Das rote Notizbuch

Eines meiner Lieblingsweihnachtsbücher ist „Wirklich wahre Weihnachtsgeschichten“ von Margret Rettich, das in meiner Ausgabe noch in einen leuchtendroten Umschlag eingebunden ist. Sind die Geschichten wirklich wahr? – „Solange auch nur ein Mensch daran glaubt, gibt es keine Geschichte, die nicht wahr sein kann“, sagt der Ich-Erzähler in Paul Austers kleiner Erzählung „Auggie Wrens Weihnachtsgeschichte“. Im Film „Smoke“ stellt Harvey Keitel diesen Auggie Wren dar und er erzählt auch eine Geschichte, von der unklar ist, ob sie wirklich wahr ist. Aber was heißt das schon? Paul Auster hat in einem „roten Notizbuch“ höchst unwahrscheinliche, von merkwürdigen Zufällen geprägte, wirklich wahre Geschichten gesammelt.

Eine der Geschichten handelt davon, wie Auster einmal von einem Telefonanruf aus seiner Schreibarbeit gebracht wird: Jemand will mit der Detektivagentur Pinkerton verbunden werden. Am nächsten Tag klingelt erneut das Telefon. Wieder will jemand Pinkterton sprechen. Als Auster wieder aufgelegt hat, fällt ihm ein, er hätte einfach so tun können, als wäre er Detektiv, um zumindest in Erfahrung zu bringen, was der Anrufer von einer Detektei will. Paul Auster nimmt sich vor, beim nächsten Anruf dieses Spiel zu spielen, aber dann kommt kein Anruf mehr. Aber Auster denkt die Geschichte weiter, was wäre wenn … Die Episode inspiriert Auster zu seinem Roman „Stadt aus Glas“ um einen Schriftsteller Namens Daniel Quinn, der auf genau diese Weise in einen Detektivgeschichte verwickelt wird. Zehn Jahre nachdem „Stadt aus Glas“ erschienen ist, klingelt bei Auster wieder das Telefon. Dieses Mal will jemand einen „Mr. Quinn“ sprechen. Auster hält es erst für einen Scherz, aber der Anrufer meint es ernst. Auster notiert die Geschichte in seinem „Roten Notizbuch“, das, als es unter diesem Titel veröffentlicht wird, noch zwölf weitere, unwahrscheinliche, wahre Geschichten enthält.

„Stadt aus Glas“ ist der erste Teil einer Romantrilogie. Das Buch liest sich in der Tat wie ein Detektivroman, ohne dass es wirklich ein Krimi wäre. Es ist eine verwirrende Identitätssuche und die Geschichte eines Identitätsverlust. Der Schriftsteller Daniel Quinn, der unter dem Pseudonym William Wilson Detektivromane über den Privatdetektiv Max Work schreibt, erhält mehrere Anrufe: Jemand ist auf der Suche nach dem Privatdetektiv Paul Auster. Quinn lässt sich nach einigem Hin und Her darauf ein, als Paul Auster die Beschattung von Peter Stillmann zu übernehmen, dem Vater des Auftraggebers, der ebenfalls Peter Stillman heißt. Selbst Kriminalschriftsteller wird Quinn auf diese merkwürdige Weise in eine Detektivgeschichte hineingezogen.

Ein rotes Notizbuch spielt in der Geschichte eine wichtige Rolle. In einem Geschäft ist Daniel Quinn von diesem Notizbuch besonders angezogen: „… so als wäre es sein einziges Schicksal auf der Welt, die Wörter aufzunehmen, die aus seiner Feder kamen“ (50). Quinn kauft es. Der Mann, den er beschattet, Peter Stillmann, hat ein ähnliches, rotes Notizbuch (80). Während der Beschattung notiert Quinn die Wege, die Stillman zurücklegt, oder die Gegenstände, die dieser sammelt. Das rote Notizbuch wird zum Feldtagebuch und genauen Archiv, aber weil Quinn versucht, möglichst jede Geste des Beschatteten festzuhalten, kommt er in Schwierigkeiten, will er Stillman nicht aus den Augen zu verlieren: „Denn Gehen und Schreiben waren zwei Tätigkeiten, die sich nicht leicht miteinander vereinbaren ließen. (…) Besonders schwierig war es zu schreiben, ohne auf das Blatt zu sehen, und er stellte oft fest, dass er zwei oder sogar drei Zeilen übereinander geschrieben und einen verworrenen, unlesbaren Palimpsest produziert hatte.“ (84) Quinn versucht daher unterschiedliche Weisen, das Notizbuch zu halten bis er eine Haltung findet, mit der es einigermaßen geht.

Als Quinn nach gut zwei Wochen erstmals seine Notizen liest, ist er enttäuscht: Zwar hat er zahllose Fakten gesammelt, aber damit kam er der Person, die er beschattetet hatte, nicht wirklich näher. Erst als Quinn beginnt, gewissermaßen von einer Metaebene aus auf die Notizen zu schauen und die Wege als Skizzen nachzuzeichnen, macht Quinn, als er schon fast aufgeben will, eine Entdeckung: Es ist, als würde Stillmann mit seinen Wegen Buchstaben schreiben. Tatsächlich scheint es so, als würde Stillman mit seinen Wegen die Wörter „THE TOWER OF BABEL“ in die Stadt schreiben. Erst das Notizbuch macht diesen Text sichtbar.

Allerdings verliert Quinn Stillman aus den Augen. Quinn zieht weiter durch die Straßen und macht Notizen. Einmal setzt er sich an seinen Schreibtisch und notiert zwei Stunden lang, ohne das Geschriebene noch einmal zu lesen (137). Allmählich lösen sich seine Notizen vom Beschattungsauftrag. Quinn schreibt eigene Beobachtungen und Reflexionen nieder: Über Obdachlose und Bettelei, Straßenkünstler und Baudelaire (140ff). Da er selbst zunehmend in die Rolle eines Obdachlosen schlüpft, sind es auch Selbstbetrachtungen.

Am Ende wird das Notieren Quinns hauptsächlicher Lebensinhalt. Er geht in die Wohnung seiner Auftraggeber Peter und Virginia Stillman, doch die Wohnung ist leer. Dort fängt Quinn an, den ganzen Fall Stillman noch einmal zu durchdenken, Fragen zu notieren und vermutete Zusammenhänge festzuhalten. Für Quinn gibt es nur noch zwei Zustände: Er schläft oder er schreibt in sein Notizbuch (171). Irgendwann werden die Seiten knapp und Quinn versucht knapper zu schreiben: Nicht mehr über Stillman, auch nicht mehr über sich: „Er schrieb über die Sterne, die Erde, seine Hoffnungen für die Menschheit. Er fühlte, dass seine Worte von ihm losgetrennt waren, dass sie nun ein Teil der weitern Welt geworden waren, so wirklich und spezifisch wie ein Stein oder ein See oder eine Blume. Mit ihm hatten sie nichts mehr zu tun.“ (173)

Ganz am Ende des Romans, in Kap. 13, tritt der Erzähler der Geschichte auf. Er bekommt das rote Notizbuch vom Schriftsteller Paul Auster, der nicht nur die Rolle ist, in die Daniel Quinn geschlüpft ist, sondern der Autor Paul Auster tritt selbst in der Geschichte auf: Quinn hatte nach dem Detektiv Auster gesucht und den Schriftsteller gefunden (120). Der Erzähler macht sich ans Werk, anhand der Notizen Quinns die Geschichte zu erzählen, denn Quinn selbst ist verschwunden. Aber: „Das rote Notizbuch ist natürlich nur die halbe Geschichte, wie jeder empfindsame Leser verstehen wird.“ (175) Am Anfang stand ein seltsamer Anruf bei Daniel Quinn, die Stimme, die nach jemandem fragt, und seine Folgen. „Ob es anders hätte ausgehen können oder ob mit dem ersten Wort aus dem Mund des Fremden alles vorausbestimmt war, ist nicht das Problem. Das Problem ist die Geschichte selbst, und ob sie etwas bedeutet oder nicht, muss die Geschichte nicht sagen.“ (5)

  • Paul Auster: Auggie Wrens Weihnachtsgeschichte, 2. Aufl. , Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2010.
  • Paul Auster: Stadt aus Glas. (Süddeutsche Zeitung – Bibliothek 6), München: Süddt. Zeitung GmbH 2004.
  • Margret Rettich: Wirklich wahre Weihnachtsgeschichten (Neuausgabe), Wien: Ueberreuter 2001.