„Ich suche nicht, ich finde“, lautet ein bekanntes Bonmot von Pablo Picasso. Niklas Luhmann hat einmal ähnliches gesagt, als er die Arbeit mit seinem Zettelkasten beschrieben hat: Wenn er beginnt, hat er oft bestimmte Dinge im Kopf, an die er sich erinnert und nach denen er im Zettelkasten sucht. Meistens findet er aber anderes und vor allen Dingen neue Bezüge, die ihn auf die eigentlich spannenden weil überraschenden Aspekte stoßen. In der Ausstellung „Serendipity. Vom Glück des Findens“ in der Bielefelder Kunsthalle ist aktuell ein Teil des Zettelkastens von Niklas Luhmann zu sehen. Dieser bildet – wenn auch nicht verbunden mit Picasso – den Ausgangspunkt für die Begegnung mit zwei deutschen Künstlern der Gegenwart, für die das Glück des Findens Teil ihrer künstlerischen Arbeit ist: Ulrich Rückriem (*1938) und Jörg Sasse (*1962). Mittelbar wird in der Ausstellung anschaulich, wie wichtig das glückliche Finden für kreatives Arbeiten ist.
Um eines gleich vorweg zu sagen: Nur wegen eines Blicks auf Luhmanns Zettelkasten lohnt sich die Fahrt nach Bielefeld kaum – trotzdem ist der Besuch der Ausstellung selbst lohnenswert. Tatsächlich ist der Zettelkasten nicht viel mehr als ein Sprungbrett in die Ausstellung. Die sechs zentralen Kästen mit ihren jeweils vier Schubladen stehen im Eingangsbereich der Kunsthalle. Auf vier Sichttischen sind Zettel aus dem Kasten ausgelegt. Erklärungen an der Wand führen in das Aufbau- und Arbeitsprinzip Luhmanns ein. Wer sich mit Luhmanns Zettelkasten auseinandergesetzt hat, wird hier nichts Neues finden. Eher ist es wie die Ausstellung von Reliquien – es mag erbaulich sein, den Nimbus des Originalen zu erleben, viel mehr aber nicht. Was den Besuch der Ausstellung in der Kunsthalle lohnenswert macht ist der Sprung in die beiden oberen Etagen und die unsichtbare Verbindung zum Zettelkasten im Erdgeschoss.
Zunächst sind in der ersten Etage vor allem grafische Arbeiten des Bildhauers Ulrich Rückriem zu finden. Bei seinen Steinblock-Skulpturen hat Rückriem versucht, seine Monolithen nicht zufällig im Raum zu positionieren, sondern dem zufälligen Eindruck sollte ein Prinzip zugrunde liegen. Eines der Prinzipien, auf die Rückriem dabei zurückgriff ist das sog. Damenproblem, also die Stellung von acht Damen auf einem Schachbrett, die sich gegenseitig nicht schlagen können. Dafür gibt es 12 verschiedene Stellungsmöglichkeiten (bzw. 92 wenn man Brettdrehungen mit einbezieht). Rückriem hat einige Monolithgruppen nach diesem Schema gruppiert, wobei er zum einen auf einem nicht sichtbaren Spielfeld aufbaut, zum anderen auch mit anderen Brettgrößen spielt (z.B. mit 10×10 Feldern). Mit dem gleichen Schema hat Rückriem bei seinen grafischen Arbeiten experimentiert. Dabei hat er auf einer Feldmatrix die Kreuzungspunkte der Damenstellungen durch Linien verbunden und die dabei entstehenden Flächen schwarz oder farbig gestaltet. Heraus kommen dabei zum Teil kubistisch anmutende Figurationen, die nach willkürlicher Gestaltung aussehen, aber strengen Formprinzipien folgen. In diesen Figurationen lassen sich Formen wie Gesichter, Hände, Körper, Landschaften finden, die nicht beabsichtigt waren, sondern durch den Betrachter erst entdeckt werden müssen.
Ist bei Ulrich Rückriem der Zusammenhang mit Niklas Luhmann noch etwas bemüht, liegt er bei den Arbeiten des Fotografen Jörg Sasse auf der Hand. Hier sind es vor allem die Speicher-Skulpturen, die Eindruck hinterlassen und in enger Verbindung mit dem Prinzip des Zettelkastens stehen. Für eines seiner Speicherprojekte hat Sasse Postkarten gesammelt, gescannt, verschlagwortet, mit eindeutigen Stellnummern versehen und gerahmt – wobei in die Rahmen die jeweilige Stellnummer eingraviert ist. Über die Schlagworte und die damit verbundenen Stellnummern lassen sich nun Bildreihen zusammenstellen. Dies geschieht in der Ausstellung ganz praktisch: Hat der Besucher ein Schlagwort ausgewählt holt eine Mitarbeiterin zugehörige Bilder aus dem „Speicher“, einer Skulptur aus gestapelten Bilderrahmen in der Mitte des Raumes. So entsteht vor den Augen des Besuchers eine neue Zusammenstellung von Bildern mit überraschenden Eindrücken und Verbindungen zwischen den zufällig neu zusammengestellten Exponaten. Und bei jedem Besuch der Ausstellung kann sich der Besucher auf eine neue Ausstellungszusammenstellung einstellen – zumindest in den beiden Räumen, in denen die Speicher-Skulpturen stehen. Ergänzt werden die Speicher durch fotografische Stillleben, die Ausschnitte aus Fotos von Alltagsgegenständen zeigen, sowie „Tableaus“ genannte Arbeiten, bei denen fremde Amateurfotografien so bearbeitet und retuschiert wurden, dass neue Bildaussagen und zum Teil abstrakte Bildkompositionen erscheinen.
Das englische Wort „Serendipity“ bezeichnet die Fähigkeit, nach eingehenden Untersuchungen zufällig überraschende Entdeckungen zu machen. Dabei ist Serendipity ist ein Kunstbegriff, der auf den englischen Schriftsteller Horace Walpole zurückgeht. In einem Brief berichtet er von der Legende der Drei Prinzen von Serendip – ein alter Name für Sri Lanka. Die Prinzen ziehen wie in einer klassischen Detektivgeschichte aus zufälligen Beobachtungen die richtigen Schlüsse und können so Auskünfte geben über ein entlaufenes Kamel. Walpole findet in der Geschichte mehrfach Beispiele für glückliche Entdeckungen und spricht deshalb von „Serendipity“. Berühmtes Beispiel für Serendipität in der Wissenschaftsgeschichte ist die Entdeckung des Penicillins.
Hier schlägt sich der Bogen von der Kunst zurück zu Niklas Luhmann und von dort weiter zum kreativen Arbeiten, insbesondere dem Schreiben. Auch beim Schreiben ist das Prinzip der Serendipität von Bedeutung, egal ob es sich um eine Erzählung handelt, um einen wissenschaftlichen Aufsatz oder eine Predigt. Es sind die überraschenden Entdeckungen, die den Prozess des Schreibens so spannend machen. Serendipity verweist allerdings darauf, dass es nicht um puren, glücklichen Zufall geht, sondern um eine offene Haltung im Schreibprozess. Ein glücklicher Zufall wäre, wenn einem im Alltagsgeschehen, beim Spazierengehen, in den normalen Lebensvollzügen eine Idee einfach so zufliegt. So etwas mag es geben, aber beim Schreiben auf den Kuss der Muse zu warten hat nichts mit Serendipity zu tun. Serendipität ergibt sich aus der intensiven, gründlichen Arbeit, die aber wach und offen bleibt für überraschende Entdeckungen. Ohne den Zufall geht nichts, schreibt Luhmann, „geht jedenfalls nichts voran“. In der Offenheit der Schreibbewegung zwischen Ordnung und Chaos liegt das Glück des Findens.
P.S.: Gratulation an die Kunsthalle für eine wieder mal gelungene Ausstellung. Und vielen Dank an die freundlichen und hilfsbereiten Mitarbeiterinnen.