Kreativität scheint eine Art universales Heilmittel zu sein, aber auch wenn der Begriff von vielen gebraucht wird: Er ist überraschend unpräzise. Zu diesem Fazit kommt Hartmut von Hentig in seinem 1998 erstmals erschienen Essay „Kreativität. Hohe Erwartungen an einen schwachen Begriff“. Die Begriffsschwäche rührt her von zwei Unklarheiten: Zum einen ist unklar, ob Kreativität etwas ist, das wir in der Gegenwart besonders benötigen und deshalb auch einsetzen, oder ob sie nötig wäre, aber noch unverfügbar ist. Zum andern ist unklar, ob Kreativität ein Mittel ist oder ein Ziel. Von Hentig ist skeptisch, denn ob Kreativität ein Mittel ist, uns aus dem als festgefahren wahrgenommen Zustand unserer Zeit zu befreien, muss sich erst noch zeigen.
Von Hentig rekonstruiert „Kreativität“ zunächst als Begriff aus der amerikanischen Intelligenzforschung am Beginn des 20. Jahrhunderts. Man war an die Grenzen von Begriff und Messbarkeit des IQ gekommen und benötigte einen Begriff für die Erforschung einer Leistungsfähigkeit jenseits des Genormten und Bekannten. Dazu brachte J.P. Guilford in den 1950er Jahren den Begriff des „divergent thinking“ ins Spiel. Jacob W. Getzel und Philip W. Jackson versuchten in den 1960er Jahren einen Neuansatz, indem sie versuchten, Aspekte von „Begabung“ zu benennen. Aus einer Vielzahl von Begriffen erarbeiteten sie als Kernbegriffe Kreativität, Intelligenz, Moralität und psychische Ausgeglichenheit. So sollte es möglich sein, intelligente von anderen Problemlösungen zu unterscheiden. Als intelligent wurde eine Lösung bezeichnet, die innerhalb eines gesetzten Bezugsrahmens blieb. Eine Lösung, die den gesetzten Rahmen verließ, wurde „kreativ“ genannt.
Diesen Untersuchungen lagen also die zwei gegensätzlich konstruierten Idealtypen „kreativ (= unangepasst, eigenwillig etc.) vs. intelligent (= erfolgsorientiert, brav etc.)“ zugrunde, ungeachtet der Frage, ob sich die Typen empirisch nachweisen lassen. Problematisch ist daran für von Hentig vor allem, dass die Eigenschaft „kreativ“ ausschließlich Personen zugeschrieben wurde, ohne zu fragen, ob nicht beispielsweise auch Situationen für kreative Leistungen verantwortlich sein könnten (oder Dinge wie fremde Erwartungen, ein schlechtes Gedächtnis, Leere, Langsamkeit u.a.m.). So ist man bei einem verkürzten Kreativitätsbegriff stehen geblieben, der persönliche Begabung und allgemein zugängliche Methoden unterscheidet. Die für einen Pädagogen wie von Hentig spannende Frage, inwieweit Kreativität lehrbar ist, bleibt unbeantwortet. Dass man Neues schafft, indem man frei und mutig Neues wagt, ist keine so überraschend neue Erkenntnis.
Obwohl der Begriff der Kreativität überall begegnet, hat er praktisch wenig verändert. Das verrät zum Beispiel ein Blick in den Schulalltag: von Hentig stellt fest, dass selbst in „Kreativ-Fächern“ wie Kunst nach wie vor nach den alten Methoden unterrichtet wird. Von einer Förderung der Kreativität (als eigenwillige Abweichung vom Genormten und Bekannten) kann im Unterricht keine Rede sein. Im Gegenteil: Der verschulte Zeichenunterricht, die verordnete Lektüre und das zu Lernzwecken instrumentalisierte Spiel verderben für von Hentig eher den unmittelbaren Spaß am Zeichnen, Lesen und Spielen. So führen die Methoden keinen Schritt weiter zu einem „Menschen, der Aufgaben und Probleme erkennt, den Kopf und die Sinne frei hat für mögliche ungewöhnliche Lösungen und den Mut zum Risiko, das darin steckt“ (S. 31).
Neben allgemeinen Problemen des Kreativitätsbegriffs sieht von Hentig auch besondere deutsche Probleme. Ihm fällt auf, dass es außer der Eindeutschung „Kreativität“ keinen entsprechenden Ausdruck für creativity gibt – sieht man vom Begriff des „Schöpferischen“ ab, das am problematischen Bild des „Schöpfens“ hängt. Dementsprechend unterschiedlich sind auch die Forschungen zur Kreativität. Steht in der englischsprachigen Forschung die Empirie im Mittelpunkt, wird die deutsche Diskussion eher von spekulativem und personalem Denken dominiert. Franz Matussek sieht beispielsweise in der Kreativität eine Chance zu einer neuen Deutung des Menschen. Statt von der Intelligenz grenzt er die Kreativität vom Geniegedanken ab und entwickelt als Gegenbegriff die Routine. Von Hentig sieht in Matusseks Ansatz durchaus interessante Möglichkeiten, stellt aber bedauernd fest, dass sich Matussek bald im psychotherapeutischen Jargon verliert.
Neben dem Begriff des Schöpferischen, das ein zwar selbständiges, aber nicht unbedingt ungewöhnliches Hervorbringen ausdrückt, stehen im Deutschen die Wörter „erfinden“ und „einbilden“ / „vorstellen“ zur Verfügung, die aber auch nur begrenzt als deutsches Äquivalent für creativity taugen. Am ehesten taugt für von Hentig noch der Begriff der Phantasie, weil er im Unterschied zu schöpfen, erfinden, einbilden nichts bereits Vorgegebenes voraussetzt, sondern die vorgeprägten Muster überschreitet. Ginge es der Kreativitätsforschung um die Bereitschaft zum Risiko und zum Ungewöhnlichen, rät von Hentig dazu, an diesem Punkt mit der Forschung anzusetzen.
Sympathisch wird von Hentig die Kreativitätsforschung, wo es ganz praktisch um Kreativitätsförderung vor allem in der Kunst als der Erkundung des Möglichen (von Weizsäcker) geht. Jenseits der aktuellen Formen schulischen Kunstunterrichts (als Kunstgewerbe, Künstlerimitation, Kunsttheorie und –geschichte) würde sich Kunst auf Wahrnehmung (aisthesis) konzentrieren. Die Bildung der Wahrnehmung ist allerdings eine zu umfangreiche Aufgabe, als dass sie von einer Disziplin allein zu bewältigen wäre. Hier ist die Schule insgesamt gefordert. Die Erkenntnisse des Hirnforschers Robert Sperry über die Zusammenarbeit der beiden Gehirnhälften lassen allerdings den Schluss zu, dass Schule aktuell nur eine Seite des Gehirns bildet, die andere aber sträflich vernachlässigt: „Die Schule verhindert die Ausbildung der ganzen Person!“ (S. 47) Die Delegation der Kreativität an die Kunst kann nicht darüber hinwegtäuschen, „daß wir elementare Erfahrungsmöglichkeiten des Menschen verkümmern lassen“ (ebd.)
Bei aller Sympathie bleibt aber bei von Hentig eine Skepsis gegenüber dem Kreativitätsbegriff, und zwar aus mehreren Gründen:
(1) Es gibt eine „falsche Gegnerschaft und falsche Berühmung der Kreativität“ (S. 48): Falsche Gegner sind die staatlichen Schule, die Verkopfung, die Ausrichtung an der Berufswelt und die Forderung nach Sekundärtugenden, weil sie nicht zwangsläufig Kreativität zuwiderlaufen müssen. Im Gegenzug werden der Kreativität Möglichkeiten unterstellt, die nicht erwiesen sind.
(2) Es gibt eine „falsche Auslegung der Kreativität“ (S. 51), denn Kreativität ist nicht einfach mit Ursprünglichkeit, Unmittelbarkeit, Kindlichkeit gleichzusetzen. Durch falsch verstandene Kreativität entstehen fragwürdige methodische und didaktische Umsetzungen.
(3) Es werden die „falschen Instrumente der Kreativitätsförderung“ (S. 54) eingesetzt: Unter der Überschrift „Kreativität“ verbergen sich zahlreiche Rezepte von der wissenschaftlich verbrämten Alltagsweisheit bis zu wirtschaftlichen Managementstrategien, die in ihren Grundlagen und Zielen unklar und unreflektiert sind. Das Drängen nach Innovation ist noch nicht die gesellschaftlich notwendige Erneuerung.
(4) Die Kreativitätsförderung verfolgt „falsche Motive“ (S. 60): Problematisch ist vor allem die politische Instrumentalisierung der Kreativität zur Förderung der Wirtschaftlichkeit. Die politische Forderung nach Förderung der Kreativität in der Bildung dient vor allem diesem Ziel und steht damit im Gegensatz zu wirklicher Kreativität: „Kreatives Denken ist in erster Linie befreites Denken – nicht gehemmt von Furcht oder Routine oder perfektem Vorbild –, es ist kein anderes Denken. Die Spontaneität, die in solchem Befreitsein zur Geltung kommt, kann man nicht ‚veranstalten’, methodisieren, einüben – das widerspricht ihrem Wesen; auch Ermutigung muß sie verfehlen; vollends läßt sie sich nicht ‚in Dienst’ nehmen. Mit anderen Worten: Wo immer wir von der Kreativität ein Wunder erwarten, werden wir es nicht bekommen.“ (S. 72).
Kreativität lässt sich nicht ohne weiteres herstellen. Es sind Insbesondere unser Reichtum und unsere Überfülle die für von Hentig unsere Kreativität behindern. Er meint, wir machen es Schülern oft zu einfach. Wichtige Voraussetzungen von Kreativität wäre dagegen die Erfahrung eines Problems und der ermutigte Versuch eine Lösung – ermutigt dadurch, dass z.B. der Lehrer vormacht, dass es tatsächlich „geht“.
Beispielhaft erzählt von Hentig von einer Zugfahrt, bei der er mit einem kleinen Mädchen ins Gespräch kommt, das nicht recht weiß, was es Papier und Stiften anfangen kann. Die Mutter ist mit Lesen beschäftigt, das Kind verliert bald die Lust. Als es den schreibend arbeitenden von Hentig fragt, was er macht, lügt er, er schreibe einen Brief an einen Freund, bei dem er was vergessen habe – weil die Wahrheit zu kompliziert gewesen wäre. Die kleine Lüge und das Gespräch regen das Kind an, selbst malend und kritzelnd einen Brief an die Oma zu „schreiben“. Mehr, meint von Hentig, braucht es oft nicht: „Eine kleine, selbstempfundene Not, ein bißchen Anregung, ein Stück zustimmende Begleitung.“ (S. 75) Zur Kreativität taugt eine Erfindung allein aber noch nicht, sondern es müssen „Erkennen, Prüfen, Verstehen, Durchhalten hinzukommen“ (S. 78) und das kreative Tun bedarf eines Zweckes. „Der kann dann sogar die Lüge adeln.“
Hentig, Hartmut von: Kreativität. Hohe Erwartungen an einen schwachen Begriff, Weinheim: Beltz 2000, ISBN 978-3-407-22067-7.