Close Reading. Ein vereinfachtes Verfahren

„Close Reading“ ist eine Methode zum intensiven Lesen eines Textabschnitts. Im engeren Sinne entstammt „Close Reading“ der amerikanischen, literaturwissenschaftlichen Bewegung des New Criticism. Im weiteren Sinne ist Close Reading ein Werkzeug zur Textinterpretation, das einen Text zunächst einmal aus sich selbst heraus verstehen will. Dazu werden Muster und Motive herausgearbeitet, die die Wörter, Formulierunen und Sätze des Textes bilden. Inspiriert ist Close Reading durch hermeneutische Methoden der Bibelexegese, auf die es  – gewissermaßen literaturwissenschaftlich informiert – zurückwirkt. Hier vorgestellt wird ein stark vereinfachtes, dreischrittiges Verfahren, das sich v.a. zur individuellen Bibelarbeit und Predigtvorbereitung eignet.

Wichtig ist, sich bei der Arbeit am Text Notizen zu machen. Die einfache Regel lautet: Notiere dir alles, was dir auffällt!

1. Der erste Eindruck

  • Überfliege den gesamten Textabschnitt: Worum geht es dem ersten Eindruck nach?
  • Was ist das Erste, das dir an dem Text auffällt?
  • Was ist das Zweite, das dir auffällt?
  • Steht das Erste und das Zweite in einem (evtl. spannungsvollen) Zusammenhang?
  • Unterstreichen diese beiden Auffälligkeiten den ersten Eindruck? Oder ändert sich auf den zweiten Blick etwas daran, worum es im Text zu gehen scheint?
  • Persönliche Reflexion: Warum springen dir bestimmte Auffälligkeiten ins Auge? Liegt das am Text, oder liegt es an dir – weil dich bestimmte Wörter grundsätzlich oder in der aktuellen Situation besonders ansprechen?

2. Sprachliche Besonderheiten und Muster

Hebe mit einem Stift hervor (durch sparsames Unterstreichen, Einkreisen, Randbemerkungen etc.) …

  • … besonders auffällige Wörter und Redewendung
  • … Kernbegriffe und überraschende Formulierungen
  • … unbekannte Wörter und unverständliche oder mehrdeutige Ausdrücke

Suche ausgehend von deinen Markierungen und Notizen …

  • Wiederholungen (in der Wortwahl oder im Satzbau)
  • Gegensätze, Widersprüche und Paradoxien
  • Ähnlichkeiten
  • Motive, Wortfelder und sprachliche Bilder
  • Textformen (Zitate, Gedichte, Reflexionen, Erzählungen, Argumentationen)

Lassen sich im Textabschnitt Muster und Formen ausmachen? Gibt es Zusammenhänge, auch über den Abschnitt hinaus im gesamten Text (z.B. im gleichen Kapitel, im ganzen Buch, im ganzen Evangelium, Brief oder gar der ganzen Bibel)?

3. Fragen und Spuren folgen

Betrachte die entdeckten Muster im Text und frage dich: Wieso, weshalb, warum? Zum Beispiel:

  • Wieso sind diese Bilder und Metaphern gewählt?
  • Weshalb stehen diese Ausdrücke im Text und nicht andere?
  • Warum fallen mir diese Muster auf?

Folge den Spuren, die du entdeckst, durch die Perikope, durch die anderen Perikopen (im Perikopenbuch), durch das biblische Buch, dem der Abschnitt entnommen ist, durch die ganze Bibel hindurch, durch die Wirkungsgeschichte. Solche Fragen und Spuren können zum Beispiel sein: Wo taucht ein auffälliges Wort zum ersten Mal im ganzen Buch auf? Wie lautet die hebräische, griechische oder lateinische Übersetzung? Aber kehre immer wieder zu dem Ausgangstext zurück.

Weitere Informationen gibt es unter anderem hier:

http://writingcenter.fas.harvard.edu/pages/how-do-close-reading

https://web.cn.edu/kwheeler/reading_lit.html

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