Die Moral von der Geschicht

Jede Erzählung, so behauptet Benjamin in Der Erzähler, führt „offen oder versteckt, ihren Nutzen mit sich“ (388), und zwar in Gestalt einer Moral, einer Anweisung, eines Sprichworts oder einer Lebensregel. Der Erzähler ist „ein Mann, der dem Hörer Rat weiß“ (388). Der veraltete Stil Benjamins, der einem fast nostalgische Schwingungen beschert, lenkt schnell darüber hinweg, dass seine Analyse harsch ist: „Rat, in den Stoff gelebten Lebens eingewebt, ist Weisheit. Die Kunst des Erzählens neigt ihrem Ende zu, weil die epische Seite der Wahrheit, die Weisheit, ausstirbt.“ (388) – Ich bin mir nicht sicher, in wie weit ich dem zustimmen kann.

Zum einen ist der Punkt interesssant, dass Weisheit als „epische Seite der Wahrheit“ bestimmt wird. Heute gilt gemeinhin gerade die knappe Meldung als Wahrheit, und gerade nicht die epische Breite. Aber auch wenn es wahr ist, ist es nicht unbedingt weise: Die Evangelien sind ein wunderbares Beispiel dafür, wie die Weisheit gerade in der Erzählung seine eigentliche Form findet.

Auf der anderen Seite hat mittlerweile z.B. die Filmindustrie es wunderbar verstanden, die „epische Seite der Wahrheit“ auszubreiten und im Plot zu verdichten. Heute wird mehr Moral im Kino verkündet als von der Kanzel. Und es gelingt gerade durch moderne Formen des Erzählens, wie der Film. Vielleicht wäre Benjamin ganz platt, wenn er sehen würde, wie platt heute erzählerische Weisheit sein kann.

Erzähler als Handwerker

Walter Benjamin denkt am Werk Nikolai Lesskows entlang über den Erzähler nach (in Illuminationen). Es gibt, so Benjamins These, immer weniger Menschen, die noch erzählen können: Die Kunst des Erzählens geht zu Ende. Damit geht eine wichtige Fähigkeit verloren, nämlich die, Erfahrungen auszutauschen. Ursache dafür ist, daß die Erfahrung an Bedeutung verloren hat. Wichtig hierfür die Erfahrung des (1.) Weltkriegs, die zum verstummen führte: „nicht reicher – ärmer an mitteilbarer Erfahrung“ (386) kamen die Soldaten aus dem Krieg.

Grundlage der Erzählung ist die von Mund zu Mund weitergegebene Erfahrung. Die Erzähler lassen sich in zwei Gruppen unterteilen, die Reisenden, die aus der Ferne berichten, und die Daheimgebliebenen, die Geschichten und Überlieferungen ihrer Umgebung kennen. Personifiziert sind die Gruppen in Seeleuten einerseits, im Ackerbauern andererseits. Zusammen kommen beide Gruppen im Handwerker, den wandernden Burschen und den seßhaften Meistern, die früher selber wanderten. „Wenn Bauern und Seeleute Altmeister des Erzählens gewesen sind, so war der Handwerksstand seine hohe Schule. In ihm verband sich die Kunde von der Ferne, wie der Vielgewanderte sie nach Hause bringt, mit der Kunde aus der Vergangenheit, wie sie am liebsten dem Seßhaften sich anvertraut.“ (387)

Roman vs. Erzählung

Der Roman, so Benjamin, stiehlt der Erzählung zu Beginn der Neuzeit die Bedeutung. Anders als die Erzählung geht der Roman weder aus der mündlichen Tradition hervor, noch mündet er in mündliche Tradition. Der Roman bleibt wie der Romancier für sich: „Die Geburtskammer des Romans ist das Individuum in seiner Einsamkeit, das sich über seine wichtigsten Anliegen nicht mehr exemplarisch auszusprechen vermag, selbst unberaten ist und keinen Rat mehr geben kann.“ (Der Erzähler, 389). – Die epische Breite verbietet ja auch ein Nach- und Weitererzählen. Interessanter Weise heißt im Englischen der Roman oft „Novel“, während die Novelle als Erzählform eine Ungeheuerlichkeit preisgibt, die gut erzählbar ist. – Die Frage ist für mich allerdings, ob man das heute noch so sehen kann wie Benjamin. Die Prämisse eines Romans – ist das nicht seine Botschaft, sein Rat, seine Weisheit? Oder ist das schon der durch den Film wieder erzählerisch gewordene Roman?