Anstiftung zum Querdenken

Kreativ war am Anfang nur Gott. Der Mensch formte nach, schuf aber nicht neu, schon gar nicht aus dem Nichts. In der Neuzeit trat dann allerdings das schöpferische Individuum auf den Plan. Von Kreativität war da zwar noch nicht die Rede, aber von Genialität. Als Genie galt der besonders begabte, schöpferische Mensch, der nicht mehr nur Natur nachbildete, sondern Natur kulturell vollendete. Der Begriff der Kreativität löste im 20. Jahrhundert den problematisch gewordenen Geniebegriff ab, ist aber, wie Niklas Luhmann spöttelt, letztlich nicht mehr als „demokratisch deformierte Genialität“: der Künstler muss nicht mehr göttlich-genial sein, es reichen Talent und ein wenig Bemühung. Am Ende ist dann jeder Mensch irgendwie Künstler.

Die Jubiläums-Ausgabe der KUNSTFORUM International (Bd. 250) widmet sich auf rund 140 Seiten aus unterschiedlichen Perspektiven der „Ressource Kreativität“. Zu den Autoren gehören neben Herausgeber Paolo Bianchi unter anderem der Schriftsteller und Kulturjournalist Jürgen Raap, die Philosophen Burghardt Schmidt, Siegfried J. Schmidt und Dieter Mersch sowie der Kultursoziologe Ulf Wuggenig. Die im Untertitel versprochenen „150 Anstiftungen zum Querdenken“ sind zwar etwas sehr bemüht herauskonstruiert (auf S. 44ff finden sich 150 Stichwörter mit Querverweisen auf die Artikel), aber glücklicherweise will der Jubiläumsband kein weiteres Buch mit Kreativitätstechniken sein, sondern den Begriff kritisch reflektieren. Das gelingt sehr gut.

Kreativität ist eben ein flirrender Begriff, der sich in verschiedenen Kontexten gebrauchen lässt, wie die KUNSTFORUM verdeutlicht. Neben dem Kontext Kunst ist dies vor allem die Wirtschaft. So wurzelt der Begriff bereits in der Modeindustrie und ihren Kreationen. Mode ist geradezu ein Synonym dafür, dauerhaft Neues hervorzubringen und Trends zu setzen. Wirtschaft und Lifestyle-Industrie machen Kreativität zu einem modernen Imperativ und mit Trump und dem aktuellen Phänomen des Rechts-Populismus wird der kreative Umgang mit Wirklichkeit sogar zu einem Instrument in der politischen Welt.

Querdenken, eingeübte Muster und verfestigte Strukturen aufbrechen und Alternativen sichtbar machen, das sind die Potentiale, die im Begriff der Kreativität angelegt sind. Sie lassen sich künstlerisch, wirtschaftlich und politisch zum Guten wie zum Schlechten nutzen. Angesichts der Allgegenwart des Kreativitätsbegriffs wäre es die einfachste Lösung, das Wort in den Giftschrank zu sperren oder allenfalls noch in Anführungszeichen zu benutzen. Aber solch eine Art Sprachhygiene hat noch selten gefruchtet. Eine Alternative ist, bewusst auf das Spannungsvolle des Begriffs zu setzen. In dieser Spannung bewegt sich etwa Kenneth Goldsmith mit seinem uncreative writing, bei dem paradoxerweise das unkreative copy-&-paste zu einem kreativen Verfahren wird. Es ist eine Stärke des Jubiläumsbandes der KUNSTFORUM International, dass er die Ambivalenzen des Begriffs flimmern lässt. „Ressource Kreativität“ der wird damit zu einer lohnenden und inspirierenden Lektüre.

 

Die Bestellung über die Internetseite https://kunstforum.de ist leider etwas umständlich. Dort wird nur ein Pro-Abo angeboten. Nach Nachfrage per E-Mail wird aber auch der einzelne Band verschickt, ohne Abonnement.

Mir wurden irrtümlich zwei Ausgaben zugeschickt. Eine davon darf ich verschenken. Wer Interesse hat, schicke mir bis zum 20.11.2017 eine E-Mail an kunstforum@homilia.de. Damit es für mich ein bisschen interessanter ist, bitte ich in der Mail um eine kurze Aussage darüber, inwieweit Predigtarbeit Kreativität benötigt. Nicht-Predigende können gern auch was schreiben zum Zusammenhang von Rhetorik und Kreativität.

 

KUNSTFORUM International, Bd. 250, Okt./Nov. 2017: Ressource Kreativität (Hrsg.: Paolo Bianchi), 360 S., 21,90€ (Weitere Informationen zur jeweils aktuellen Ausgabe unter https://kunstforum.de).