In ihrem Roman „Gnade“ dreht Toni Morrison das alte christliche Konzept auf Links. Gnade bezeichnet einen Akt der Zuwendung, und zwar eines höher oder besser Gestellten zu jemandem, der niedriger gestellt ist, ohne dass dieser einer Anspruch darauf hätte. Gnade meint in diesem Sinn natürlich etwas sehr Positives: Gnade ermöglicht Freiheit und Neuanfang, wie bei einem begnadigten Sträfling oder jemandem, der aus einfachen Verhältnissen herausgeholt und dem gesellschaftlicher Aufstieg ermöglicht wird. Diese Gnadenerfahrung wird sehr schön in Charles Dickens „Hohe Erwartungen“ erzählt und literarisch durchbrochen, wenn der kleine Pip meint durch die wohlhabende Miss Havisham auserwählt zu sein, den einfachen Verhältnissen zu entsteigen und ein Gentleman zu werden. Bei Toni Morrison ist es die Mutter der kleinen Florens, die glaubt, dass ihre Tochter durch Gottes Gnade aus dem Sklavenstand wenn auch nicht befreit, so doch zumindest in einem anderen Haus bessere Chancen erhält.
Der Roman beginnt damit, dass Florens von Jacob Vaark als Bezahlung für die Schulden eines reichen Spaniers akzeptiert wird. Sie ist zu dem Zeitpunkt ein kleines Mädchen und kommt auf Vaarks Hof, wo Jakobs Ehefrau Rebekka mit den Dienstmädchen Lina und Sorrow lebt. Jakob kommt selbst aus ärmlichen Verhältnissen und er will die Mädchen gut behandeln. Als Sklavinnen betrachtet er sie nicht. Florens selbst soll eine Art Ersatztochter für die kurz vorher verstorbene Tochter Patricia sein. Trotz guter Voraussetzung ist niemandem auf diesem Hof Glück beschieden. Jacob stirbt, Rebekka wird krank, Florens verliebt sich in einen freien Schwarzen, scheitert aber in dieser Beziehung (sie bringt ihn um). Der Hof verkommt. Was das ganze mit Gnade zu tun hat, wir erst im Schlusskapitel deutlich, wenn Florens Mutter es eben für einen Gnadenakt hält, dass Jacob ihre Tochter mitnimmt. Sie weiß nicht, dass damit das ganze Unglück beginnt.
„Wer weiß, wozu es nützt“, heißt es manchmal, wenn ein Unglück geschieht und die Beteiligten sich trotzdem damit Mut machen, dass sie hoffen, das Geschehen sei Teil eines großen und heilsamen Zusammenhangs. So kann auch ein Unglück zum Gnadengeschick werden. In Morrisons Roman „Gnade“ wird dieser Gedanke umgedreht: Einem glücklichen Moment und einer glücklichen Wendung ist nicht anzusehen, ob sie nicht in einer Tragödie endet. Das gilt nicht nur für schicksalhafte Verstrickungen, sondern auch für das individuelle Handeln: Jacob Vaark meint es gut, wenn er Florens aus dem Sklavenhaus mitnimmt auf den eigenen Hof, aber sein Handeln bringt allen Beteiligten nur Unglück und Untergang.