“Die Sprache der Predigt ist wie alles menschliche Sprechen radikal perspektivisch”, schreibt David Buttrick. Der Satz leuchtet zwar unmittelbar ein, aber in der homiletischen Literatur taucht die Frage nach der Perspektive kaum auf. Vielleicht liegt es daran, dass die Frage nach der Perspektive vor allem im Blick auf narrative und fiktionale Texte auf der Hand liegt. Doch wenn alles Sprechen perspektivisch ist, wie Buttrick behauptet, dann gilt das eben auch für die Predigt und dann wäre die Frage zu stellen, warum denn ein Nachdenken über die Perspektivität der Predigt sich lohnen könnte.
Welche Gründe führt Buttrick selbst an? Das grundlegende Argument ist, dass Predigerinnen und Prediger sich der Perspektivität ihres Redens überhaupt erstmal ein bewusst werden müssen. Nach wie vor – Buttricks Buch „Homiletics. Moves and Structure“ erschien bereits 1988 – dominiert in der Predigt die Beobachterperspektive in der dritten Person. Diese Perspektive steht für Neutralität und dieser neutrale Redner, spricht über Sachverhalte wie ein Journalist oder ein Wissenschaftler in einem Aufsatz. Aber natürlich ist diese Sprechposition nie wirklich neutral. Der “neutrale Sprecher” ist nur ein Standpunkt unter verschiedenen möglichen. Die Wahl der neutralen Sprechperspektive ist also keine Frage des Stils. Wer in der Predigt die Position eines neutralen Standpunkts einnimmt, sollte zumindest wissen, dass er es tut – und möglichst auch, warum.
Der zweite und weitaus wichtigere Grund, den Buttrick nennt, ist, dass heutige Hörerinnen und Hörer Multiperspektivität gewohnt sind und zuweilen auch erwarten: “Wenn wir in einer Predigt nie die Perspektive wechseln, wird das Ergebnis bestenfalls eine Aura gestelzter Unwirklichkeit haben und schlimmstenfalls völlig langweilig sein. Variable Blickwinkel prägen unseren Alltag und sollten daher auch in der Sprache auf der Kanzel auftauchen.” Selbst Beiträge in Nachrichtensendungen sind heute durch verschiedene Sichtweisen geprägt: Die Reporterin nimmt eine neutrale Sprechposition ein, während die dazu gezeigten Bilder verschiedene Ansichten beispielsweise von Demonstranten und Gegendemonstranten zeigen; Demonstranten kommen zu Wort, ebenso Einsatzleiter der Polizei und Politiker unterschiedlicher Couleur. In seinem Move-Konzept sollte nach Buttrick jeder Move durch eine Perspektive ausgezeichnet sein.
Neben der Reflexion steckt in der Bewusstmachung der Perspektivität der Predigt auch ein großes kreatives Potenzial. Kreativität bedeutet nicht nur fantasievoll, originell und inspiriert zu sein, sondern vor allem: neue Sichtweisen entdecken und ermöglichen. Buttrick verbindet Perspektivität und Kreativität zwar nicht explizit miteinander und ist insgesamt sehr zurückhaltend, was den Kreativitätsbegriff angeht, weil er ihn zu sehr in Verbindung sieht mit Kunst – und Predigen ist für Buttrick, wie er immer wieder betont, keine Kunst – gleichwohl ist Predigen ein kreativer Prozess. Wenn Buttrick zum Beispiel Analogiebildung als wesentliches Element der Glaubenssprache bezeichnet, in der verschiedene Sachverhalte und Sichtweisen auf neue Art miteinander verbunden werden, dann ist Perspektivität in der Predigt immer auch Ausdruck ihrer Kreativität.
Es gibt also gute Gründe, über die Perspektive in der Predigt nachzudenken. Ein wichtiger Schritt dazu wäre die Klärung der Begrifflichkeiten. Ich habe bislang gesprochen von Perspektive, Standpunkt, Blickwinkel, Sprechposition und Sichtweise. Geprägt sind die Begriffe durch die Metapher des Sehens. Aber sind Perspektive und Blickwinkel tatsächlich synonym? Buttrick scheint die Begriffe „perspective“ und „point-of-view“ tatsächlich synonym zu verwenden. Da im Deutschen „point-of-view“ oft mit „Perspektive“ bzw. in Bezug auf narrative Texte mit “Erzählperspektive” übersetzt wird, könnte man durchgehend „Perspektive“ sagen. Allerdings sind die Begriffe auch bei Buttrick nicht vollständig deckungsgleich und im Englischen unterscheidet sich die Bedeutung je nach Kontext. Beim Point-of-View etwa ist die Erzählperspektive in der Erzähltheorie zu unterscheiden von der filmischen Point-of-view-Einstellung, in der die Kamera etwas aus Sicht einer Figur zeigt (subjektive Kamera). Eine dritte Verwendungsweise ist Point-of-view als Sichtweise, Standpunkt oder Meinung.
Die filmische Point-of-view-Einstellung könnte man vergleichen mit dem Ich-Erzähler in der Erzähltheorie. Laut der einflussreichen Erzähltheorie Franz Karl Stanzels gibt es aber zudem den auktorialen sowie den personalen Erzähler. Die meisten deutschen Leser werden diese Differenzierung im Hinterkopf haben, wenn von Erzählperspektive die Rede ist. Genauso einflussreich ist aber der strukturalistische Ansatz etwa bei Gérard Genette, dessen Theorie zahlreiche Erzählmodi differenziert, etwa wie mittelbar oder unmittelbar eine Rede ist, wer überhaupt redet, und was der, der redet, über die Figuren weiß, von denen er erzählt. Der von Genette eingeführte Begriff der Fokalisation findet im Fokussierungsbegriff bei Buttrick einen leichten Nachhall. In der englischsprachigen Textanalyse wird zudem der Point of View des Sprechers, also das, was er von seinem Standpunkt aus sehen kann, von etwas unterschieden, was man “Perspektive im engeren Sinn” bezeichnen könnte, nämlich die “Brille”, durch die jemand auf etwas sieht, z. B. als Mann des 20. Jahrhunderts mit einem gewissen Erfahrungsschatz, mit Vorurteilen etc.
Die Metapher der Perspektive ist also alles andere als selbstverständlich. Buttrick meint: “Mag die Frage der Perspektive in der Sprache auch kompliziert erscheinen, können Predigende es sich doch nicht leisten, die Probleme – oder die Möglichkeiten – zu ignorieren.” Ein Problem ist natürlich, dass die Erzähltheorie als Hintergrund sich nur eingeschränkt auf die Predigt als non-fiktionalem, non-narrativem Text anwenden lässt. Natürlich gibt es narrative Predigten, denen es nicht schaden würden, erzähltheoretisch informiert zu sein: Was zum Teil als narrative Predigt von den Kanzeln tönt, kann einem die Haare zu Berge stehen lassen. Was bedeutet also “Perspektive” für die nicht-narrative Predigt? Ein besonderer Fall ist dabei sicherlich das Ich-Sagen auf der Kanzel. Allein indem Sprecherinnen und Sprecher „Ich“ sagen, lösen sie ja die Perspektivfrage nicht. Zwar machen sie bestimmte Dinge sichtbar (sie sprechen „persönlich“), aber diese Person ist eine Maske und Rolle, keine authentische Sprecherposition (wenn es so etwas denn gibt). Vielleicht kann man sagen: Es gibt eine Art „homiletisches Ich“, das persönliche wirkt, aber nicht ist, sondern einen speziellen Point of View in der Rede darstellt. Wenn man darüber nachdenkt, erkennt man schnell typische homiletische Perspektiven: Neben der Beobachter-Perspektive auf jeden Fall die Ich- und Wir-Perspektive, aber auch – wenn auch seltener und perspektivisch komplizierter – eine Du- oder Ihr-Perspektive.
Die Bedeutung der Perspektive für die Predigt zu entdecken und Multiperspektivität in der Predigt zu entwickeln, scheint mir heute mehr denn je wichtig zu sein. “Mit Predigten, die verschiedene Perspektiven zum Ausdruck bringen sollen, können wir für den Geist unserer Zeit relevant und, wenn es gut geht, auch interessant sein!”, schreibt Buttrick: “Wir brauchen also keine Angst vor der Perspektive in der Sprache zu haben, sondern, wenn wir lernen, den Point-of-View zu kontrollieren, dann können wir mit ungewöhnlicher Kraft predigen.”