Dem Guten nachjagen

Zu einem Einführungsgottesdienst von Pfarrer:innen gehört, dass der oder die eingeführte die Predigt hält. Am 23. Januar 2025 wurde ich in einem Gottesdienst in der Friedenskirche in Münster offiziell in meine Polizei-Pfarrstelle eingeführt. Die Stelle als Polizeipfarrer hattte ich am 1. August 2024 angetreten (siehe Neue Perspektiven). Meine Aufgaben sind zum einen, „Ethik im Polizeiberuf“ an der Deutschen Hochschule der Polizei (DHPol) in Münster-Hiltrup zu unterrichten und zum anderen am „Zentrum für Ethische Bildung und Seelsorge“ (ZeBuS) am LAFP der Polizei NRW mitzuarbeiten. Hier die ausformulierte Fassung meiner Predigt.

Kompass

Ich habe meinen Kompass mitgebracht. Es ist der Bundeswehr-Kompass meines Vaters. Seit rund 45 Jahren habe ich ihn selbst in Gebrauch. Er zeigt verlässlich nach Norden. Man kann damit Ziele anvisieren. Man kann Steigungen messen und mit einem kleinen Rädchen Strecken auf topografischen Karten.

Die letzte Wanderung mit Kompass habe ich vor über 30 Jahren gemacht. Wirklich gebraucht habe ich den Kompass damals schon nicht mehr. Heute verwende ich eher mein Smartphone, z.B. die App Komoot.

Was auch immer man verwendet: Kompass oder Navi-App – Sie helfen bei der Orientierung und dabei, ein Ziel anzuvisieren. Was diese Hilfsmittel nicht tun: Sie nehmen mir nicht die Entscheidung ab, welches Ziel ich anvisieren soll.

1. Leben heißt: Entscheidungen treffen.

Leben heißt: Entscheidungen treffen.

Einer meiner Lieblingsfilme handelt davon. Der Filmtitel klingt im Original wie ein philosophischer Aufsatz: „Crimes and Misdemeaner“. Zu Deutsch etwa: Verbrechen und Fehlverhalten. Es geht um zwei Männer. Der eine, ein Dokumentarfilmer, erfolglos. Der andere ein Arzt und sehr erfolgreich. Beide Männer sind verheiratet. Beide verlieben sich in eine andere Frau – und müssen sich entscheiden.

Als der Dokumentarfilmer bei der Arbeit der anderen Frau näherkommt, lässt er sich hinreißen, sie zu küssen. Die weist ihn entrüstet zurück. Ein Fehlverhalten. Ganz klar.

Der Arzt ist weniger zimperlich. Schon zwei Jahre hat er eine Affäre mit der anderen Frau. Als die Frau droht, nicht nur die Affäre, sondern auch finanzielle Unregelmäßigkeiten auffliegen zu lassen, lässt er sie durch einen Killer ermorden. Ein Verbrechen.

Am Schluss unterhalten sich beide Männer bei einem Drink an der Bar. Als sie schließlich schweigen, sieht man noch einmal entscheidende Szenen aus dem Film. Im Hintergrund hört man die Stimme eines Philosophen, über den der Dokumentarfilmer einen Film im Film drehte. Er sagt: „Unser ganzes Leben lang müssen wir schwierige Entscheidungen treffen – moralische Entscheidungen. Einige sind von großer Wichtigkeit; die meisten aber von geringerer Bedeutung. Aber wir definieren uns durch die Entscheidungen, die wir getroffen haben. Genau genommen sind wir die Summe unserer Entscheidungen.“

Fehlverhalten oder Verbrechen. Leben heißt: Entscheidungen treffen.

2. Dem Guten nachjagen

Allerdings: Wir haben ja nicht nur die Wahl zwischen unterschiedlichen Graden von Vergehen. Fehler gibt es ja nur als Abweichung von dem, was als richtig gilt. Paulus rät: „Jagd allezeit dem Guten nach“.

Der Ratschlag steht im vermutlich ältesten, erhaltenen Brief von Paulus, adressiert an die Gemeinde in Thessaloniki. Paulus hatte in der griechischen Metropole verkündet: Jesus wurde gekreuzigt, ist gestorben, auferstanden und in den Himmel aufgefahren ist. Paulus hatte aber auch versprochen: Bald wird Jesus wiederkehren. Doch die baldige Wiederkehr zog sich hin. Wenn das Reich Gottes in absehbarer Zeit vielleicht doch noch nicht anbricht, wenn also gerechte Verhältnisse und ein glückseliges Leben in Frieden noch auf sich warten lassen: Was bedeutet das für die wichtigen Entscheidungen im Leben?

Paulus rät, das Leben auf eine langfristige Perspektive einzustellen:

„Weist die Nachlässigen zurecht, tröstet die Kleinmütigen, tragt die Schwachen, seid geduldig mit jedermann. Seht zu, dass keiner dem andern Böses mit Bösem vergelte, sondern jagt allezeit dem Guten nach, füreinander und für jedermann.

Seid allezeit fröhlich, betet ohne Unterlass, seid dankbar in allen Dingen (…).

Prophetische Rede verachtet nicht. Prüft aber alles und das Gute behaltet. Meidet das Böse in jeder Gestalt.“ (aus 1. Thess. 5,14-22)

Auch wir warten immer noch. Insofern bleibt der Rat von Paulus bestehen: Richtet euch ein auf ein Leben in einer unvollkommenen, ungerechten, unfriedlichen Welt. Nur: Soweit es an euch liegt: Jagt dem Guten nach.

3. Der moralische Kompass

Wir müssen entscheiden, woran wir uns orientieren wollen.

Die Ratschläge von Paulus sind ja in weiten Teilen überraschend allgemeingültig. Man muss nicht Christin oder Christ sein, um zustimmend mit dem Kopf zu nicken. Und ehrlich gesagt: Ich bin der Meinung: Es gibt gar keine originär christliche Ethik. Paulus orientiert sich an Normen und Wertvorstellungen seiner Zeit. Für ihn ist wichtig: Christinnen und Christen sollten sich am Guten und Richtigen orientieren. Und das ist oft etwas allgemein Menschliches.

Menschen stehen allgemein dauernd vor „schwierigen Entscheidungen – moralischen Entscheidungen“. Es gibt nicht nur „gut“ und „böse“, „schwarz“ und „weiß“. Es sind viele Graustufen zwischen Verbrechen, Fehlverhalten, der guten Tat und der noch besseren. Wir brauchen eine Orientierungshilfe.

In der Polizei gibt es eine wichtige ethische Metapher: den Kompass.

So einen Kompass zu gebrauchen, habe ich als Kind im Zeltlager gelernt. So nützlich er ist: Er nimmt mir nicht die Entscheidung ab, welches Ziel ich anvisieren und welchen Weg ich einschlagen soll.

Ich verrate Ihnen noch ein Geheimnis: Ein Kompass allein nützt wenig! Er zeigt bloß an, wo Norden ist. Um sich im Gelände zu orientieren, braucht man auch eine Karte.

Das Universum ist zunächst einmal moralisch völlig indifferent. Wir können aus der natürlichen Welt selbst nicht ablesen, was gut ist und wie wir leben sollen. Aber wir wachsen hinein in eine Kultur, eine moralische Welt. In dieser moralischen Welt gibt es Werte und Güter, Rechte und Normen. So etwas wie eine moralische Landkarte gibt uns darüber eine Übersicht. Die moralische Landkarte gibt uns ein Bild von der Welt und hilft uns, sich darin zu orientieren.

Die ethische Metapher des Kompasses wird erst dann vollständig, wenn wir über eine solche moralische Landkarte verfügen. Dann können wir mit dem Kompass die Karte ausrichten und uns im wirklichen Gelände orientieren: Wo will ich hin? Wo stehe ich jetzt? Und wer bin ich überhaupt?

Erst dann können wir uns orientieren und entscheiden, in welche Richtung wir gehen wollen.

4. Was ist das Gute?

„Meidet das Böse in jeder Gestalt“, meint Paulus.

Was ist das Gute? Welche Wege können wir gut gehen? Welche sollten wir meiden? Viele Leben nach dem Prinzip Wie du mir, so ich dir. Das ist eine moralische Grundhaltung: Hilfst du mir, helfe ich dir. Das lässt sich auch ins Negative wenden: Kommst du mir schräg, kriegst du es zurück. Auge um Auge, Zahn um Zahn. Das alte Talionsprinzip war ursprünglich eine rechtliche Errungenschaft: Für den Verlust eines Auges sollte als Strafe keinesfalls mehr als selbst ein Auge zu opfern sein. Blutrache sollte so unterbunden werden. Allerdings wurde das Talionsprinzip oft als Prinzip der Vergeltung gedeutet.

Paulus setzt in einem späteren Brief dagegen: „Überwinde das Böse mit Gutem“ (Röm 12,21) Das ist ein gutes Beispiel für den paulinischen Grundsatz: „Prüft alles und behaltet das Gute.“

Niemand kann für sich allein eine moralische Landkarte erstellen. Es ist ein Gemeinschaftswerk. Und so, wie Landkarten immer wieder überarbeitet, korrigiert und ergänzt werden müssen, so muss auch die moralische Landschaft immer wieder neu vermessen werden. Was gut und richtig ist, muss sich immer wieder neu erweisen. Und weil das, was für mich gut ist, nicht automatisch auch gut ist für dich, können wir nur gemeinsam herausfinden was gut ist für uns.

Zudem ist das Gute nicht auf den unmittelbaren Nahraum beschränkt. Ja, es geht um das Gute, das wir „füreinander“ tun, für die Verwandten, Freunde und Bekannten. Dem Guten nachjagen geht aber darüber hinaus: es schließt jedermann und jedefrau mit ein: „Seid allen Menschen gegenüber auf Gutes bedacht!“ (Röm 12,17b).

Das ist ein guter Leitspruch auch für die Polizei: Es geht ja nicht nur darum, dass Polizist:innen die Bösen jagen. Das eigentliche Ziel ist doch das Gute, das sie mit ihrem Tun verfolgen.

Ich glaube, in dieser moralischen Grundhaltung steckt immer ein universalistischer Anspruch: Das Gute gilt nicht nur hier und jetzt. Darin steckt der Anspruch, dass es gut und richtig ist immer und überall.

Um zu klären, in welcher Richtung das Gute und Richtige zu finden ist, brauchen wir eine moralische Welt-Karte. Und die muss dauernd überarbeitet werden.

5. Entscheiden müssen

„Unser ganzes Leben lang müssen wir schwierige Entscheidungen treffen – moralische Entscheidungen,“ sagt der Film-Philosoph. Kompass und Karte mögen uns bei der Orientierung helfen. Entscheiden müssen wir am Ende selbst.

Moralische Intuition und ethische Reflexion helfen vielleicht dabei, das Gute und Richtige erkennen. Aber auch das wusste schon Paulus: „(D)as Gute, das ich will, das tue ich nicht; sondern das Böse, das ich nicht will, das tue ich.“ (Röm 7,19)

Zwar meine ich: Es keine eigentlich christliche Ethik. Aber es gibt für eine gute Nachricht, die für mich zutiefst christlich ist: Selbst wenn wir die Summe unserer Fehlentscheidungen und Irrtümer sind – unser Scheitern ändert nichts daran, dass Gott für uns alles Gute will.

Falsche Entscheidungen lassen sich nicht vermeiden. Nur sollten wir uns davon nicht entmutigen lassen. Gott kann und will daraus immer noch Gutes entstehen lassen.

Das ist für mich die gute Botschaft: Wir können Fehler machen. Wir können daraus lernen, wie es nicht geht. Wir können lernen es gut zu machen.
Also: Probiert es einfach nochmal. Jagt weiter dem Guten hinterher. Füreinander. Für alle Welt.