Theologisches Notizbuch #7

Das christliche Gespräch mit seiner eigenen Vergangenheit hat mehr Partner als die Bibel allein (vgl. #4). Es ist die Fülle der kirchlichen Überlieferung, mit der christliche Antworten auf gegenwärtige Lebensfragen erörtert werden. Die Bibel ist Teil dieser Fülle. Leider krankt evangelisches Denken oft daran, dass strikt zwischen Bibel und Tradition unterschieden und die Rolle von Traditionsprozessen für das eigene Denken und Glauben nur eingeschränkt bedacht wird.

Das Gegeneinander von Bibel und Tradition haben die Nachfolger der Reformatoren im Schriftprinzip tradiert. Ursprünglich entspringt es der reformatorischen Kritik an der Rolle von Konzils- und Lehramtsentscheidungen in der römischen Kirche. Nach dem Schriftprinzip bedarf die Bibel keiner Ergänzung durch die kirchliche Überlieferung. Allerdings beruht der biblische Kanon selbst auf kirchlicher Überlieferung: Was zum Kanon gehört und in welcher Weise die Texte des Kanon angeordnet werden, weicht in den verschiedenen Kirchen ab und wird immer wieder auch zur Disposition gestellt. Eine Diskussion, die seit der Profilierung eines christlichen Glaubens geführt wird, dreht sich beispielsweise um die Frage, ob die christliche Bibel der Hebräischen Bibel bedarf. Bibel ist ohne kirchliche Überlieferung gar nicht denkbar.

Bibel und Tradition bilden keinen Gegensatz. Abgesehen davon, dass bereits die biblischen Texte Ergebnis mündlicher und schriftlicher Überlieferung sind, wird auch das Verständnis der Texte gewissermaßen neben den Texten her tradiert. So ist beispielsweise die Heilsgeschichte nicht wie ein roter Faden unauflöslich und von vorneherein in die Texte hineingeflochten, sondern wie mit einer Nadel nachträglich durch das Textgewebe gezogen. Wir lernen biblische Texte in bestimmter Hinsicht zu lesen und tradieren das Verständnis der Texte mit den Texten.

Die Reformatoren verstanden die nachbiblischen Lehren als zeitgebunden und daher nicht so bindend wie die Worte der Bibel. Das Problem, dass die Worte der Bibel selbst zeitgebunden sind, versuchte Luther dadurch zu umgehen, dass er annahm, es gäbe einen roten Faden, der sich durch die Bibel zieht: eine „Mitte der Schrift“. Im Gespräch mit der Bibel über jeweils gegenwärtige Fragen des Glaubens und Lebens sollte von dieser Mitte her der biblische Text – auch gegen den Text – verstanden werden. Luther steht hier selbst in einer alten kirchlichen Tradition. Sie nimmt an, dass die Bedeutung biblischer Schriften davon abhängt, „ob sie Christum treiben oder nicht“ (Luther), also ob sie sich auf Christus zubewegen, sich mit ihm beschäftigen und die Sache Jesu weiterführen, oder nicht. Würde man radikal allein auf die Bibel setzen und sie ohne kirchliche Brille lesen, müsste man eingestehen, dass das größte Teil der Bibel weder von Christus handelt, noch auf ihn zuläuft, noch seine Sache weiterführt. Vielleicht müsste man mit Luthers Worten gegen Luther sagen: „was Christum treibet“ ist das, was Jesus selbst an-und weitergetrieben hat, im Gespräch mit hebräischer Bibel und jüdischer Tradition seiner Zeit. Kirchliche Tradition ist das Gespräch darüber heute weiter zu führen.