Wilhelm Schapp hat die Wendung vom „In Geschichten verstrickt“ sein geprägt und meint damit, dass nichts und niemand dieser Verstrickung entkommen kommen kann. Er meint sogar: Wir sind diese Geschichten. Paul Nizons Erzählung „Hund“ handelt von dem Versuch, sich nicht in Geschichten hineinziehen zu lassen. Es ist ein radikales Streben nach Freiheit. „Jede Geschichte ist ein Polizist, der dich verhaftet und einsperrt“ (35), sagt der Ich-Erzähler.
„Das Leben schreibt keine Geschichten. Wir sind es, die das Geschehen in Geschichten ummünzen und uns darin einsperren und alle Türen verriegeln.“ (59)
Sein Freiheitsdrang bringt den Ich-Erzähler dazu, „aus allen Geschichten wegzulaufen“ (71f), denn „Geschichten sind Anschläge auf das Leben“ (91, vgl. 124).
Eine intensive Bindung, geradezu eine Art Geistesverwandtschaft empfindet der Ich-Erzähler vor allem zu seinem Hund: ein Wesen, das radikal in der Gegenwart lebt und leidenschaftlich seinem Instinkt folgt, vor allem seinem Jagdtrieb:
„Der Hund war für mich das Inbild des absurden Spurenlesers und Recherchierers.“ (69)
Aber auch aus dieser Bindung versucht der Erzähler sich zu befreien. Die Anhänglichkeit des Hundes nervt ihn und so lässt er den Hund irgendwo zurück, befiehlt ihm zu warten, und kehrt aber nicht zurück (23).
Anders als der Hund ist der Erzähler nicht treu. Frauen wecken eine Art Jagdinstinkt und hat er erst Witterung aufgenommen, ist so wenig zu halten wie sein Hund:
„Im Grunde wartete ich auf die Spur, dich mich in Leidenschaft versetzen und hinreißen würde. Hinreißen? Ins Leben schleudern. Erwecken.“ (72)
Die Ehe scheitert daran. Er scheut auch nicht zurück, sich mit der Begleiterin eines guten Bekannten zu einem Rendezvous zu treffen. Natürlich: Es sind „Frauengeschichten“ und „Liebesgeschichten“ (vgl. 23) – doch als er Hannelore trifft und mit ihr eine Affäre beginnt, sagt er sich von Anfang an: „Nur keine Geschichte, es darf um alles in der Welt keine Geschichte daraus werden“ (56). Es ist vor allem die Langeweile, der er scheut: Aus den Verhältnissen dürfen keine langweiligen Geschichten werden (60).
Einen anderen Geistesverwandten, ja sogar eine „Waffenbrüderschaft“ (44) findet er im „Maler“, Hundebesitzer wie er und jemand, den nichts von der Fährte abbringen kann, die er einmal aufgenommen hat. Die Gegenfigur ist der „Künstler“ (61), eine Art Alter-Ego des Ich-Erzählers, von dem er sich beobachtet und verfolgt, zu dem er sich aber ähnlich hingezogen fühlt wie ein Hund zu seinem Herrchen (vgl. 80). Wie sich herausstellt ist der Künstler ein Schriftsteller (87), und der Erzähler fürchtet, dass der Schriftsteller ihn in eine Geschichte hineinschreibt, ihm eine Geschichte andichtet, ihn wie einen Hund an die Leine seines Textes legt (91, vgl. 127). Oder ist er vielleicht selbst dieser Schriftsteller (129)?
Dabei faszinieren ihn Geschichten durchaus: Es sind Figuren aus Zeitungsartikeln, deren Geschichten er verfolgt: die Geschichte des angeblichen Arztes, der seine Familie ermordet (13; Ist das die Geschichte, die Emmanuel Carrère in „Der Widersacher“ ausführlich erzählt hat?); der junge Mann, der sich in seiner Zeile mit einem Wollfaden umbringt, bevor er eine Geschichte hat (24); der französische Soldat, der in russischer Gefangenschaft seine Geschichte vergisst (65); der Deutschlehrer, der zum obdachlosen, einsamen Wolf wird (81); das berüchtigte Sammellager Drancy während des Vichy-Regimes (92); die Kinder im Umerziehungsheim für minderjähriger Kriminelle (107); die beiden Jugendlichen, die einen dritten aus reiner Mordlust töten (113); der Ausbrecherkönig, der mit seiner Freiheit nichts anzufangen wusste (135). Es sind oft kriminelle Randfiguren, die den Erzähler schon immer fasziniert haben, Menschen, die im Dunkeln leben und eine andere Perspektive auf das Leben haben (132).
Der Erzähler ist wie ein streunender Hund. Schon als Schüler ist er gern losgezogen, hat nach der Schule Umwege gemacht und hat den Hund zuhause als Ausrede genutzt, um losziehen zu können. Wenn die kleine Schwester ihn begleiten wollte, dann nur unter der Bedingung, dass sie schweigt – denn er wollte diese Zeit für sich, wollte nachdenken. Wobei das Laufen und Herumstreunen bei ihm eigentlich überwiegt: „Ich bin nicht fürs Denken, ich bin fürs Laufen gemacht.“ (142) Ziellos schleicht er herum und kommt dabei immer vom Weg ab (21f). Wie ein Clochard fristet er sein Dasein und ist doch gleichzeitig Flaneur und Bohemien. Er sehnt sich nach Freiheit und fühlt sich als Gefangener (125):
„Die Hoffnung wäre das Ausbrechen.“ (133)
Dabei steckt er „bis zum Hals in Freiheit“ (62; vgl. 142) und hat doch das Gefühl, sie zu verfehlen wie einen vorbeirasenden Zug.
Seine Lebensbeichte legt der Ich-Erzähler ab, während er in der Mittagszeit an einer Pariser Straßenecke steht wie einer „der Schmiere steht“ (8). Der Schriftsteller erscheint ihm dabei wie ein allgewaltiger Schöpfer, der seine Figuren vorführt und vor eine Entscheidung stellt: „Er führt sie an der Leine. Nur die Liebe zerrt einen aus dem Dunkel hervor, es sind die Augen der Liebe, die die Betroffenen vorübergehend zu begehrenden, leidenden, vor allem zu sehenden Menschen machen. Lebendigen einzelnen. Und jetzt entscheide dich, lebe!“ (127) Am Ende wagt der Ich-Erzähler es, Schriftsteller anzusprechen. Bei einem Glas Wein kommen sie ins Gespräch. Am Ende steht der Erzähler an seiner Straßenecke. „Es ist Mittag.“ Er steht dort und merkt: Er braucht einen „Tapetenwechsel“ (142; 148). Er hat die Freiheit satt und will – nach Hause?
„Hund. Beichte am Mittag“ ist ein dichtes Textgewebe mit zahlreichen, inneren Verweisen. Es geht um Freiheit und Alltag, Ethik als Lebensführung und Moral als Frage nach den Handlungsmaßstäben. Es geht um „Vaterlosigkeit“, Heimat und Heimatlosigkeit, um das Schreiben und die Kunst. Der Ich-Erzähler ist ein moderner, verlorener Sohn, bei dem Zuhause kein Vater mit offenen Armen wartet.
Nizon, Paul: Hund. Beichte am Mittag, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1998.