Jede Erzählung, so behauptet Benjamin in Der Erzähler, führt „offen oder versteckt, ihren Nutzen mit sich“ (388), und zwar in Gestalt einer Moral, einer Anweisung, eines Sprichworts oder einer Lebensregel. Der Erzähler ist „ein Mann, der dem Hörer Rat weiß“ (388). Der veraltete Stil Benjamins, der einem fast nostalgische Schwingungen beschert, lenkt schnell darüber hinweg, dass seine Analyse harsch ist: „Rat, in den Stoff gelebten Lebens eingewebt, ist Weisheit. Die Kunst des Erzählens neigt ihrem Ende zu, weil die epische Seite der Wahrheit, die Weisheit, ausstirbt.“ (388) – Ich bin mir nicht sicher, in wie weit ich dem zustimmen kann.
Zum einen ist der Punkt interesssant, dass Weisheit als „epische Seite der Wahrheit“ bestimmt wird. Heute gilt gemeinhin gerade die knappe Meldung als Wahrheit, und gerade nicht die epische Breite. Aber auch wenn es wahr ist, ist es nicht unbedingt weise: Die Evangelien sind ein wunderbares Beispiel dafür, wie die Weisheit gerade in der Erzählung seine eigentliche Form findet.
Auf der anderen Seite hat mittlerweile z.B. die Filmindustrie es wunderbar verstanden, die „epische Seite der Wahrheit“ auszubreiten und im Plot zu verdichten. Heute wird mehr Moral im Kino verkündet als von der Kanzel. Und es gelingt gerade durch moderne Formen des Erzählens, wie der Film. Vielleicht wäre Benjamin ganz platt, wenn er sehen würde, wie platt heute erzählerische Weisheit sein kann.