Ist die Zeit der Predigt vorbei?

„Die Zeit der Predigt ist vorbei“, behauptet Hanna Jacobs in der ZEIT-Beilage „Christ & Welt“. Ihr Text ist zwar weniger radikal, als die Überschriften „Schluss mit dem Sermon!“ und „Schafft die Predigt ab“ vermuten lassen und die Überlegungen sind alles andere als neu, aber ich will trotzdem ein paar Anfragen stellen. Der Autorin halte ich dabei zugute, dass die reißerischen Elemente, die auf den Text verweisen, redaktionell begründet sind und nicht auf die Autorin zurückgehen, denn anders als angekündigt geht es in dem Text nicht darum, „warum es nicht mehr zeitgemäß ist, die Menschen abzukanzeln“. Das würde auf ein merkwürdiges Predigtverständnis hinweisen. Hanna Jacobs geht es um einen Predigtwandel.

Predigt ist im Wandel

In der Tat: Predigt ist im Wandel. Allerdings ist Predigt immer im Wandel. Das hängt damit zusammen, dass „Predigt“ ein Containerbegriff ist: Verkündigen, Lehren, gute Nachrichten bringen – das sind nur drei Begriffe, die in deutschen Bibeln mit „Predigen“ übersetzt werden. Die Grundlage dafür bilden aber drei verschiedene griechische Wörter: Jesus etwa verkündet das kommende Gottesreich (kērussō) und lehrt er die Menschen in den Synagogen und auf dem Berg (didaskō), während die Apostel die frohe Botschaft vom Auferstandenen öffentlich machen (euaggelizō).

Hanna Jacobs sieht den Wandel der Predigt im Zusammenhang eines breiteren, „unaufhaltsamen kulturellen Wandels“. Der Relevanzverlust der Predigt ist dabei nur ein Teilaspekt eines allgemeinen Relevanzverlustes der „gehaltenen Rede“: Sie erscheine als „Fremdkörper“ „in einem Universum aus Bildern und Kurznachrichten“. Die Kirche, so Jacobs, weiß mit diesem allgemeinen kulturellen Wandel nichts anzufangen und redet deshalb nur noch aus Verlegenheit weiter. Das mag sein. Leider belässt es Jacobs bei diesen Andeutungen. Nimmt sie nicht wahr, dass seit den Zeiten der Aufklärung über den Wandel der Predigt diskutiert wird? Im 20. Jahrhundert hat sich das festgemacht an der mittlerweile etwas totgelaufenen Debatte um die „Krise der Predigt“ bis hin zu den Impulsen der New Homiletic. Jakobs Text fordert den Wandel ein, ohne zu konstatieren, dass es längst einen Wandel gibt.

Wie unklar die These vom Ende der Predigt bei Hanna Jacobs ist, wird noch deutlicher, wenn man aus dem Predigt-Container Begriffe herausnimmt und in die These einsetzt: Meint Jacobs „Die Zeit der Verkündigung ist vorbei“ oder „Die Zeit, die frohe Botschaft weiterzusagen, ist vorbei“? Offensichtlich nicht. Es wäre daher erstmal zu klären: Was versteht Hanna Jacobs unter „Predigt“?

Predigt zwischen Klischee und berechtigter Kritik

Predigt tritt bei Hanna Jacobs leider erstmal als Predigt-Klischee auf: als Sermon. Darunter wird in der deutschen Umgangssprache ein langweiliges und langatmiges Gerede verstanden. Jacobs beschreibt dieses Gerede als dreißigminütigen, abgelesenen Monolog. Dabei beklagt sie an der Predigt manche kritischen Punkte ja zu Recht:

  • Viele Predigtinhalte sind für die Hörer irrelevant, unter anderem weil künstlich auf Basis eines vorgegebenen Predigttextes ein Problem formuliert wird, „das keiner hat, um darauf Antworten zu finden, nach denen niemand fragt“
  • Predigt ist als „Breitbandverkündigung“ wirkungsärmer als das persönliche Gespräch. Ihre Inhalte bleiben kaum in Erinnerung.
  • Der Aufwand, den viele Prediger bei der Vorbereitung betreiben, und der Ertrag stehen in keinem angemessenen Verhältnis.
  • der Monologcharakter kann auch für ein Machtgefälle stehen: Pfarrer haben „theoretisch die Deutungshoheit über Glauben und Leben, Richtig und Falsch“.

Dem steht ein Predigtideal gegenüber, bei dem die Predigtthemen „von existentieller, lebensverändernder Bedeutung“ sind: „Gute Predigten wirken nach (…). Sie verändern etwas.“ Predigt wird dabei vor allem über ihre Funktion bestimmt.

  • Predigt soll unterhalten und informieren.
  • Predigt soll „Glauben wecken und erweitern“.
  • Predigt soll „von der Sorge befreien, vor Gott, mir und den anderen nicht gut genug zu sein.“ Sie sollen persönlich Trost und Ermutigung zusprechen (Für Jacobs scheint das der Kern des Evangeliums zu sein).

Form follows function

Hanna Jacobs argumentiert: Ein Design-Grundprinzip sagt, eine Form muss sich aus der Funktion einer Sache ergeben. Die Form der Predigt erfüllt die Funktion nicht. Also hat sich die Form der Predigt erübrigt. Es braucht andere Formen. Jacobs schweben dialogische Formen vor: Bibliolog zum Beispiel, das Bibelteilen oder die gemeinsame Meditation eines Bibelverses. Die neue Form ermöglicht es, gemeinsam Fragen zu stellen und zu erörtern. Die neue Form ist „an der Erfahrung mehrerer aufrichtig interessiert“ und begegnet der „Religiosität des Einzelnen“ wertschätzend. Die Frage ist nur: Die neue Form von was?

Die form-follows-funktion-Prämisse besagt von ihrer Herkunft eigentlich, dass beispielsweise ein Türgriff so entworfen werden sollte, dass er ein einfaches, gefahrloses, bequemes Öffnen und Schließen einer Tür ermöglicht. Daraus, dass ein Türgriff diesen Funktionen nicht entspricht, folgt allerdings nicht, dass Türgriffe im Allgemeinen passé wären. Es folgt nur, dass bestimmte Formen von Türgriffen nicht funktional sind. Ein Architekt wird sich eine ganze Reihe Fragen stellen müssen: Brauche ich überhaupt Türen? Könnte ich auch Schiebetüren verwenden? Welche Türgriffe bräuchte ich dann? Türgriffe unterliegen einem ständigen Wandel. Nur weil es elektrische Türöffner gibt heißt es nicht: Die Zeit der Türgriffe ist vorbei.

Ist die Zeit der Predigtform vorbei? Vielleicht ist ja weniger die Predigt das Problem als der sonntägliche Morgengottesdienst. Wie kommt es, dass Menschen, die keinen Bezug zur Kirche haben, die Predigt von Michael Curry anlässlich der Hochzeit von Prinz Harry und Meghan Markle begeistert in sozialen Medien teilen? Könnte es sein, dass nicht eine bestimmte Form von Predigt, wie etwa der Monolog, das Problem ist, sondern fehlende Inhalte? Ist vielleicht gar die Geschichte vom Auferstandenen auserzählt, wie eine Serie am Ende der neunten Staffel? Oder hat sich vielleicht bloß ein Protestantismus erschöpft, dem es nur noch darum geht zu betonen, dass der Hörer eigentlich doch vor Gott, sich selbst und anderen gut genug ist?

Predigt ist keine Form

Die Predigt ist keine Form. Der Begriff der Predigt bündelt zahlreiche sprachliche Handlungen und erfüllt unterschiedliche Funktionen: Verkündigen, Lehren, eine gute Botschaft verbreiten, Ermahnen, Trösten, Erbauen, Kritisieren … Entsprechend vielfältig sind die Formen: Predigt kann monologisch sein und dialogisch, sie kann als Essay auftreten und als Erzählung, sie kann Vortragscharakter haben, Gesprächsimpulse geben und Diskurse bündeln. Predigt kann als Bibliolog auftreten, als Bibelteilen und sogar als gemeinsame Meditation (wer einmal einen Gottesdienst in einer Quäkergemeinde mitgefeiert hat, weiß, was ich meine). Interessanterweise ist der „Sermon“ in seiner Grundbedeutung kein Monolog, sondern Unterhaltung, Gespräch und Zwiesprache.

Was Hanna Jacobs unter „Predigt“ versteht, ist also ein sehr eingeschränkter Predigtbegriff: es ist offenbar die exegetisch orientierte Perikopenpredigt, die über einen Text redet. Angesichts der Tatsache, dass in den evangelischen Kirchen die Einführung einer neuen Perikopenordnung bevorsteht, ist es verwunderlich, dass Jacobs diese spezielle Predigtform im Blick hat, aber mit keinem Wort die Perikopenrevision erwähnt. Gut, man müsste das vielen ZEIT-Lesern vermutlich erstmal erklären – aber Jacobs lässt auch unerläutert, was denn ein „vorgegebene(r) Predigttext“ sein soll. Tatsächlich hängen aber viele Probleme, die sie schildert, wesentlich mit der Form der Perikopenpredigt zusammen.

Das Ende der Perikopenpredigt?

„Die Zeit der Perikopenpredigt ist vorbei.“ – So müsste die These von Hanna Jacobs eigentlich lauten. Jacobs hätte dann der Frage nachgehen können, wozu eine jahrelange Revision der Perikopenordnung nötig ist, die am Ende einiges verbessert, aber die Grundproblematik nicht löst. Hier kann man kritisieren, was Jacobs der evangelischen Predigt insgesamt vorhält: Perikopenordnung und Perikopenpredigt sind ihrer „Tradition mehr verpflichtet als den religiös suchenden und glaubenden Menschen“ von heute. Jacobs hätte der Frage nachgehen können, warum die Perikopenpredigt in Deutschland nach wie vor so wirkmächtig ist, welche Alternativen diskutiert wurden und warum diese sich nicht haben durchsetzen können.

Die Praxis vieler Gemeinden, vieler Pfarrerinnen und Pfarrer, vieler Prädikantinnen und Prädikanten ist da schon wesentlich weiter. Mit ihrer Forderung, (klassische) Predigten zu streichen und das Suchen und Fragen zu beginnen, jedenfalls rennt Hanna Jacobs offene Türen ein. Ja, mir begegnen immer noch viele langweile Predigten, die um ihrer selbst Willen gepredigt werden. Ja, ich bin selbst mit meiner Predigtpraxis oft genug weit entfernt von dem, was gute Predigt sein könnte. Ja, Predigt braucht in ihren Formen Wandel und Veränderung. Aber Predigt ist auch und seit jeher im Wandel. Manchmal ist sie zum Glück auch Stachel und Fremdkörper „in einem Universum aus Bildern und Kurznachrichten“.