Bibelarbeit und Textarbeit

Predigen ist Reden mit biblischen Texten. Wer predigt, eignet sich biblische Texte an, indem er oder sie mit der Bibel arbeitet. Bibelarbeit ist also ein wesentlicher Bestandteil der Predigtarbeit, selbst dann, wenn es sich nicht um eine Textpredigt handelt. Predigtarbeit wiederum ist ein Oberbegriff für den Prozess der Predigtvorbereitung.

Die Formulierung „Reden mit biblischen Texten“ ist natürlich mehrdeutig: Es ist ein „Reden mit“ im Sinne von „im Gespräch mit“, es ist aber auch „Reden mit“ im Sinne von „unter Verwendung von“. Nach meinem Verständnis ist Predigen nämlich weder „Predigen über einen Text“ noch „Predigen eines Textes“. Ein Predigen-über steht in der Gefahr, den Text bloß zum Betrachtungsgegenstand zu machen („Der Text sagt …“). Ein Predigen-des steht dagegen in der Gefahr, sich bloß zum Anwalt des Textes zu machen. In beiden Fällen scheint Predigt gebunden an einen biblischen Predigttext, was aber nicht immer gegeben ist (Liedpredigt, Themenpredigt etc.).

Aus der Beschäftigung mit biblischen Texten und christlichen Traditionsbeständen bringt die Predigtarbeit einen neuen Text hervor, der teils mit, teils gegen einen Text zu zeigen beansprucht, wie christlicher Glauben hier und heute aussehen kann. Aber auch wenn es sich um eine Liedpredigt oder eine andere Predigtform handelt, ist Predigen immer auf Bibelarbeit angewiesen und so oder so ein Predigen mit dem Text.

Bibelarbeit ist Textarbeit

Bibelarbeit ist natürlich ein schillernder Begriff. Hier wird Bibelarbeit als Unterbegriff zur Textarbeit verstanden. „Textarbeit“ wiederum meint einen methodischen Umgang mit Texten. Die Methoden können dabei mehr oder weniger umfangreich und mehr oder weniger stark strukturiert sein.

  • Umfangreiche Methoden sind z.B. exegetische Textanalysen, weniger umfangreich das Markieren des Textes mit bestimmten Symbolen (z.B. die Västeras-Methode).
  • Stark strukturiert ist die 5-Schritte-Lesemethode, weniger strukturiert ein offenes Bibelgespräch.

Einige Methoden eignen sich eher für Gruppenarbeit oder sind sogar darauf angelegt (Bibel-Teilen, Bibliolog), während andere sich eher für die individuelle Textarbeit eignen (Close Reading).

Phasen der Textarbeit

Die Arbeit am Text lässt sich in mehrere idealtypische Phasen unterteilen. Betonen will ich, dass die Phasen keine methodischen Schritte darstellen, sondern zeitlich befristete Weisen der Textbetrachtung (dazu weiter unten mehr). Je nach Ansatz werden drei bis fünf Phasen beschrieben. Ich gehe hier von vier Phasen aus.

1. Textbegegnung

Die erste Phase ist die erste Wahrnehmung des Textes:

  • Wird der Text gehört oder gelesen?
  • Welche Gestalt hat der Text?
  • In welchem Kontext steht er? Wird der Text beispielsweise in der Bibel aufgeschlagen, im Kontext der Perikopenordnung gelesen oder als Auszug auf einem Arbeitsblatt wahrgenommen?

Zur ersten Phase gehört aber auch ggf. bewusst zu reflektieren:

  • Gefällt der Text oder nicht – und warum?
  • Ist er verständlich oder nicht – und warum?
  • Spricht er mich unmittelbar an oder nicht – und warum?

Methodisch ist es sinnvoll, die ersten Eindrücke zu notieren, einerseits um sie sich zu vergegenwärtigen, andererseits um in einer späteren Phase Veränderungen im eigenen Textverständnis zu bemerken.

2. Texterschließung

Mit der Fokussierung auf die formalen Aspekte des Textes geht die Textarbeit in eine zweite Phase über. Viele klassische Methoden der Textanalyse sind hier zu verorten. Diese Phase ist davon geprägt, Strukturen und Themen des Textes zu erfassen:

  • Um was für eine Textsorte handelt es sich?
  • Wie ist der Text sprachlich gestaltet?
  • Was sagt der formale Kontext zum Text (das Kapitel, das Buch, die gesamte Bibel, die anderen Texte im Perikopenbuch)?
  • Welche Informationen liefert der zeitliche Kontext des Textes (Autor, Zielgruppe, theologische und politische Situation)?
  • Was ist sein Thema? Welche Nebenthemen tauchen auf?

In dieser Phase bewusst eingesetzte Methoden sollten die Lektüre verlangsamen und es erlauben, sich dem Text so weit wie möglich zu nähern. Neben den klassischen Methoden der Textanalyse gehören zur Texterschließung auch interaktive Methoden, die helfen, die Distanz zum Text zu überwinden.

In der gemeindlichen Praxis vermischen sich oft Texterschließung und -diskussion: Die Impulse, die vom Text, von einzelnen Passagen, Wörtern und Kernsätzen ausgehen, regen sowohl in Bibelgesprächskreisen wie in der Predigtvorbereitung dazu an, von den ersten Eindrücken unmittelbar zur Erörterung zu springen. Nach der ersten Textbegegnung die Lektüre bewusst zu verlangsamen, trägt dazu bei, die Gestalt des Textes und eine Vielfalt an Deutungsmöglichkeiten zu erschließen. Sich bewusst einer schnellen Bewertung zu entziehen ist gerade dann wichtig, wenn die unmittelbare Wirkung der Lektüre Ablehnung und Unverständnis war.

3. Textdiskussion

Eine beginnende Diskussion mit dem Text markiert den Übergang zur dritten Phase. Eine Diskussion mit dem Text ist etwas anderes als eine Diskussion über den Text. Mit dem Text diskutieren heißt, ihn als Gesprächspartner ernst zu nehmen. Wie in einem Gespräch geht es um die wechselseitige Wahrnehmung unterschiedlicher Perspektiven:

  • Was sagt der Text aus seiner Situation mir in meiner Situation?
  • Wie antworte ich ich umgekehrt aus meiner Situation dem Text in seiner Situation?

Je größer die Distanz zu dem Text, desto schwieriger aber auch desto spannungsvoller ist diese Diskussion, denn die Texte z.B. der Bibel sind zwar nicht für meine Situation geschrieben, aber ich kann sie als Deutungsangebot lesen, um meine Situation besser zu verstehen. Umgekehrt kann ich aus meiner Sicht auch den Text und seine Sicht und Haltung kritisieren. In der Diskussion mit dem Text wird allmählich deutlich:

  • Wo liegen Anknüpfungspunkte zwischen meiner Welt und der Welt des Textes?
  • Wo treten meine Welt und die Welt des Textes weit auseinander?

Bewusst eingesetzte Methoden dienen in dieser Phase der Textarbeit dazu, sich von dem Text so weit zu entfernen, wie für eine kritische Würdigung nötig ist.

4. Textaneignung

Sich den Text zu eigen zu machen prägt die vierte Phase der Textarbeit. Bewusst eingesetzte Methoden dienen hier einer dauerhaften Vertiefung der Lektüre und Übersetzung des Textes in die eigene Lebenswelt:

  • Auf welchen Kerngedanken, auf welche zentrale Formulierung lässt sich der Text reduzieren?
  • Zu welchen Veränderungen im Sehen, Denken und Handeln regt der Text an?
  • Wie klingt der Text in meinen eigenen Worten?

Die Phase der Textaneignung ist das eigentliche Ziel jeder Textarbeit, und nicht nur ihr Abschluss. In dieser Phase entsteht ein neuer Text, z.B. in Form einer Verdichtung, eines Kommentars, einer Anmerkung oder einer Handlungsregel. Dieser neue Text muss nicht schriftlich ausformuliert sein: Er kann ein mündliches Fazit sein, aber auch in anderen künstlerischen Texturen münden wie Bildern, Musik oder Theater. Auch eine Predigt ist ein neuer Text.

Mit der Übersetzung des Textes in einen neuen Text ändert sich auch das Verständnis des Textes. Die Vorstellung, z.B.  eine Predigt gebe bloß den Inhalt eines Bibeltextes in anderen Worten wieder, ist naiv. Jeder Versuch, einen Bibeltext in eigene Worten zu übersetzten, produziert einen Text mit neuen Assoziationen, Bildern, Emotionen. Wer einen Text sich zu eigen macht und dies anderen mitteilt, teilt auch sich selbst und sein Verständnis mit. Paradoxerweise hält genau dies den ursprünglichen Text lebendig.

Konzeptionelle Rahmen der Textarbeit

Bei der Textarbeit kann eine Vielzahl von Methoden zum Einsatz kommen. Die Methoden können sich orientieren am Charakter der einzelnen Phasen der Textarbeit (z.B. Vorlesen zur ersten Begegnung oder Rollenspiel im Rahmen der Texterschließung). Die Methoden können aber auch durch einen konzeptionellen Rahmen eingefasst sein, der mehrere Phasen oder methodische Schritte umfasst. Alternativ zur Metapher vom Rahmen kann auch vom Methodenbündel gesprochen werden, weil hier aus systematischen Gründen bestimmte Methoden, die sich aufeinander beziehen, zu einer Einheit zusammengebunden werden. Ein komplexes Beispiel ist die historisch-kritische Methodik, die zunächst versucht die ursprüngliche Textfassung zu rekonstruieren, um dann ihre literarische Form sowie die Geschichte der mündlichen Überlieferung, ihrer Verschriftlichung und redaktionellen Überarbeitung nachzuvollziehen.

Einige Methodenkomplexe versuchen, den Text „diachron“ aus den historischen Zusammenhängen der Entstehung heraus zu verstehen (z.B. die erwähnte historisch-kritische Exegese), während andere den Text stärker „synchron“ auf Basis der vorliegenden Endgestalt des Textes und oft im direkten Gegenüber zum heutigen Leser lesen (z.B. interaktionale Auslegungen wie Bibliolog und Bibliodrama).

Horst Klaus Berg unterscheidet 13 methodisch-konzeptionelle Rahmen, die er je nach Neigung zu diachroner und synchroner Lesart, wie folgt aufteilt:

eher diachron

  • Historisch-kritische Auslegung
  • Ursprungsgeschichtliche Auslegung
  • Materialistische Auslegung
  • Feministische Auslegung
  • Intertextuelle Auslegung
  • Wirkungsgeschichtliche Auslegung

eher synchron

  • Existentiale Auslegung
  • Linguistische Auslegung
  • Tiefenpsychologische Auslegung
  • Interaktionale Auslegung
  • Auslegung der Relectura
  • Auslegung durch Verfremdung
  • Jüdische Auslegung

Die Auslegungsformen schließen einander nicht aus, sondern können einander ergänzen und aufeinander aufbauen. So kann beispielsweise die historisch-kritische Auslegung eine Basis sein für weitere, auch synchrone Lesarten oder umgekehrt eine synchrone Lesart durch diachrone Methoden ergänzt werden.

Phasen sind keine Methodenschritte

Die Phasen sind keine Methodenschritte, so habe ich oben betont, sondern idealtypische Beschreibungen dessen, was bei der Arbeit am Text geschieht. Das wird schon bei der bloßen Lektüre eines Textes sichtbar: Es ist keine methodische Entscheidung, mit der ersten Textbegegnung zu beginnen, sondern ein notwendiger Umstand, dass es beim Lesen oder Hören einen ersten Eindruck gibt. Wer einen Roman in die Hand nimmt, sieht den Einband und die Aufmachung, nimmt Seitenanzahl, Papierqualität und Druckbild wahr und nimmt diesem ersten Anschein nach eine erste Einschätzung vor. Beim Lesen festigt sich der erste Eindruck oder wird revidiert, bevor am Ende im Gespräch mit Freunden der Roman nacherzählt und eine Empfehlung ausgesprochen oder vom Lesen abgeraten wird. Textarbeit ist natürlich etwas anderes als bloße Lektüre, aber wer bei der Lektüre Anstreichungen vornimmt, arbeitet bereits mit einem erschließendenden Instrument am Text.

Mit „Phase“ sind also keine normativen Schritte oder Stufen gemeint, wie ein Text zu bearbeiten sei, sondern der Ausdruck der Phase unterstreicht: Ein Text wird für eine bestimmte Zeit in einer bestimmten Hinsicht betrachtet. Das geschieht mehr oder weniger bewusst. Sich der Phasen bewusst zu werden heißt zugleich, bestimmte Methoden der Textarbeit gezielt einzusetzen oder andere Methoden bewusst nicht einzusetzen. Das wird deutlich bei den Phasen der Texterschließung und Textdiskussion. Dreiteilige Textarbeitsmodelle fassen diese beiden Phasen gerne zusammen. Die Differenzierung dient der methodischen Reflexion: Wer Formulierungen eines Textes kritisch diskutiert, ohne sich mit der formalen Struktur des Textes eingehend befasst zu haben, gerät schnell in ein Fahrwasser, das nur den Markierungen des ersten Eindrucks folgt. Gleichwohl ist das Phasenmodell eine idealtypische Beschreibung: In der Praxis lassen sich Erschließung und Diskussion oft nicht scharf trennen.

Die bloße Lektüre endet in der Regel damit, dass das ausgelesene Buch in das Regal zurückgestellt wird. Textarbeit zielt auf Textaneignung, und sei es nur, dass ein besonders inspirierender Satz zitiert oder ein einziger Gedanke auf einem Zettel notiert wird. Gerade für die Bibelarbeit in ihren unterschiedlichen Ausprägungen (Stille Zeit, Bibelgesprächskreise, Predigtarbeit) scheint es mir hilfreich, sich der Phasen in der Textarbeit bewusst zu werden. Wie viele spontane Andachten zu Losungstexten springen unvermittelt von der Textbegegnung zu einer Handlungsanweisung, ohne sich klar zu werden darüber, dass hier nur ein erster Eindruck versprachlicht wird? Wie viele Predigten verharren zwischen Texterschließung und Textdiskussion, ohne das Wagnis einzugehen, den Text zu einem eigenen Text werden zu lassen? Wie viele Auslegungen knüpfen bloß an frühere Textaneignungen an, ohne zu bedenken, dass auch ein Wiederlesen mit der ersten Textbegegnung beginnt.

Bewusst am Text zu arbeiten heißt letzten Endes zu akzeptieren, dass man mit dieser Arbeit nie an ein Ende kommt. Die Bibel ist eben ein Buch, das nicht einfach ins Regal zurückgestellt werden will. Der Geist der Bibel drängt von sich immer neu ins Gespräch mit dem Text.