an den Subjekten und mit diesen auch an den Objekten fehlen würde. Indes wir haben sie nun einmal auf diesem Wege gefunden, der für eine Untersuchung wie die unserige viel methodischer ist, und wollen nun darauf fortgehen.
Wenn es also etwas erlaubtes hierin gibt, so kommt es darauf an, die Grenzlinie zwischen diesem und dem Verbotenen zu finden. Hierbei fällt man natürlich darauf, eine gewisse Analogie zu suchen zwischen der Schamhaftigkeit und dem, was man in einem weiteren Sinne des Wortes Scham zu nennen pflegt: die Verwandtschaft ist unleugbar, man sehe nur auf die Beschaffenheit des Gefühls oder auf den allgemeinen Sprachgebrauch. Scham, ich rede nun von diesem weiteren Sinne, ist das Gefühl des Unwillens darüber, dass etwas im Gemüt vorgegangen ist, es sei nun dieses Etwas seinem Wesen nach verdammlich oder nur seiner Beschaffenheit nach, denn sie bezieht sich nicht nur auf das Böse, sondern auch auf das Unvollkommene. Worauf hierbei der Unwille eigentlich gerichtet ist, sieht man sehr leicht, wenn man die Scham mit [50] der Reue vergleicht. Wo jene ist, kann dieser auch sein; aber jene ist etwas höheres. Die Reue nämlich, bleibt bei der Wirklichkeit dessen stehen, was geschehen ist, und sieht also auf den Zusammenhang und auf die Folgen; bei einigen auf die äußeren, bei Andern auf die innern, welche das Gewissen hervorbringt. Die Scham hingegen schließt nur von der Wirklichkeit auf die Möglichkeit, und der Unwille geht darauf, dass es möglich war, so zu handeln oder so zu denken, und dass im Gemüt ein Prinzip war, woraus dies hervorgehen konnte, oder eins fehlte, wodurch es hätte verhindert werden müssen. Daher ist die Scham auch nie auf die bloße Vorstellung gerichtet; ich kann mir Alles Böse und Verächtliche, dessen ich mich schämen würde, denken, und hin und her darüber reden, ohne mich im geringsten zu schämen.
Ist dies nun bei der Schamhaftigkeit ebenso, und ist sie nur eine Anwendung jener Empfindungsart auf den angegebenen Gegenstand? Dies ist keineswegs der Fall, und so scheint jener Analogie, so nah sie auch lag, zu gar nichts zu führen. Zuerst ist dabei schon gar nicht von einer Unvollkommenheit die Rede, sondern, was die Schamhaftigkeit verdammt, das verdammt sie nur um desto härter, je vollständiger es da ist. Dann unterscheidet sie auch gar nicht so, dass vorzustellen, und zur Reflexion sich [51] geben zu lassen erlaubt wäre, was zu tun oder ursprünglich selbst zu denken verboten ist. Eines Teils haben wir vorher schon zufällig gesehn, dass das Handeln mit den Objekten der Schamhaftigkeit nicht ganz verboten werden kann; und wenn andern Teils Einige behaupten möchten, das Verbot gehe eigentlich auf das Vorstellen und Mitteilen der Vorstellung, und es in dieser Rücksicht für eine erhabene und preiswürdige Aufgabe halten, sich auch beim Handeln des Vorstellens und des begleitenden Bewusstseins der Gegenstände gänzlich zu entschlagen, so kann man ihnen diesen tugendhaften Wunsch wohl vergönnen; aber es steht Ihnen doch entgegen, dass das Vorstellen ebenfalls nicht ganz untersagt werden kann, weil dies den Untergang mehrerer höchst notwendiger Künste und Wissenschaften nach sich ziehen und die Existenz der Menschen auf eine andere Weise eben so sehr in Gefahr bringen würde, besonders in diesen verdammten Zeiten, als das Verbot des Handelns. Das Verbot kann also hier gar nicht darauf gehen, dass kein Prinzip vorhanden sein sollte, um diese Vorstellungen, auf welche Art es auch sei, hervorzubringen, und das Gefühl kann nicht ein Unwille sein, über das Dasein dieses Prinzips; worin demnach die Schamhaftigkeit von der Schamgefühl gänzlich abweicht. Sie geht also nur, und zwar bedingter Weise auf das wirkliche [52] Vorkommen dieser Vorstellungen, und es fragt sich nur, welches diese Bedingung ist.
In zweierlei kann sie nur gesucht werden, in einer innern Beschaffenheit derselben, welche schlechthin vermieden werden müsste oder in einem gewissen äußern Zusammenhange, worin sie schlechthin vermieden werden müssten, oder in einer gewissen Begrenzung dieser beiden Sphären durch einander. Das erste versagt sich wieder, denn es gibt von der leisesten Andeutung bis zur genauestens Ausführlichkeit, und von der kältesten Betrachtung bis zur lebhaftesten Empfindung nichts, was sich nicht dem bloßen Gefühl, (welches man doch allein fragen muss, wenn das Raisonnement erst festgestellt werden soll) bisweilen als der Schamhaftigkeit widerstreitend, und bisweilen als ihr nicht widerstreitend, ankündigte. Ebenso geht es natürlicherweise mit dem zweiten, denn es gibt wohl kein Verhältnis vom einsamen Gespräch dem unschuldigsten Jüngling oder Mädchen bis zur lautesten und vermischtesten Gesellschaft, vom Schlafgemach bis zur Kanzel, von der nachdenklichsten bis zur leidenschaftlichsten Stimmung, worin nicht irgend etwas aus diesem Gebiet erlaubt sein sollte. Aber auch anderes unschamhaft, und so bleibt das dritte das Einzige, was wir versuchen müssen. Die Momente, worauf es ankommt, werde ich wohl vorläufig schon berührt haben: denn, da [53] wir noch nicht wissen, ob mit der Schamhaftigkeit mehr das Nichthaben, als das Nichtmitteilen gemeint ist, so müssen wir bei der Gesellschaft anfangen, wo beides verbunden ist, und da kann nur die Beschaffenheit der Menschen und ihre Stimmung in Betracht gezogen werden. Die erste am Ende auch nur um der letzten willen, und hier liegt also der große Knoten, der gelöst werden soll, es soll vermieden werden irgend eine Wirkung auf die Stimmung und den Gemütszustand der Menschen.
Es ist nun ganz und gar keine Kunst mehr zu sehen, worauf es hinauswill: diese Vorstellungen nämlich hängen gar zu genau mit einem Triebe zusammen, dessen Allgewalt von den ältesten Zeiten an vergöttert worden ist, und die Besorgnis ist diese, dass es den Menschen nicht möglich sein möchte, wo auch diese Vorstellungen in Anregung gebracht werden, dem Übergang auszuweichen, der sie von da zum Begehren führt, und dass also ihrem logischen oder praktischen Zustande auf einmal ein Ende gemacht werden, und sie dagegen in den der Begierde hineingeraten möchten. Dass ist das sein müsste, habe ich freilich schon lange gesehen, und ich hätte es durch Divination im ersten Augenblick aussprechen können, wenn ich nicht auf dem sicheren Wege durch die Notwendigkeit der Untersuchung hätte hinkommen wollen. Wie ich [54] aber leider sehe, habe ich diesen Vorsatz doch nicht ganz vollkommen ausgeführt, und mich auch nun durch einen nur etwas kürzeren Sprung auf den rechten Fleck gestellt. Wie mag das zugegangen sein? Sollte es etwa gar zu schwer gewesen sein, ohne ein solches Hilfsmittel dahin zu gelangen? Diese Frage kann ich nur zu meiner Rechtfertigung beantworten, indem ich eine andere in Anregung bringe, die mir schon lange heimlich zu schaffen gemacht hat.
Es ist doch, man nehme es nun, wie man will, eine ganz sonderbare und einzige Sache, und widerstreitet allen gefundenen Begriffen, dass eine Tugend in den Grenzen einer gewissen beschränkten Materie des Handelns, eines bestimmten Objekts eingeschlossen sein soll, und dies ist bei der Schamhaftigkeit der Fall. Was den Namen betrifft, so ist die Sache häufig. Die Wohltätigkeit, in dem Sinne, den der Sprachgebrauch feststellt, geht auch auf ein bestimmtes Objekt, auf die Mitteilung der äußeren Güter, aber wenn man nun sieht, wodurch und auf welche Art denn eigentlich gefehlt wird, wenn man nicht wohltätig ist, so sieht Jeder, dass er durch jede Vernachlässigung fremden Wohlergehens aus Gefühllosigkeit und Eigennutz, auch außer dem Gebiet des Eigentums auf gleiche Weise fehlt. Nur von der Schamhaftigkeit ist außerhalb des Stoffes, worauf sie sich bezieht, nichts [55] Ähnliches anzutreffen. So ist es freilich kein Wunder, wenn eine rechtliche Untersuchung ohne eine kleine Nachhilfe den rechten Punkt nicht trifft; dies ist nicht möglich, wenn er nicht unter ein größeres Gebiet und eine noch mehr unter sich begreifende allgemeine Formel gehört, und aus dieser durch die gehörige Einteilung gefunden werden kann. Ich wäre also gerechtfertigt, aber die Schamhaftigkeit nicht: denn es ist und bleibt einmal unerlaubt, so allein zu stehn, wenn man eine wirkliche Tugend sein will.
Dasjenige, worauf sie dringt, ist eigentlich Achtung für den Gemütszustand eines andern, die uns hindern soll, ihn nicht gleichsam gewaltsamer Weise zu unterbrechen; sollte es denn auf anderem Gebiet nicht auch ähnliche ungebührliche Eingriffe in die Freiheit geben? Es wäre doch sehr wunderbar und herabsetzen, wenn man sagen wollte, Alles übrige, was man applizieren kann, um einen Menschen aus einem Zustande in einen andern zu bewegen, sei nur ein Reiz, und es hänge von ihm ab, inwiefern er ihm folgen wolle oder nicht: dieses aber sei eine Naturnotwendigkeit! Dennoch scheint diese Ansicht schuld daran zu sein, dass man so wenig Sinn hat für die Analoga der Schamhaftigkeit. Ein Scherz von irgend einer andern Art zur unrechten Zeit angebracht, einschneidender Witz mitten in eine ernsthafte [56] Untersuchung, ein Keim zu irgend einer andern Leidenschaft in den stillen Fluss einer ruhigen Stimmung hineingeworfen, scheint mir eben so ungebührlich zu sein und dasselbe Gefühl erregen zu müssen. Nur ein Mehr und Weniger kann dazwischen Statt finden, und die allgemeine Aufgabe der Schamhaftigkeit bleibt also, jeden Menschen, in jeder Stimmung, die einem eigen oder mehreren gemeinschaftlich ist, kennen zu lernen, um zu wissen, wo seine Freiheit am unbefestigsten und verwundbarsten ist, um sie dort zu schonen. || Aber soll denn der Zustand eines Menschen, er sei nun denkend oder handelnd oder empfindend, da doch diese Funktionen mit einander abwechseln müssen, nicht ebenso gut durch eine äußere Anregung als unmittelbar von innen her in einen andern übergehen können? So scheint es, und es kann also nicht der Übergang sein, was verwerflich ist, sondern die Unterbrechung, die nur durch die Einwilligung des andern, indem er sie Mit Freiheit annimmt und ohne eigne Missbildung fortsetzt, ein Übergangs werden kann. Wenn ich einem Betrübten mitten in dem Lauf seines Schmerzes eine lustige Geschichte erzähle, so bin ich nicht zu tadeln, wenn ich ihn dadurch wirklich in eine fröhliche Stimmung versetzte; nur wenn ich mich verrechnet hatte, und meine Bemühung fehlschlägt, bin ich schamlos gewesen. [57]
Hier, wie überall, wo es auf den Umgang mit Menschen ankommt, gibt es zwei Arten, wie man sie behandeln kann, nach allgemeinen Voraussetzungen oder nach einer besondern und sichern kennt des von jedem Einzelnen. Das Erste ziemt nur denen, welche sich auf ihr eigenes Urteil nicht verlassen können; das Letztere ist freier, ziemt aber auch nur Freien, und man muss sich dazu jedes Mal aufs neue, durch die Tat selbst legitimieren. Ein allgemeiner und höherer Begriff ist also festgestellt und dadurch der Schamhaftigkeit Ihr Anspruch auf den Namen einer Tugend gesichert, und ihr Charakter vorläufig bestimmt; nun können wir zu demjenigen Teile ihres Gebietes zurückkehren, wo sie allgemein anerkannt ist.
Zuerst es schon gewiss, dass weniger das Nichthaben, als das Nichtmitteilen gewisser Ideen gemeint ist; denn auf jenes lässt sich der eigentliche Begriff des unsittlichen in der Schamlosigkeit nicht anwenden. Man kann nicht sagen, dass ein Mensch Eingriffe in seine eigne Freiheit tut, und wenn Jemand nicht die Kraft hat, sich in einem gewissen Zustande zu erhalten, sondern in jedem Augenblick in Gefahr steht, durch eine herrschende Ideen Verbindung herausgeworfen zu werden, so ist das freilich ein großes Übel, aber nicht schamlos. Nur, wenn ein Mensch einmal für diese Niedrigkeit bekannt ist, oder den Ausdruck [57] der selten überall in sich trägt, kann er, ohne sich absichtlich zu äußern, durch seine bloße Existenz anstößig werden, und den Eindruck der verletzten Schamhaftigkeit hervorbringen, und dergleichen gibt es, und nicht unter den Schlechtesten.
Nächstdem scheint man mir aber auch von dieser Schamhaftigkeit eine gute Hälfte zu übersehen, weil man sich zu dem rechten Begriff nicht erhebt. Es ist sehr einseitig, wenn man nur das verdammen will, wenn der Zustand des Denkens oder der Ruhe überhaupt durch einen Reiz auf die Sinnlichkeit und das Begehren unterbrochen wird: der Zustand des Genusses und der herrschenden Sinnlichkeit hat auch sein Heiliges und fordert gleiche Achtung, und es muss ebenfalls schamlos sein, ihn gewaltsam zu unterbrechen. Dies gehört auch ganz hierher: denn es geschieht durch die selbige Vorstellungen, die ihn, wenn man sie von einer andern Seite ins Auge fasst, oft zur unrechten Zeit herbeiführen.
Von dieser Lücke aus lässt sich vielleicht das hellste Licht über die ganze Sache verbreiten, wenn man sie recht aufdeckt. Jede Vorstellung lässt eine dreifache Beziehung zu, wenn sie vor das Bewusstsein gebracht wird: sie kann zur Erkenntnis eines Gegenstandes verarbeitet werden, die Fantasie kann sie in Beziehung auf die Idee des Schönen bringen, und sie kann als Reiz an das Begehrungsvermögen [58] gebracht werden. Die Vorstellungen, welche Objekte, der Schamhaftigkeit sind, sind in allen diesen Beziehungen gleich fruchtbar, aber auch ganz vorzüglich aus einer in die andere beweglich. Indessen ist es doch möglich, sie in jeder als das festzuhalten, was sie sind, und es ist klar, dass sie alsdann in den Zustand gehören, der Ihnen analog ist, und in diesem, wie jeder andere einzelne Gegenstand vorkommen können, und dass jede nur in dem entgegengesetzten etwas fremdartiges, und der Schamhaftigkeit zuwider ist. Entgegengesetzt sind sich aber nur der erste und letzte; die Beziehung auf das Schöne liegt in der Mitte zwischen beiden, und in dieser Beziehung genommen, muss Alles, was zur Liebe und ihren Geheimnissen gehört, überall vorkommen können, was nämlich die Schamhaftigkeit betrifft. Denn eine solche Darstellung lässt das Gemüt, wenn es sich an der Anschauung der Schönen gesättigt hat, ganz frei und enthält in sich nicht den geringsten bestimmten Reiz zum Übergange weder in einen widrigen Begriff noch in ein leidenschaftliches Verlangen; und wo eins von beiden zur Unzeit geschieht, ist es ein lediglich genommenes Ärgernis, das bloß in einer herrschenden Stimmung des Anschauenden seinen Grund haben kann.
Wie kommt es, dass die gemeine Meinung dies nicht anerkennen will? Dass sie überhaupt [60] einseitig ist, und von dieser Einseitigkeit nichts weiß, und also ihr eigenes Prinzip nicht kennt, ist wohl wahr und klar genug; aber es kann diesen Missgriff nicht erklären. Wenn sie auch nur darauf berechnet ist, dass das trockne Leben und Geschäftführen, und dass dazu soeben unumgänglich nötig Denken, das einzige notwendige und heilsame sein, und alles übrige nur als mehr oder weniger unentbehrliches Mittel, unvermeidliches Übel oder verwerfliche Abweichung betrachtet werden soll; so folgt freilich, dass von dem Zustande der Leidenschaft und des Genusses gar nicht die Rede sein, und dass er wenigstens niemals das Bessere und Ernsthaftere unterbrechen soll; dass also aus den Unterhaltungen über das Leben jede Andeutung verbannt sein muss, mit der es darauf angesehen ist, das Verlangen zu wecken: aber folgt auch, dass nur die trockensten Vorstellungen von den Geheimnissen der Liebe eben für andere natürliche Dinge mit der nötigen Vorsicht und am rechten Ort gelegentlich als Gegenstände der Untersuchung und der Belehrung vorkommen dürfen? folgt auch, dass das Schöne mit seinem liebsten Gegenstande sich, wenn die gesellige Unterhaltung angeht, entfernen muss, wie die englischen Frauen, wenn der Wein aufgesetzt wird? und das es nichts anders wirken kann, als einen Anfall von Leidenschaft? Dies liegt [61] nicht an der Einseitigkeit, sondern es liegt in der Abscheulichkeit der gemeinen Denkart.
Am besten sieht man dies, wenn man die andere Seite der Schamhaftigkeit betrachtet, und sieht, wie diejenigen es halten, die dieser fähig sind. Setzen wir also den Zustand des innern Lebens, der Liebe und des Bewusstseins davon als herrschend, so folgt zuerst, dass in diesem eben jene trocknen objektiven Vorstellungen schamlos sein müssen. Denn sie beziehen sich auf das animalische Leben, auf das ganze System desselben vom zartesten und wunderbarsten bis in das gröbste und unliebenswürdigste, und von dieser physiologischen Ansicht zieht sich die Liebe scheu zurück, und kann nicht bestehen, wenn dasjenige isoliert und zum Mechanismus herabgewürdigt wird, was in ihr mit dem Höchsten verbunden ist. Diese also als einen Eingriff in ihr freies Spiel zu fühlen und entfernt zu halten, ist die Schamhaftigkeit der Liebenden unter einander. Ihre und besonders der Frauen heiligste Sorge ist, dass der Dienst der großen Göttin nicht entweiht werde; was von der Liebe, dem Verlangen, dem Bewusstsein des Genusses eingegeben wird, gehört als schöne Umgebung zu ihrem Zustande; jede reizende Andeutung, jedes witzige Spiel, welches die Fantasie hervorbringt, ist in der Ordnung, und es gibt darin von wegen der Schamhaftigkeit kein Übermaß [62] und keine Grenze.
Beiläufig ist doch zu bemerken, dass dies nur von denen gelten kann, die wirklich zu lieben verstehen: denn je weniger dies der Fall ist, desto weniger sind auch die Menschen, selbst wenn das, was wir Liebe nennen, ihr Gemüt erfüllt, empfänglich für das Schalkhafte, Reizende und wahrhaft Übrige, desto mehr verliert sich der Sinn für diese Schamhaftigkeit, und denjenigen, in denen nur die rohe Begierde wohnt, kalten Wüstlingen und gefühllosen Mietlingen sind selbst im Zustande der Leidenschaft die plumpsten Vorstellungen und Reflexionen über das Tierische, auf welches ihre Empfindung und ihr Streben sich bezieht, nicht unanstößig.
Diese Dinge also sind den wirklich Liebenden ein Gräuel: aber wie kommt es denn, dass sie es übrigens nicht machen wie jene Ruhigen, welche alles, was sie hören, auf dasjenige deuten und beziehen , was ihnen zuwider ist, damit sie nur über verletzte Schamhaftigkeit klagen können? wie kommt es, dass sie nicht in jeder schönen Darstellung der Empfindung nur das körperliche und natürliche sehen, welches sie hassen, und in jeder Abbildung menschlicher Gestalten oder eines Moments der Liebe, das Tier und den Mechanismus seiner Naturbestimmung? dass sie vielmehr für jede schöne Darstellung der Liebe und ihrer Mysterien empfänglich sind, und selbst dergleichen nach dem Maß [63] ihrer Anlage hervorzubringen streben? Es kommt unstreitig daher, weil sie wirklich sich in dem Zustande befinden, in dem sie sagen, und weil also ein Bestreben in ihnen ist, diesen zu unterhalten, und ihm, was vorkommt und sie berührt, zu assimilieren, so dass sie nur da, wo das ihnen widerstrebende eindeutig und in seinem ganzen Gegensatz ihnen vorgelegt wird, es nicht verkennen können.
Was soll man also von denen halten, die in dem Zustande des ruhigen Denkens und Handelns zu sein vorgeben, und doch so unendlich reizbar sind, dass auf den kleinsten entfernten Anstoß von außen, Regungen der Leidenschaft in ihnen entstehen, und um desto schamhafter zu sein glauben, je leichter sie überall etwas Verdächtiges finden? Nichts als dass sie sich in jenem Zustande eigentlich nicht befinden, dass ihre eigne rohe Begierde überall auf der Lauer liegt, und hervorspringt, sobald sich von fern etwas zeigt, was sie sich aneignen kann, und dass sie davon die Schuld gern auf dasjenige schieben möchten, was die höchst unschuldige Veranlassung dazu war. Gewöhnlich muss ihnen die liebe Unschuld zum Vorwande dienen: Jünglinge und Mädchen werden vorgestellt als noch nichts von Liebe wissend, aber doch von Sehnsucht, die jeden Augenblick auszubrechen droht, und den kleinsten Anlass ergreift, um mit verbotenen Ahndungen zu [64] spielen. Das ist aber nichts. Wahre Jünglinge und Mädchen sind freilich das Ideal dieser Art von Schamhaftigkeit, aber in ihnen gewinnt sie eine andere Gestalt. Nur was keinen andern Sinn haben kann, als Verlangen und Leidenschaft zu erwecken, muss sie verletzen; aber warum sollten sie nicht die Liebe kennen dürfen, und die Natur, da sie beide überall sehen? warum sollten sie nicht desto unbefangener verstehen und genießen können, was daraus gedeutet oder davon gesagt wird, je weniger eben die Leidenschaft in ihnen selbst aufgeregt wird? Jene ängstliche und beschränkte Schamhaftigkeit, die jetzt der Charakter der Gesellschaft ist, hat ihren Grund nur in dem Bewusstsein einer großen und allgemeinen Verkehrtheit, und eines tiefen Verderbens. Was soll aber am Ende daraus werden? Es muss dieses, wenn man die Sache sich selbst überlässt, immer weiter um sich greifen; wenn man so ganz eigentlich Jagd macht auf das nichtschamhafte, so wird man sich am Ende einbilden, in jedem Ideenkreise dergleichen zu finden, und es müsste am Ende alles Sprechen und alle Gesellschaft aufhören, man müsste die Geschlechter sondern, damit sie einander nicht erblicken, und das Mönchtum, wo nicht noch etwas ärgeres einführen. Das ist nun nicht zu ertragen, und es wird daher der Gesellschaft ergehen wie unsern Frauen, [65] die, wenn die Sittsamkeit sie immer enger bedrängt und es am Ende unschicklich ist, eine Fingerspitze zu weisen, wie aus Verzweiflung auf einmal rasch umkehren, und wieder Nacken, Schultern und Busen den rauhen Lüften und den forschenden Augen Preis geben; oder wie den Raupen, die den alten Balg durch eine entschlossene Bewegung abwerfen. So wird es sein: wenn die Verderbtheit den höchsten Gipfel erreicht hat, und die rohen Triebe so herrschend geworden sind, und so reizbar und scharfsichtig, dass es nicht möglich ist, sie durch irgend etwas nicht anzuregen, so platzt jener falsche Schein von selbst, und es wird sich darunter zeigen die junge Schamlosigkeit mit dem Körper der Gesellschaft schon längst innig zusammengewachsen, als ihre wahre Haut, in der sie sich natürlich und leicht bewegt.
Die völlige Verderbtheit, und die vollendete Bildung, durch welche man zur Unschuld zurückkehrt, machen beide der Schamhaftigkeit ein Ende; durch jene stirbt mit der falschen auch die wahre ihrem Wesen nach, durch diese hört sie nur auf etwas zu sein, worauf eine besondere Aufmerksamkeit gewendet und ein eigner Wert gesetzt wird, sie verliert sich in die allgemeine Gesinnung, unter der sie begriffen ist. Sollen wir uns jener Katastrophe aussetzen, oder sollen wir den gesellschaftlichen Zustand diesem letzteren Ziele näher bringen? [66] Vor der Hand kann das nur dadurch geschehen, dass man den Menschen die Ehre tut, sie so zu behandeln, als wären sie etwas besser, um ein Gegengewicht gegen jenes Verfahren hervorzubringen, welches auf der Voraussetzung ihrer Schlechtigkeit beruht.
Man soll nicht annehmen, dass unter gesitteten Menschen jede etwas lebendige Vorstellung gleich durch die Fantasie zu einem Reizmittel für die Begierde umgebildet wird; man soll nicht glauben, dass sie unfähig sind, aus dem Schönen etwas besseres zu machen, als einen Übergang zur wilden Lust; man soll nicht glauben, dass nur über diesen Gegenstand jeder schalkhafte Scherz und jede witzige Andeutung den eigentlichen Eindruck verfehlt, so dass der Reiz des Spieles verloren geht, und jeder unvermeidlich bei dem Stoff stehen bleibt, mit welchem gespielt wird. || Das erste, was notwendig ist, um die Sache in diesen besseren Gang zu bringen, ist die Hülfe der Frauen; nicht nur weil Alles, wovon sie sich entfernen, roh werden muss, sondern auch weil von ihnen, in denen die Scham als in ihrem schönsten Heiligtume wohnt, auf die hiebei immer vorzüglich gesehen wird, und in denen jede Verbindung zwischen dem Innern und Äußern so viel zarter und feiner ist, der Beweis ausgehen muss, dass es mit diesem verbotenen Verkehr der Vorstellungen und der Sinne so arg [67] nicht ist, als die Meisten befürchten; sie sind es, die durch die Tat alles dasjenige heiligen müssen, was bis jetzt durch falschen Wahn geächtet war. Nur wenn sie zeigen, dass es sie nicht verletzt, kann das Schöne und der Witz frei gegeben werden.
Nächst ihnen ist das einzige, was den Menschen zu einer richtigen Anschauung von dieser Sache verhelfen kann, die Kunst, wenn sie dasjenige, was sein soll und darf, in ihren Werken hervorbringt. Die bildenden Künste können sich Momente der Liebe zu ihren Darstellungen wählen, und so beweisen, dass es auch hier eine Schönheit gibt, die den Gegenstand würdig ausdrückt und einhüllt, ohne das Gefühl zu verletzen und die Leidenschaft loszulassen.
Besonders aber haben viele Gattungen der Poesie den eigensten und nächsten Beruf zu zeigen, wie sich innerhalb der Grenzen des Schönen die beiden entgegengesetzten Arten der Schamhaftigkeit vereinigen lassen. Die Poesie bringt den Menschen in Gesellschaft mit ihren Werken, er soll in ruhiger Betrachtung und freier Anschauung ihre Bildungen genießen, und sie darf also kein anderes und fremdes Verlangen in ihm absichtlich oder ungeschickt erregen, welches diesen Genuss zerstören würde. Wenn nun auf der andern Seite für viele ihrer Werke die Liebe der höchste Gegenstand ist, von denen sie ganz durchdrungen sein sollen, so darf [68] nichts fehlen, was denen natürlich und eigen ist, die in diesem Gefühl leben, und nichts kaltes und totes dort dargestellt werden, was sie beleidigen könnte. Hier gilt es also das ganze schwierige Gebiet nach allen Seiten zu durchstreifen, ohne über seine Grenzen auszuweichen, und dadurch kann der eigentliche Umfang desselben am klarsten dargestellt werden. Dichtungen, die dies leisten, sind nicht nur an sich schön und wünschenswert, sondern sie tun uns auch Not, um durch ihr Beispiel den rechten Takt und Ton wieder herzustellen für dasjenige, was das zarteste und schönste ist in der Lebenskunst.