Über mich selbst schreiben

Notizbuch
(c) Günther Gumhold / pixelio.de

„Ich könnte ein Buch schreiben“, sagen Menschen häufig, wenn sie aus ihrem Leben erzählen. Doch obwohl viele Menschen gern von ihren Erlebnissen erzählen, gehen die wenigsten den nächsten Schritt, tatsächlich ihr Leben niederzuschreiben. Ratgeberliteratur zum Thema Autobiographie gibt es reichlich. Es scheint also Bedarf zu geben. Nun hat sich Hanns-Josef Ortheil als Autor und Herausgeber der DUDEN-Reihe Kreatives Schreiben des Themas angenommen: „Schreiben über mich selbst“ versteht Ortheil aber „nicht nur [als] eine beliebige, literarische Praxis unter vielen anderen, sondern [als] Teil einer umfassenderen ‚Lebenskunst‘ “, bei der es darum geht, „die eigene Existenz zu beobachten, zu reflektieren und zu durchdringen“ (S. 147).

„Schreiben über mich selbst“, der mittlerweile sechste Band der Reihe, fügt sich gut ein in diese Schreibwerkstatt, deren Prinzip ist, Schriftstellern bei ihrem Schreiben über die Schulter zu sehen. Nicht nur im Titel lehnt sich Ortheil an Michel Foucaults Aufsatz „Über mich selbst schreiben“ an. Wie Foucault hebt Ortheil das regelmäßige Notieren als Grundlage des Schreibens hervor. Bei Foucault sind die Notizen Mittel zur Selbstreflexion, insofern stehen hier die Erkenntnisse und das Festhalten eigener wie fremder Gedanken im Mittelpunkt. Notieren ist neben Meditation und Gespräch mit sich und anderen Teil einer ästhetischen Lebensführung. Die Notizen selbst werden zum Rohstoff und Reservoir des eigenen Denkens. Ortheil, dessen Notizleidenschaft hinlänglich bekannt ist, findet in Foucault eine philosophische Entsprechung seines eigenen Ansatzes. Von diesem Ansatz war schon in „Schreiben dicht am Leben“ und „Schreiben auf Reisen“ zu lesen.

In „Schreiben über mich selbst“ geht es nun darum, durch das regelmäßige Notieren hellsichtig zu werden für das autobiografische Potential, den autobiografischen Rohstoff des Alltags. Es geht Ortheil nicht darum, zum Schreiben einer vollständigen Autobiografie anzuleiten. Im Gegenteil: Zeitgemäßes autobiografisches Schreiben besteht seiner Meinung nach „aus lauter eleganten, mit neuen und alten Medien verbundenen Textformen, die ein Leben spielerisch befragen, detaillierte erkunden und in Segmenten erzählen“ (S. 6), und zwar unablässig. Einfache Beobachtungen, Erlebnisse, Erinnerungen und Gedanken – alles wird möglichst „deutungsarm“ notiert, ohne sich zu fragen, „ob das Notierte überhaupt wert ist notiert zu werden“ (S. 148). Denn mit der Zeit kann alles zu einer wichtigen autobiografischen Notiz werden. Mit der Zeit entsteht so ein „Erinnerungs- und Erzählspeicher“ (S. 149) als persönliches Lebensarchiv aus Fragmenten des Alltags.

Interessant ist, dass Ortheil nicht mit dem Schreiben beginnt, sondern mit dem Erzählen. Man mag hierin eine weitere Spur Michel Foucaults finden, für den das Gespräch mit sich und anderen wichtiger Teil des ästhetischen Lebenskonzeptes war. Ortheil steigt in die Reihe seiner Beispiele ein mit einem Blick auf Andy Warhols telefonische Diktate von alltäglichen Erlebnissen (S.14). Von hier geht er weiter zu Beispielen dazu, „sich befragen zu lassen“ bzw. „sich gegenseitig zu befragen“ (unter anderem Michel Polacco und Michel Serres (S. 19ff) sowie Gilles Deleuze und Claire Parnet (S. 28ff)).

Mich hat zunächst irritiert, dass Hanns-Josef Ortheil fasst ein Viertel seines Buches diesen mündlichen Formen widmet. Der Blick auf mein Eingangsbeispiel zeigt aber, dass das Erzählenwollen ein wichtiger Indikator für autobiografische Potentiale von alltäglichen Erfahrungen ist: Vielen Menschen fällt es leichter über sich zu erzählen, als das Buch zu schreiben, das sie schreiben könnten. Beim Übergang vom Erzählen zum Schreiben ist es wichtig, diesen Indikator zu bemerken, denn er gibt den Impuls, „der unsere Aufmerksamkeit anzieht“ (S. 39) und letztlich ins Notieren führt. Mündlichkeit und Schriftlichkeit verdanken sich dem gleichen Impuls des Augenblicks, aber erst in der Notiz gerinnt die Gegenwart – egal ob bedeutsam oder nicht – zu etwas, das später sein autobiografisches Potential entfalten kann – oder auch nicht.

Ausgehend vom einfachen Notieren, zu dem sich Ortheil bereits in früheren Bänden der Reihe geäußert hat, werden zahlreiche, interessante Schreibprojekte vorgestellt – wie man es in der DUDEN-Reihe gewohnt ist, exemplarisch vorgeführt an Beispielen aus der Literatur. Viele dieser Projekte sind auch als Varianten und Impulse für das Führen eines Tagebuchs lesbar. Die angesprochenen Themen sind:

  • Briefe schreiben als Möglichkeit autobiografischen Schreibens (Seite 44ff)
  • Resümee ziehen (Beispiel John Cheevers Tagebücher (Seite 52ff))
  • Schreiben zu „magischen Wörtern“(Czesław Miłosz, S. 56ff) und „stabilen Wörtern“ (bzw. letzte Gewissheiten, Carlos Fuentes, S. 61ff)
  • Selbstportrait mit Foto (John Berger und Jean Mohr, S. 66ff), mit Musik (Ortheil, S. 71), mit Körperteilen (Raymond Federman, S. 77ff), mit Landschaft (Jean-Philippe Toussaint, S. 81ff; Marie Luise Kaschnitz, S. 83f), mit Büchern (Paul Raabe, S. 87ff)
  • Kindheitserinnerungen (Urs Widmer; Joe Brainard, S. 92ff), Kindheitsszenen (Nathalie Sarraute, S. 98ff; Jean-Paul Sartre, S. 100f); Früheste Erinnerungen (Goethe, S. 104ff; Elias Canetti, S. 107); Kindheitswelten (Walter Benjamin, S. 109ff); Gang durch die Kindheit (John Updike, S. 114ff; Peter Kurzeck, S. 117f)
  • Beschreibungen zu Zeitphasen des Lebens: die Familie (Marc Aurel, S. 119; Peter Weiss, S. 123); große und kleine Natur (Nature Writing; Henry David Thoreau, S. 126ff; Cord Riechelmann, S. 129); Liebe und Freundschaft (Roland Barthes, S. 132ff); Die jungen Jahre (Ernest Hemingway, S. 136ff); Brief an die Enkel (John Updike, S. 141ff)

Langsam wird deutlich, was die DUDEN-Reihe Kreatives Schreiben so unverzichtbar macht: Sie rückt die Bedeutung des Notierens für das Schreiben in den Mittelpunkt. In „Schreiben über mich selbst“ wird dies Notizpraxis, in Anlehnung an Foucault, zum Teil einer umfassenden Lebenskunst. In vielfältiger Hinsicht können auch Predigerinnen und Prediger von dieser Kunst lernen: Für die Predigtpraxis sind persönliche Erfahrungen unverzichtbar. Notizen als Fundus helfen grundsätzlich dabei, einen Predigtgegenstand diachron zur eigenen Lebensgeschichte sowie Denk- und Glaubensentwicklung zu reflektieren. Persönliche Notizen helfen darüber hinaus, die blanken Gedanken mit dem Fleisch des Alltagslebens zu umgeben. Die von Ortheil vorgelegten Schreibprojekte lassen sich auch theologisch verlängern: denkbar wären zum Beispiel Selbstporträts zu biblischen Geschichten und Versen, Erinnerungen an Schwellen und Passagen des eigenen Glaubens, Notizen zu Begegnungen und Gesprächen mit prägenden Menschen, Predigten als Briefe an die Gemeinde und anderes mehr.

Fazit: Hanns-Josef Ortheils „Schreiben über mich selbst“ ist ein anregendes und inspirierendes Buch. Im Zusammenhang mit den andern Büchern der DUDEN-Reihe macht es deutlich, wie unverzichtbar regelmäßiges Notieren für das Schreiben – und vielleicht sogar für das Leben ist. Notizbuchfans und Tagebuchschreiber finden eine Fülle an Anregungen dafür, die Wahrnehmung für das autobiografische Potential der Gegenwart zu trainieren. Für Predigerinnen und Prediger stecken in dem Band Impulse für mehr Ich und gelebte Erfahrung auf der Kanzel.

Hanns-Josef Ortheil: Schreiben über mich selbst. Spielformen des autobiografischen Schreibens, Duden Verlag,Berlin, Mannheim und Zürich 2013.
ISBN 978-3-411-75437-3 | 14,95 € | 158 S.