Am Reformationstag 1985 – in einer Lebenskrise – nimmt sich Dorothee Sölle vor, Tagebuch zu schreiben. Ich weiß nicht, wie regelmäßig Dorothee Sölle schon vorher ein Tagebuch geführt hat: aus verschiedenen Notizen wird ersichtlich, dass sie zumindest als Jugendliche tägliche Notizen gemacht hat. In ihrer Zeit in New York – Sölle lehrte dort von 1975 bis 1987 am Union Theological Seminary – fängt sie mit dem Tagebuch zumindest bewusst neu an „obwohl viel dagegenspricht“, wie sie schreibt: sie hält den Akt selbst für eitel und sieht in der Notwendigkeit, auszuwählen, was sie niederschreibt, „eine Art von Lügen“. Und wagt es trotzdem:
„Ich lebe immer noch mit der alten Verrücktheit, jeden Tag drei Gründe zu finden, für die ich Gott loben kann. Eine himmlische Buchführung endlich lernen. Ein paar Regeln:
– Heute von heute schreiben, das Manna nicht aufheben, es stinkt morgen.
– Jeden Tag schreiben – das Graue, Armselige aushalten.
– Die niedrigen, demütigenden Empfindungen – die Reflexe der Bourgeoisie in mir – nicht verleugnen; das, was die ollen Mystiker die ‚Regungen des Fleisches‘ nennen – die Realität wahrhaben.
-Das Glück, auch das kleine, lieben! Nennen! Es gibt einen Punkt jenseits von Arroganz und Selbstverachtung, den ich erreichen will.“
[Dorothee Sölle, Ein New Yorker Tagebuch, in: Gesammelte Werke Bd. 9, S. 338f.]