Maggie Nelsons schmales Buch „Bluets“ ist ein kleines Stück kostbare Literatur: poetisch, philosophisch, persönlich, derb und trotz Trostlosigkeit tröstend.
Als Joseph Joubert 1824 starb, hatte er zwar keine Zeile publiziert, aber jede Menge Notizzettel beschrieben, die sein Freund Chateaubriand 1838 in Auswahl posthum veröffentlichte. Ludwig Wittgenstein hat immerhin seine schmale Logisch-philosophische Abhandlung zu Lebzeiten veröffentlicht; aber sein Nachlass umfasst zigtausend Zettel mit Aphorismen und Notizen, die er nicht zu einer einheitlichen Theorie zuzubinden vermochte. Man kann beide als Maggie Nelsons Geistesverwandte sehen. Nelson hat über einen längeren Zeitraum die Farbe Blau erforscht und wie Joubert und Wittgenstein Material gesammelt „in Ordnern, in Kisten, in Notizbüchern, in meiner Erinnerung“. Die Idee war, „einen blauen Wälzer zu erschaffen, einen enzyklopädischen Leitfaden von blauen Beobachtungen, Gedanken und Fakten“ (Nr. 226). Daran scheitert Nelson, aber sie legt 2009 mit „Bluets“ eine gut 100 Seiten starke Sammlung von 240 Notizen vor, die sich hinter den Vorbildern nicht verstecken braucht. 2018 erschien bei Hanser eine Übersetzung von Jan Wilm.
Nelson verarbeitet in dem Text vordergründig die Trennung vom „Prinzen des Blauen“. Als sie sich mit ihm eines Nachmittags zum Sex im Hotel trifft, sieht sie später, während er schläft, eine blaue Plane im Wind flattern: „Es war eine Spur des Alltäglichen, eine blendend blaue Flocke inmitten all der muffigen Fügung. Es war das einzige Mal, dass ich kam.“ (Nr. 18) Ob die blaue Leidenschaft aus der Beziehung mit dem blauen Prinzen rührt, oder die Leidenschaft für den Geliebten aus der Leidenschaft für das Blaue hervorgeht, bleibt vage. Es ist ein Verliebtsein in eine Farbe (Nr. 2), die mit der sexuellen Leidenschaft einher-, aber nicht aus ihr hervorgeht (Nr. 49).
Ein zweiter Gedankenstrang, der das Buch durchzieht, ist das Schicksal einer Freundin, die durch einen Unfall querschnittsgelähmt ist, und die sich fragt, „was ein Leben lebenswert macht – wie sie es leben kann“ (Nr. 217). Es geht um Gott und Glauben, Literatur und das Schreiben, um Trennung, Einsamkeit, Trinken, Trauer, Depression und den Tod. Und es geht darum, dass es keinen Ausweg gibt: „130. Wir sind nicht in der Lage, die Dunkelheit zu lesen.“ Das reflexive Zentrum der vielen, angestoßenen Themen und literarischen Verweise ist die Farbe Blau.
Auch die Literatur und das Schreiben bieten keinen Ausweg: „183. … ich glaube nicht, dass das Schreiben die Dinge sonderlich verändert, wenn überhaupt. In den meisten Fällen belässt das Schreiben alles genauso, wie es ist. Was vollbringt ihre Lyrik? – Ich schätze, sie verleiht der Sprache eine Art blauer Tönung (John Ashberry).“ Natürlich hat Schreiben durchaus Funktionen: es hat etwas Ausgleichendes (Nr. 184), Balancierendes (Nr. 185) und ist „gut für die Erinnerung“ (Nr. 193) – aber auch dies wird von Nelson zugleich kritisch gewendet, weil das erinnernd aufbewahrende Schreiben in der Gefahr steht, dass das Medium der Bewahrung an die Stelle der erinnerten Erfahrung tritt.
In religiöser Hinsicht kann sich Nelson mit der Beschreibung als einem „spirituellen Krüppel“ (Nr. 124) identifizieren: „123. Wann immer ich von Glauben spreche, spreche ich nicht von einem Glauben an Gott. Wenn ich von Zweifel spreche, spreche ich ebenso wenig von einem Zweifel an der Existenz Gottes oder den Wahrheiten des Evangeliums. Solche Begriffe haben mir niemals viel bedeutet.“ Obwohl Nelson zugesteht, dass Einsamkeit und Schmerz zu einer „Vorstellung des Göttlichen“ (Nr. 4) führen und Gott bei manchen eine existentielle Leere füllen kann (Nr. 209). Aber das macht Nelson zugleich misstrauisch. Ihre brennenden Dornbüsche sind blaue Objekte, gleichsam „Fingerabdrücke Gottes“ (Nr. 3). Glauben entsteht bei Nelson aus der Begegnung mit ihrer querschnittsgelähmten Freundin, von der Nelson sagt, sie habe „den leuchtenden Kern ihrer Seele“ (Nr. 218) gesehen, und dieses Sehen hat Nelson zu einer Gläubigen gemacht: „220. Stell dir vor, jemand sagt: ‚Unser Grundzustand ist Freude.‘ Jetzt stell dir vor, du glaubst das.“ 221. Oder vergiss Glauben: Stell dir vor, du fühlst – wenn auch nur für einen Moment -, dass es wahr wäre.“
Die Zusammenhänge ergeben sich oft über sprachliche Assoziationen, etwa von „blue“ über „Blues“ zu „Les Bluets“. Joan Mitchells abstraktes Gemälde „Les Bluets“, entstanden in Nelsons Geburtsjahr 1973, avanciert zum Lieblingsbild der Autorin – obwohl sie erst spät entdeckt, dass Bluets keine besonderen französischen Blumen sind, sondern schlichte, struppige, wilde und kräftige Kornblumen, wie es sie auch in Amerika gibt (Nr. 224+225; unerwähnt bleibt dabei die besondere politische Konnotation, die Kornblumen in Deutschland und vor allem Österreich haben).
„Bluets“ ist kein philosophisches Buch. Die manchmal nur einen Satz langen und selten mehr als 200 Wörter umfassenden Notizen sind poetische Kurzessays oder Prosagedichte, kurzum: in einer kleinen Form große Literatur: „229. All das schreibe ich in blauer Tinte, um mich daran zu erinnern, dass nicht nur manche, sondern alle Worte in Wasser geschrieben sind.“
Auf der Verlagsseite bei Hanser gibt es eine Leseprobe.