Zum heutigen Predigttext zur Geschichte vom Pharisäer und vom Zöllnern hatte ich zufällig während des Lockdowns schon einmal ein Predigt vorbereitet: für den Video-Doppelpunkt-Gottesdienst in Beckum. Der damalige Gottesdienst war sehr geprägt vom Lockdown und den großen Unsicherheiten. Hier noch ein paar andere Gedanken zur Geschichte. Zum Zitat von Richard Rohr habe ich neulich im Blog schonmal was geschrieben. Passend zum Thema muss ich allerdings demütig eingestehen: Die Predigt vom Mai war besser als die von heute: „Imperfection is all I can offer.“
Gebet
Gnädiger Gott,
wir sind so sehr in verstrickt
in unsere Lügengeschichten, unser Schauspiel vor anderen,
unsere Halbwahrheit –
mit jedem Versuch, uns zu befreien,
verheddern wir uns nur mehr und mehr:
Dinge, die wir verschuldet haben und die wir verbergen wollen.
Dinge, an denen wir unschuldig sind
und die uns doch vorgeworfen werden.
Wir werden an uns selbst schuldig,
und an den Menschen, die wir lieben.
Wie oft möchten wir Taten ungeschehen machen,
wie oft ein böses Wort wieder zurücknehmen,
neu anfangen.
Wenn du uns freisprichst, sind wir frei
aufeinander zuzugehen.
Gib uns dazu ein wenig ab
von deiner großen Güte und Barmherzigkeit.
Predigt-Gedanken
Während des Corona-Lockdown gab es dauernd Anzeigen bei Polizei. Menschen, sie sich streng an die Regeln hielten, riefen an, weil sie Leute beobachteten, die sich auf Straße unterhielten und sie ahnten: Die gehören keinem gemeinsamen Haushalt an.
Rechtschaffenheit hat viele Gesichter. So gab es jüngst einen Sturm der Entrüstung, weil die Deutsche Forschungsgemeinschaft zu ihrem Jubiläum ein Statement von Kabarettist Dieter Nuhr abgedruckt hatte: Was Nuhr sagte, war völlig korrekt. Kritisiert wurde er nicht dafür, sondern für seine Meinung in der Klima-Diskussion. Andere kritisieren den Klassiker „Onkel Toms Hütte“. Das Buch hatte einst wesentlichen Anteil an Abschaffung der Sklaverei. Allerdings werfen einige Menschen der Autorin vor, dass der Roman aus heutiger Sicht rassistische Klischees enthalte, z.B. das Klischee vom braven Schwarzen, der sich lieber schlagen lässt, als aufzubegehren.
Ja, Rechtschaffenheit hat viele Gesichter. Gefordert wird moralische Makellosigkeit. Mein Vikariats-Mentor sprach damals oft von den „Hochwohlanständigen“ in der Gemeinde. Er meinte Menschen, die alles genau nehmen und sich darum bemühen, alles richtig zu machen – und das in gleichem Maße von anderen verlangten. In einem Gleichnis ließ Jesus mal so einen Hochwohlanständigen auf einen treffen, der offenbar viel falsch gemacht hat.
»Zwei Männer gingen zum Tempel hinauf, um zu beten; der eine war ein Pharisäer und der andere ein Zolleinnehmer. Der Pharisäer stellte sich selbstbewusst hin und betete: ›Ich danke dir, Gott, dass ich nicht so bin wie die übrigen Menschen – ich bin kein Räuber, kein Betrüger und kein Ehebrecher, und ich bin auch nicht wie jener Zolleinnehmer dort. Ich faste zwei Tage in der Woche und gebe den Zehnten von allen meinen Einkünften.‹ Der Zolleinnehmer dagegen blieb in weitem Abstand stehen und wagte nicht einmal, aufzublicken. Er schlug sich an die Brust und sagte: ›Gott, vergib mir sündigem Menschen meine Schuld!‹
Ich sage euch: Der Zolleinnehmer war in Gottes Augen gerechtfertigt, als er nach Hause ging, der Pharisäer jedoch nicht. Denn jeder, der sich selbst erhöht, wird erniedrigt werden; aber wer sich selbst erniedrigt, wird erhöht werden.«
(aus Lukas 18, Neue Genfer Übersetzung).
Rechtschaffenheit ist längst kein religiöser Begriff mehr. Rechtschaffen ist, wer sich für besser hält als andere. Ein anderes Wort dafür ist Selbstgerechtigkeit.
Lange Zeit waren die Rollen in dieser kleinen Geschichte eindeutig besetzt: Der Pharisäer war selbstgerecht und schlecht, der Zolleinnehmer demütig und gut. Aber so einfach ist es nicht.
Dem Rechtschaffenen geht es ja nicht nur um Regeln. Der Rechtschaffene meint es gut. Es geht ihm darum, das Richtige zu tun. Weil sie andere für deren Verhalten kritisieren, wirken sie oft stolz und besserwisserisch. Damit machen die Rechtschaffenen es ihren Kritikern aber auch leicht. Man nennt sie heute abwertend „Gutmenschen“ oder „politisch Korrekte“.
Das eine Problem ist: Sie wollen, dass andere es auf die gleiche Weise gut meinen, wie sie selbst. Das andere Problem ist: Die Beispiele für Rechtschaffenheit sind oft auch bloß Klischees: Der Radfahrer, den Autos auf Radweg aggressiv machen oder der Veganer, der auf Honig, Käse und Gummibärchen mit Standpauken reagiert. Der Punkt ist nämlich: Der Pharisäer ist nicht der andere, der es falsch macht. Der Pharisäer bin ich: Ich, der ich meine, alles richtig zu machen – und der ich mich ärgere über die Leute, die in meinen Augen alles oder zumindest viel falsch machen.
Was den Zolleinnehmer dagegen auszeichnet ist die sympathische Tugend der Demut. Allerdings ist die Demut eine tückische Tugend. Der spanische Mystiker Francisco de Osuna hat einmal versucht zu erklären, was Demut ist, und was nicht. Demut bedeute nicht Kleinmut, Unterwürfigkeit, Feigheit oder seine Fähigkeiten unter einen Scheffel zu stellen. Nein, Francisco versteht Demut als einen von zwei Flügeln – nämlich Demut und Edelmut – mit denen die Seele sich zu Gott erhebt.
Was ich daran richtig finde: Demut heißt nicht, sich kleiner zu machen, als man ist. Aber eine Demut, mit der man sich selbst erhebt, ist keine Demut. Man kann nicht stolz auf seine Demut sein. Das Problem steckt schon in der Aussage von Jesus: „Wer sich selbst erhöht, wird erniedrigt werden, wer sich selbst erniedrigt, wird erhöht werden.“ Wer meint, durch Selbsterniedrigung sich selbst erhöhen zu können, der irrt. Das wäre nur eine demütige Form der Rechtschaffenheit. Nein, die Demut taugt nicht als Flügel, um seine eigene Seele empor zu heben.
Das Dilemma des Rechtschaffenen ist: Er will zwar das Gute und Richtige, aber leider Gottes endet das oft in Selbstgerechtigkeit: „Ich mache es richtig, die andern machen es falsch. Zum Glück bin ich nicht wie die …“
Ich zitiere gern einen Satz des Franziskaners Richard Rohr: „Imperfection is all I can offer.“ Das kann man so übersetzen: „Alles, was ich zu bieten habe, ist Unvollkommenheit.“
Was ich an der Figur des Zöllners mag, ist: Er macht sich nichts vor. Er schlägt sich auf die Brust und sagt: „Ich habe nichts zu bieten. Nur Brüche und Sprünge, nur meine Unvollkommenheit.“ Klar, auch der Zolleinnehmer bemüht sich. Er macht ja nicht alles falsch. Aber er weiß, dass er eben immer wieder Fehler macht und an eigenen und fremden Ansprüchen scheitert. Deshalb sieht er keinen Grund, stolz auf andere herab zu sehen. Er geht nach Hause mit seinen Selbstzweifeln, mit seiner Scham, mit Schuldgefühlen. Aber er ist aufrichtig und darum geht er aufgerichtet und aufrecht nach Hause.
Segen
Gott segne dich mit dem Glück der rechten Entscheidung.
Gott segne dich mit Reichtum an Erfahrung.
Und Gott segne dich mit der Gabe
durch falsche Entscheidungen an Erfahrung reicher zu werden.
Möge dir aus jedem Körnchen Missgeschick
eine Ähre neuen Glücks erwachsen.
Mögest du mit deinem Schatz an Erfahrung
auch andere reich machen.
Und mögest du auf allen eingeschlagenen Wegen
– den Leichten wie den Schweren –
Gottes schützende und bewahrende Hand spüren.