Der Waisenjunge Pip wächst in ärmlichen Verhältnissen auf. Weil Miss Havisham einen Spielgefährten für ihre Adoptivtocher Estella sucht, kommt Pip in das Haus der wohlhabenden Dame. Pip verliebt sich in Estella, hat aber als armes Waisenkind keine Chance. Da taucht ein unbekannter Wohltäter auf, der Pip eine gute Erziehung in London finanziert und für die Zukunft ein großes Vermögen verheißt. Pip denkt, dass Miss Havisham die Wohltäterin ist, um Pip in die Lage zu versetzen, Estella einmal heiraten zu können. Aber Pip irrt. Am Ende platzen die hochfliegenden Träume. Das ist der Stoff von Charles Dickens Roman „Große Erwartungen“.
Erwartungen richten sich auf die Zukunft. In „Erwartung“ steckt das Wort „warten“, etwa wenn wir einen angekündigten Besuch „erwarten“. Schon der Kirchenvater Augustinus hat den Begriff der Erwartung in seiner Theorie der Zeit verortet: So wie sich die Erinnerung auf die Vergangenheit bezieht, so bezieht sich die Erwartung auf die Zukunft. Die Fähigkeit, etwas, das (noch) nicht ist, gedanklich vorwegzunehmen, zeichnet Menschen aus. So beschreibt Immanuel Kant es als einen Aspekt der menschlichen Vernunft, dass Menschen nicht nur den gegenwärtigen Augenblick erleben, sondern in ihren Gedanken sich etwas gegenwärtig machen können, was in ferner Zukunft liegt. Erinnerung und Erwartung stehen daher in einer Linie: Auf Grund von Erfahrungen in der Vergangenheit erwarten wir, dass in Zukunft in ähnlichen Situationen ähnliches geschieht.
So eine Erwartung kann uns in eine freudige Stimmung versetzen, wenn wir Besuch, Weihnachtsgeschenke oder den Gewinn bei einem Gewinnspiel erwarten. Die Erwartung kann aber auch ängstigen, wenn sie sich auf etwas richtet, dass wir befürchten: Klimawandel, Krankheit, Tod … In Filmen und Romanen wird mit unseren Erwartungen gespielt, zum Beispiel wenn uns in einer Komödie Unerwartetes überrascht und zum Lachen bringt, oder ein Gruselfilm uns in spannungsvoller Erwartung des Schrecklichen hält.
Allerdings: So wie Erinnerungen falsch sein können, sondern kann auch eine Erwartung trügerisch sein. Obwohl für Kant Erwartung mit der Vernunftbegabung des Menschen zu tun hat, künftige Ereignisse gedanklich vorwegzunehmen, sagen unsere Erwartungen nichts darüber aus, wie wahrscheinlich oder unwahrscheinlich ein Ereignis ist. Eine Erwartung kann unvernünftig und völlig unwahrscheinlich sein. Der Roman von Charles Dickens führt das in besonderer Weise vor. Von „Great Expectations“, so der Titel des Romans im Original, spricht man zum Beispiel dann, wenn jemand eine große Erbschaft erwarten darf und insofern eine „gute Partie“ darstellt. Die Person hat zwar noch kein Geld, aber irgendwann wird es so weit sein. Erwartung hat also viel zu tun mit Hoffnung und Zuversicht, mit Annahmen und Vermutungen. Auch Fantasie und Wunschvorstellungen sind Vernunftleistungen des Menschen.
Was für die Zukunft erwartet wird – unabhängig davon, wie wahrscheinlich es ist – hat Einfluss auf das Verhalten in der Gegenwart. Daraus entwickelt sich, was wir für gewöhnlich eine „Erwartungshaltung“ nennen: Das kann positiv, z.B. wenn jemand krank ist und hofft, dass eine bestimmte Behandlungsmethode anschlagen wird. Der Effekt kann zu einer subjektiven Verbesserung führen und sogar die Heilungschancen erhöhen, obwohl in der Gegenwart die Krankheit noch da ist. Bei unserem Waisenknaben Pip hat die Erwartungshaltung negative Auswirkungen: Pip wird überheblich und hält sich für was Besseres, als seine arme Verwandtschaft. Es gibt interessante Untersuchungen dazu, wie die Erwartungshaltungen von Lehrerinnen und Lehrern die Leistungen ihrer Schülerinnen und Schüler beeinflussen – negativ wie positiv. Und natürlich wird der Gegenwartseffekt von Zukunftserwartungen besonders deutlich auf dem Kapitalmarkt, nicht nur im Aktienhandel.
Eine Erwartung ist eben nicht eine Vorstellung von dem, was geschehen wird, sondern von dem, was geschehen könnte. Der Roman von Charles Dickens endet trotz aller geplatzten Hoffnungen mit einem Happy End: Pip und Estella kommen am Ende zusammen – beide zwar arm, aber glücklich. Damit kommt Dickens sicherlich vielen Erwartungen von Leserinnen und Lesern entgegen, die gerne ein glückliches Ende haben. Ursprünglich hatte Dickens kein Happy End geplant. Dass er sich doch dafür entschieden hat, hat Dickens heftige Kritik seines Schriftstellerkollegen George Bernhard Shaw eingebracht, der ein tragisches Ende erwartet hatte. So ist das eben mit Erwartungen: Allen rechtmachen kann man es nicht.