Auf dem Boden liegen bedruckte Blätter, angeordnet in Form einer Spirale. Auf den Blättern steht das Glaubensbekenntnis. Es ist auf viele verschiedene Zettel aufgeteilt. Wir stehen rings herum um die Glaubensbekenntnis-Spirale. Gemeinsam sprechen wir das Glaubensbekenntnis, danach wiederholt einer allein leise den Text. Die anderen stimmen bei den Stellen mit ein, die sie aus ganzem Herzen mitsprechen können. An anderen Stellen sprechen sie leise, weil sie hier unsicher sind – oder sie schweigen. So entsteht ein Klangcollage: Der erste Teilsatz wird noch kräftig mitgesprochen: „Ich glaube an Gott“. Bei „Vater“ wird es etwas leiser, beim „Allmächtigen“ noch mehr. Bei „Schöpfer des Himmels und der Erde“ sind wieder viele dabei. Die Übung habe ich verschiedenen Gruppen gemacht, als Einstieg, um miteinander ins Gespräch zu kommen: Was sagt mir das alte, apostolische Glaubensbekenntnis noch? Wie würde es heute klingen?
Ich habe letzte Woche gefragt: Wie würden Sie eigentlich ihren Glauben auf den Punkt bringen? Ein paar Menschen aus der Gemeinde haben mir geantwortet, zum Teil unterschiedlich, zum Teil ähnlich: „Gott“ wird verstanden als Mysterium, oder als der, alles umfasst. Der Mensch ist ein Wesen mit göttlichem Kern. Glaube selbst ist etwas, das immer wieder überrascht und gerade deshalb stärkt und ermutigt. Und Liebe ist eine wesentliche Ausdrucksform des Glaubens.
Für mich ist christlicher Glaube ein Glaube mit offenen Augen. Im Johannesevangelium wird davon erzählt: In einer längeren Geschichte geht es um Blindheit und Sehen im Vorübergehen, um Licht, Sichtbarmachen und sehend werden. Die Geschichte fängt so an:
Im Vorbeigehen sah Jesus einen Mann, der von Geburt an blind war. Da fragten ihn seine Jünger: „Rabbi, wer hat Schuld auf sich geladen, sodass er blind geboren wurde – dieser Mann oder seine Eltern?“
Johannes 9,1-7 Basisbibel
Jesus antwortete: „Weder er selbst hat Schuld auf sich geladen noch seine Eltern. Er ist nur deshalb blind, damit das Handeln Gottes an ihm sichtbar wird. Wir müssen die Taten vollbringen, mit denen Gott mich beauftragt hat, solange es noch Tag ist. Es kommt eine Nacht, in der niemand mehr etwas tun kann. Solange ich in dieser Welt bin, bin ich das Licht für diese Welt.“
Nachdem er das gesagt hatte, spuckte er auf den Boden. Aus dem Speichel machte er einen Brei und strich ihn dem Blinden auf die Augen. Dann sagte er ihm: „Geh und wasche dich im Wasserbecken von Schiloach!“ (Schiloach heißt übersetzt ‚der Abgesandte‘.) Der Mann ging dorthin und wusch sich. Als er zurückkam, konnte er sehen.
Anschließend wird erzählt, wie die Nachbarschaft staunt: Das ist doch Blinde aus unserer Straße! Sie bringen den Mann zu einer Gruppe frommer Gläubiger, weil sie denken, dass das zwar irgendwie mit Gott zu tun, aber sie können die Sache nicht einordnen. Vielleicht haben die Frommen eine Idee. Die Frommen meinen, dass Gott nicht am Werk sein kann, weil die Heilung am Sabbat, am verordneten Ruhetag geschah. Man bringt den Blinden zur Religionsbehörde. Die bezweifelt, dass der Mann überhaupt blind war. Der ehemals Blinde weiß nicht, wie ihm geschieht. Er weiß nur: Er war von Geburt an blind, jetzt kann er sehen und bewirkt hat das ein Mann namens Jesus. Am Ende wird der Mann aus der Ortgemeinschaft rausgeworfen. Als er Jesus wieder trifft, erkennt er in ihm den Christus.
Der Blinde erkennt, während die Sehenden blind bleiben. Religiöser Glaube ist oft so vollgestellt mit Lehrsätzen und Richtigkeiten, mit moralischen Forderungen, mit Rechthaberei und Machtspielen. Schnell sieht man den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr. Vor lauter Richtigkeit und Rechthaberei sieht man die Wahrheit nicht mehr. Glauben mit offenen Augen heißt für mich: Sich tatsächlich überraschen zu lassen. Augen werden geöffnet. Licht fällt ins Dunkel. Ich sehe und ich erkenne, was wahr, wichtig und richtig ist.
Anfang des Jahres habe ich mit Kolleginnen und Kollegen überlegt: Lässt sich christlicher „Glaube an fünf Fingern“ abzählen? Wir waren bei einem Kolleg und haben uns ausgetauscht: Welche fünf Punkte sind für mich unverzichtbar? Wie kann ich meinen Glauben auf den Punkt bringen?
Ich möchte Ihnen an fünf Fingern mal von meinen wichtigen Punkten erzählen. Zwei Punkte finden sich auch in Rückmeldungen aus der Gemeinde: Ich kann nicht über meinen Glauben reden ohne die Begriffe „Gott“ und „Liebe“. Das Problem ist nur: Die beiden Begriffe sind ja nichts grundlegend Christliches. Auch Menschen, die sich als spirituell verstehen, ohne sich einer Religion zuzuordnen, können von „Gott“ und „Liebe“ sprechen. Und auch aus anderen Religionen dürfte Zustimmung kommen, zum Beispiel von Juden und Muslimen. Der Glaube an Gott und die Liebe ist sicher fundamental für christlichen Glauben. Die beiden Begriffe können, glaube ich, auch eine wichtige Brücke sein im Dialog der Religionen. Aber sie machen den christlichen Glauben nicht aus.
Eine alte Legende erzählt, wie einmal ein Bischof in seinem Bistum eine Visitation macht. Dabei kommt er mit seinem Boot auch zu drei Eremiten, die auf einer Insel leben. Die sind sehr gläubig, aber nicht besonders helle. Ihr einfaches Gebet lautet: „Herr Jesus Christus, erbarme dich meiner“. Und ihr Glaubensbekenntnis lautet „Jesus ist Herr“. Sie wissen kaum was über die Bibel, kennen weder das Vaterunser noch das Glaubensbekenntnis. Also setzt der Bischof sich mit ihnen zusammen, und versucht, ihnen das Glaubensbekenntnis beizubringen. Nach Stunden des Lernens scheinen sie begriffen zu haben. Der Bischof steigt in sein Boot und legt ab. Nach ein paar hundert Metern kommen ihm die drei Eremiten hinterhergelaufen – über das Wasser: „Wir haben’s schon wieder vergessen. Kannst du es nochmal wiederholen?“ Der Bischof erstarrt vor Ehrfurcht und sagt: „Bleibt bei eurem Gebet und Bekenntnis ‚Jesus ist Herr‘ Bei eurem Glauben reicht das völlig aus“. Was soll er auch Menschen beibringen, deren Glaube so stark ist, dass sie übers Wasser laufen können.
Ich liebe diese Geschichte, weil sie deutlich macht: Wissen ist nicht die Voraussetzung für Glauben. Aber in der Geschichte lassen sich drei Punkte ausmachen, die wesentlich sind für christlichen Glauben – wie auch in der Geschichte vom Blinden:
- der Bezug auf Jesus
- die Rede vom Evangelium
- die Verbindung mit einer Gemeinde
Was jemandem zum Christen macht ist, dass er oder sie in Jesus den Christus sieht. Was „Christus“ dabei bedeutet, kann wieder unendlich viel sein – aber für Christen ist Jesus die Referenz. Der sehend gewordene Blinde ist im Johannesevangelium der erste, der bekennt: „Ich glaube, Herr.“ Und die drei Eremiten sprechen Jesus als Christus und als Herrn an. Mehr wissen sie nicht. Aber mehr müssen sie auch gar nicht wissen, um Christen zu sein.
Auch das Wort „Evangelium“ kann unterschiedliches bedeuten. Übersetzt heißt es „Gute Nachricht“, doch was die Gute Nachricht ist, kann verschieden sein. Die drei Eremiten sprechen vom Erbarmen. Im Alten Testament lautet die Freudenbotschaft: Gott macht das zerbrochene Heil. Er sammelt das Zerstreute ein. Die Geschichte vom Blinden macht ganz konkret anschaulich, was Heil bedeutet: Er wird geheilt. Dazu kommt die Rede von Schuld und Vergebung. Das wunderbare alte Wort „Heiland“ verbindet Jesus und die Gute Nachricht vom Heil miteinander. Wie auch immer für mich die Gute Botschaft lautet: Ohne Evangelium fehlt der entscheidende Inhalt.
Der dritte Begriff, auf den ich nicht verzichten kann, wenn ich über meinen Glauben rede, ist heute vielleicht der fraglichste. Glaube ist für mich auf Gemeinschaft angewiesen. Die drei Eremiten bilden eine enge Gemeinschaft. Aber selbst Eremiten, die sich in die Einsamkeit zurückziehen, sehen sich als Teil der christlichen Gemeinde. Der Blinde fliegt aus seiner Gemeinde, findet aber eine neue Gemeinschaft. Wenn die Bibel von Gemeinde spricht, dann verwendet sie das Wort „Ekklesia“. Wörtlich bedeutet das: Herausgerufen sein – herausgerufen aus alten Bezügen, eingebunden in eine neue Gemeinschaft.
Heute, in Gesprächen um Kirchenaustritte, sagen Menschen manchmal: Ich kann auch ohne Kirche gläubig sein. Ja, das kann man. Aber es ist dann nicht unbedingt ein christlicher Glaube. Ohne den Bezug auf Jesus, ohne die Rede vom Evangelium und ohne Verbindung zur Gemeinde kann ich jedenfalls nicht erklären, was für mich im Kern christlicher Glaube ist.
Man könnte vielleicht sagen: Gott und die Liebe bilden so etwas wie den religiösen Rahmen des Glaubens. Viele Menschen, die ein religiöses Gespür haben, können das mitsprechen. Jesus, das Evangelium und die Gemeinde bilden dagegen das Zentrum des christlichen Glaubens. Wobei ich ja schon eingestanden habe: Damit ist noch gar nicht so viel gesagt. Wir müssen uns nämlich immer noch darüber austauschen, wer Jesus für mich ist, welche Gute Nachricht ich höre und wie ich zur Gemeinde stehe.
Christlicher Glaube ist daher für mich nicht nur Glaube mit offenen Augen, sondern auch mit offenen Ohren, mit offenem Herzen, mit offenen Händen. Indem wir praktische Dinge tun und miteinander Dinge erleben, indem wir miteinander Reden, Diskutieren, Nachdenken – auch Streiten – ändert sich unser Verständnis vom Glauben immer wieder.
Glaubenserfahrungen sind Überraschungen. Plötzlich sehe ich Jesus anders. Ich verstehe Evangelium neu. Mein Verständnis von Kirche und Gemeinde verändert sich. Meine Liebe reift. Und mein Verständnis von Gott wächst. Doch wie auch immer ich die Begriffe fülle: Verzichten kann ich nicht auf sie, wenn ich auf den Punkt bringen will, was christlich Glauben heißt.
Ich glaube,
Gott ist alles in allem,
Anfang und Ende der Schöpfung
und Grund und Ziel auch meines Lebens.
Ich glaube,
Jesus ist der Mensch,
in dem Gott mir zum Vater wird.
Er hat gelebt, geliebt und gelitten.
Er ist den Weg des Gerechten gegangen
bis in den Tod
und doch nicht im Tod geblieben.
Ich glaube,
Jesus lebt in der Gemeinschaft derer,
die seinen Spuren folgen.
Niemand glaubt für sich allein.
Gottes Geist schafft Gemeinschaft
über alle Grenzen hinweg.
Ich glaube
der guten Nachricht:
Gott macht alles heil.
Ich bin erlöst von dem, was war,
und befreit zum Leben,
jeden Tag neu.
Ich glaube,
Gott ist Liebe.
Meine Liebe zu Gott zeigt sich
in der Liebe zu Anderen,
die der Liebe bedürfen wie ich.
Füreinander sind wir geschaffen.
Miteinander suchen wir Frieden.
[Der Text dieses Glaubensbekenntnisses war mein persönliches Fazit der erwähnten Tagung mit den Kolleginnnen und Kollegen. Im Gottesdienst haben wir es in Wir-Form miteinander gesprochen.]
Die Predigt ist der Abschluss einer Predigtreihe, die Anfang Juni begann.