In Schleiermachers fünfter und letzter Rede über die Religion geht es um Religionen insgesamt. Schleiermacher weist einen rationalistischen „natürlichen“ Religionsbegriff zurück, der eine Art konstruierter Vernunftreligion vorschlägt und die oft nichts weiter ist als religiös verbrämte Ethik und Metaphysik. Schleiermacher besteht im Gegensatz dazu auf empirischer Religiosität. Das Phänomen „Religion“ ist dabei vielfältig. Es lässt sich nicht auf einen Kern reduzieren, der allen Religionen gemein wäre. Auch die einzelnen Religionen sind durch Vielfalt gekennzeichnet. Wenn Schleiermacher über die Vielfalt der Religionen schreibt, macht er dies nicht von einem neutralen Standpunkt aus, sondern seine Sicht ist durch Vorurteile und eine Art religiöse Hierachie geprägt: Das Christentum stellt für ihn dabei die Religion der Religionen dar. So kritisch man einzelne Details wie etwa Schleiermachers Antisemitismus sehen muss, so bedeutsam ist nach wie vor sein (phänomenologisches bzw. religionssozioligisches) Grundverständnis von Religion. Auch hier versuche ich in meiner Zusmmenfassung den Redecharakter des Ursprungstextes in beizuhalten.
Über die Religionen
Sind die Leserinnen und Leser der Argumentation bisher gefolgt, sollten sie mittlerweile eine gewisse Achtung vor dem Religiösen und religiösen Menschen haben. In einem letzten Schritt soll es nun darum gehen, die Religion darzustellen, in der Gott als einfacher, bedürftiger Mensch erschienen ist (237f). Diese Religion ist so etwas wie die religiöse Reinform, die sich in allen Religionen entdecken lässt.
Ein Blick in die Welt verrät zunächst einmal: Es gibt eine große religiöse und kirchlich-konfessionelle Vielfalt. Nun ist die Vielfalt der Konfessionen problematisch, sofern sie sich in Sekten und in ein Gegeneinander von Konfessionen aufspaltet (wie in der 4. Rede schon ausgeführt), weil die wahre Kirche zur Einheit hindrängt. Bei der religiösen Vielfalt ist dies allerdings anders, weil sie geradezu vorausgesetzt wird, da sie in der Religion wesenhaft angelegt ist: „denn der Mensch ist endlich und die Religion ist unendlich“ (240). Deshalb kann niemand die Religion ganz, sondern immer nur individuell erfassen. Ohne individuelle Wahrnehmung wäre Religion nicht wahrnehmbar. Der Versuch, die Religionen auf einen Kern zu reduzieren, muss daher scheitern.
In der Aufklärung wurde mit der Idee der „natürlichen Religion“ genau dies versucht: Im Unterschied zur „positiven Religion“, die empirisch gegeben und durch jeweilig besondere Ausprägung gekennzeichnet ist, haben Religionskritiker an der philosophischen Idee einer natürlichen Religion, die mit Vernunftgründen zu erschließen ist, durchaus Gefallen gefunden. Bei genauer Betrachtung zeigt sich aber, dass empirisch vorfindliche, konkrete Religionen mit ihren Besonderheiten und Eigentümlichkeiten weitaus interessanter sind.
Man kann natürlich einwenden, dass die Ausprägungen und Besonderheiten konkreter Religionen doch gerade der Grund für ihre Ablehnung seien, weil sie zu Streit führten, denn schließlich hielten doch alle Religionen den eigenen für den wahren Glauben und lehnten andere Religionen ab (245). Das spreche doch für eine natürliche Vernunftreligion. Dieser Einwand ist nicht von der Hand zu weisen. Allerdings muss man auch sehen, dass das, was hier zu Recht kritisiert wird, dadurch entsteht, dass Menschen das Religiöse mit ihrem bürgerlichen Dasein verbinden und in festgelegte Formen zwängen, also das Unendliche in eine beschränkte Hülle fassen. Wenn man sich aber konkrete Religionen genauer ansieht, wird man bald feststellen, dass das, was sich jetzt als „Kodex leerer Gebräuche“ und ein „System abstrakter Begriffe und Theorien“(247) zeigt, ursprünglich einmal von einem inneren Feuer erfüllt war. Es ist deshalb ratsam, für einen Augenblick einmal von den historisch kontingenten Formen positiver Religionen abzusehen, und nach der Idee zu fragen, die einer konkreten Religion zugrunde liegt (248f). Man wird dann leicht herausfinden, dass sich in den endlichen Formen immer noch Spuren der unendlichen Religion finden. Beim Konzept der natürlichen Religion ist das nicht der Fall.
Der Grund dafür ist, dass die Anschauung des Unendlichen subjektiv ist und jedem anders erscheint. Es ist gerade die Vielfalt, die Religion auszeichnet. Man irrt also, wenn man meint, eine Religion zeichne sich aus durch eine gewisse Menge an inhaltlichen Übereinstimmungen (250), wie es oft behauptet wird. Im Gegenteil ist Religion immer im Fluss (252). Einen inneren Zusammenhang der verschiedenen Anschauungen und Gefühle des Universums gibt es nicht. Wer diesen Zusammenhang durch ein System darstellen will, geht ebenso am Wesen der Religion vorbei, wie der, der einen Ausschnitt aus dem Unendlichen zum Ganzen erklärt und damit eine Sekte schafft, dem irreligiösesten Begriff, den es gibt (253). Lebendige Religion entwickelt sich dagegen wie eine Pflanze, die nach außen treibt, und der immer neue Zweige wachsen (254f). Statt den religiösen Stoff zu begrenzen, eignet Religion sich vielmehr immer mehr Stoff an.
Auch in formaler Hinsicht lässt die Vielfalt der Religionen sich nicht auf eine bestimmte Form reduzieren. Die drei schon in der zweiten Rede (vgl. 126) erwähnten Arten, das Universum anzuschauen, nämlich als großes Chaos, als Vielheit oder als System (255), sind letztlich drei verschiedene Arten von Religion, aber keine bestimmten Formen. Der Versuch, dem Begriff der Religion durch Bildung von Arten und Unterbegriffen nachzukommen, funktioniert nicht, weil mit dieser Einteilung nichts gewonnen ist. Auch eine Unterteilung in einen religiösen Personalismus (einen persönlichen Gott) und Pantheismus führt nicht weiter, weil diese Unterscheidung sich durch drei genannten Religionsarten zieht. Man könnte beide Unterteilungen natürlich kombinieren, aber damit würde man nur ein sechsgliedriges, typologisches Raster bekommen, das aber immer noch nicht alle Formen der Religion fassen kann – auch die sog. natürliche Religion lässt sich darin nicht verorten.
Art | Chaos (Fetischismus) | Vielheit (Polytheimus) | System (Monotheismus) |
---|---|---|---|
Personalismus | X | X | X |
Pantheismus | X | X | X |
Was eine einzelne Religion ausmacht, das ist eine besondere Anschauung des Universums, in der „Alles gesehen und gefühlt wird“ (260), und die zum Zentrum der ganzen Religion wird, indem alles darauf bezogen ist. Sie ist insofern eine Häresie (im positiven, weil im Wortsinn), weil sie auf einem willkürlichen und frei gewählten Dogma gründet. Religionsstifter ist, wer als erstes diese Anschauung hatte. Er erbaut gewissermaßen das Religionsgebäude auf einem unendlich großen, religiösen Feld, auf dem es ausreichend „unbebaute Gegenden“ (264) gibt, so dass jeder seine eigene Religion bauen könnte. In der Regel ist es aber nicht so, dass jeder seine Religion baut, sondern andere „wohnen“ (262) in dem Religionsgebäude, das ein Stifter gebaut hat. Diese objektiven Beschreibung einer Religionsentstehung ist zu ergänzen durch eine subjektive Seite, in der ein einzelner Mensch Teile eines großen Ganzen wahrnimmt, aber nur zusammen mit anderen sich der Ganzheit der Anschauung annähern kann (265). Der Eintritt eines Einzelnen in das Bewusstsein des Großen und Ganzen einer positiven Religion ist der zuweilen datierbare „Geburtstag seines geistigen Lebens“ (268).
Die aufgeklärten und religionskritischen Anhänger einer natürlichen Religion, die sich die Freiheit des Glaubens auf die Fahnen schreiben, können das Phänomen der Religion dagegen nicht einmal annäherungsweise beschreiben (272). Letztlich spielt Religion bei Ihnen gar keine große Rolle. Ihre Religion bleibt eigentümlich leblos. Vermischt mit Moral und Philosophie wird Religion hier Teil eines Erziehungs- und Bildungskonzeptes. Kritisch sehen sie alles, was eine positive Religion als besonders auszeichnet, weil in ihrem Konzept einer Vernunftreligion alles gleichförmig sein muss, am Ende allerdings bloß „gleichförmig im Unbestimmten“ (273) ist. Im Kern ist natürliche Religion nichts weiter als polemische Ablehnung religiöser Konkretheit, Geschichtlichkeit und Eigentümlichkeit (277). So lange Religion aber unbestimmt bleibt, so lange ist sie bloß „loser unzusammenhängender Stoff“ (278).
Kehren wir also zurück zur empirischen Religiosität in ihren konkreten Formen und besonderen Inhalten. Geheimnisvolles, Unverständliches, ja Groteskes sollte nicht abschrecken. Auch sollte das, was man vorfindet, weder als bloße Phantasie und Erfindung abgetan werden, noch sollte man sich allein auf die großen Religionen beschränken, denn damit übersieht man schnell, jene besonderen Formen der Religiosität, die nur von wenigen geteilt wurden und den meisten verborgen geblieben ist.
Aber selbst wenn man diese vielen Formen in den Blick nimmt, wird man am Eigentlichen der jeweiligen Religion vorbeisehen, wenn man nur abstrahierend nach dem Allgemeinen fragt. Entscheidend ist, herauszufinden, was die Grundanschauung ist. Es geht nicht darum, was der Wesen der Religion im allgemeinen ist, sondern zu erfassen, was das Wesen einer speziellen Religion ist. Dabei gilt es, den Irrtum zu vermeiden, den Anfang der Anschauung, der als heiliger Moment, als direktes Wirken Gottes verstanden wird, mit der Grundanschauung gleichzusetzten, nur weil dieser Anfangsmoment überall in dieser Religion präsent ist. Im Zentrum steht die Anschauung des Unendlichen im Endlichen (283f).
Nicht alles, was die großen Gestalten oder Schriften der Religion sagen, ist auch religiös. Man muss sich klar machen, dass beim Schreiben oder Reden dieser Grundtexte niemand daran gedacht hat, das Nicht-Religiöse auszusparen. In den Texten tauchen Weltklugheit und Moral, Metaphysik und Poesie auf, ohne dass sie notwendig zur jeweiligen Religion gehören. Auch findet man den Geist einer Religion nicht unbedingt bei strengen Systematikern, die die Religion in Lehrsätze fassen und scharfe Grenzen ziehen wollen, noch bei den religiöse Indifferenten, die den Religionskritikern und Religionslosen möglichst weit entgegenkommen wollen und alles alles als toten Buchstabenglauben ablehnen, was eine Religion besonders auszeichnet. Finden wird man den Geist einer Religion dagegen bei denen, die in ihr leben, ohne zu meinen, sie ganz begriffen zu haben (285). Letzten Endes kann Religion wohl „nur durch sich selbst verstanden werden“ (286), als aus einer Innenperspektive heraus – egal, ob das nur Stammesreligionen sind oder Mythologien der Griechen und Römer. Mir liegt aber besonders daran, die richtige Perspektive nicht auf fremde, sondern auf die eigene Religion einzunehmen.
Betrachten wir zum Beispiel das Judentum (S. 287f – Kritische Randbemerkung: Bei allem Respekt vor Schleiermachers Denken dürfen die antisemitischen Vorurteile, die sein Werk auch durchziehen, nicht verschwiegen werden, wenn er hier z.B. von einer „toten Religion“ spricht und seine Darstellung des jüdischen Glaubens sehr verzerrend ist): Blendet man die moralischen und politischen Elemente aus, mit denen der jüdische Glaube oft dargestellt wird, so sieht man als Kernidee den Zusammenhang von Tun und Ergehen, der sich in der Spannung von Freiheit und Strafe zeigt. Alles Geschehen in der Welt wird in dieser Spannung gedeutet und daraus geht hervor, was den jüdischen Glauben auszeichnet: die Bedeutung des Dialogs, die Heiligkeit der Tradition, die Gabe des Weissagung, der Messiasglaube. Das war alles so lange lebendig, so lange der Dialog nicht als heiliges Buch fixiert wurde.
Die ursprüngliche Anschauung des Christentums geht über diese Perspektive hinaus, weil hier das Endliche vollständig der Einheit des Universums entgegenstrebt und Menschliches und Göttliches zusammenbringt, und zwar aus einer eigenständigen, freien Entscheidung heraus (288). Die Spannung, die hier das wesentlich Religiöse ausmacht, ist die zwischen Verderben und Erlösung, sowie Feindschaft und Vermittlung und Versöhnung (291). Im Christentum wird das Religiöse selbst zum Gegenstand der Religion und versucht sich von allem Nicht-Religiösen abzugrenzen: „jede falsche Moral, jede schlechte Religion, jede unglückliche Vermischung zwischen beiden“ (294). Das Christentum betritt gewissenmaßen eine religiöse Metaebene. Es grenzt sich dabei in polemischer Weise doppelt ab: Einmal nach außen, indem das Christentum von Anfang an die heidnische Trennung von Gotteswelt und Menschenwelt ablehnt und Gott mitten ins Leben holt, denn in Gott leben, weben und sind wir, wie man in Anlehnung an Paulus sagen kann (Apg. 17,27; 295). Das Christentum grenzt sich aber auch nach innen ab, indem es sich permanent kritisch mit allem auseinandersetzt, was innerhalb der Gemeinde geschieht (295f). Das ganze Leben steht unter einer religiösen Perspektive: „Jede Unterbrechung der Religion ist Irreligion“ (298) und alles muss durch religiöse Gefühle und Ansichten begleitet sein, Religion ist der „Grundton, auf den sich alles bezieht“ (299).
Das Besondere an Jesus Christus als dem Stifter des Christentums ist weder seine Ethik, denn die entspricht der Ethik jedes einsichtigen Bewusstseins, noch sein sanfter Charakter, denn das bleibt letztlich etwas bloß menschliches. Das Besondere an Christus ist vielmehr der Gedanke, dass es notwendig eine Vermittlung braucht, um das Endliche mit dem Göttlichen zusammenzubringen, damit das Endliche sich nicht immer weiter vom Universum entfernt und in die Leere und das Nichts entgleitet (302). Noch im Angesicht das Todes und von allen verlassen war Jesus sich dieser Sache gewiss. Er behauptete weder, der Messias noch der einzige Mittler zu sein, noch hat er seine Lehre als den ganzen Umfang der Religion angegeben. Das Zentrale war der Geist, aus dem heraus er gesprochen hat und der auf Freiheit zielt (305). Darum ist im Prinzip jeder ein Christ, der diese Anschauung teilt, unabhängig davon, welcher Religion er angehört. Die Lebendigkeit des Christentums hat auch die Bindung im und an den biblischen Kanon nicht verhindern können: „das Prinzip ist echt christlich, solange es frei ist“ (306).
Im Prinzip ist jede religiöse Grundanschauung ewig, auch wenn jede positive Religion selbst vergänglich ist und irgendwann nur noch ein Fall für das historische Museum ist. Das Christentum steht als Religion insofern darüber, als es seine eigene Vergänglichkeit bereits mitdenkt. Christen wird es dennoch immer geben, weil das Christentum als „Religion der Religionen“ (310) immer neuen religiösen Stoff aufnimmt und für die eigene Anschauung fruchtbar macht. Religiöser Pluralismus ist für das Christentum wesentlich und „so wie nichts irreligiöser ist als Einförmigkeit zu fordern in der Menschheit überhaupt, so ist nichts unchristlicher als Einförmigkeit zu suchen in der Religion“ (310). An sein Ende kommt das Christentum erst dann, wenn keine Vermittlung mehr nötig ist zwischen dem Endlichen und dem Unendlichen – was aber eigentlich erst jenseits der Zeit, in der Ewigkeit möglich ist.