Homiletik als Wahrnehmungslehre

Notizen zu Hans-Günter Heimbrocks Predigtverständnis

Von David Buttricks Homiletik hieß es, es sei ein phänomenologischer Ansatz. Tatsächlich lassen sich bei Buttrick viele phänomenologische Bezüge ausmachen. Ähnlich gilt von Hans-Günter Heimbrock, der sich in seiner „phänomenologisch inspirierten“ Homiletik auf den Aspekt der Wahrnehmung konzentriert. Dazu ein paar Lektürenotizen.

„Phänomenologie geht von dem aus, was Menschen in der Lebenswelt sinnlich-leibhaftig gegeben ist“, formuliert Heimbrock sein Verständnis von Phänomenologie, wobei er keine „phänomenologische Homiletik“ im Blick hat, sondern eine „phänomenologische […] Haltung“ einnehmen will. Er will „Predigt als Wahrnehmungsgeschehen und als wahrnehmbaren Gestaltungsprozess im Austausch mit den Zuhörerinnen transparent … machen“ und versteht „Homiletik als Wahrnehmungslehre“. Heimbrock verweist dabei wie Buttrick auf Röm 10,17: Glaube kommt vom Hören („pistis ex akoes“).

Eine Intention der Predigt ist, das im biblischen Texte bezeugte Handeln Gottes als „ein sinnlich wahrnehmbares Sprach- und Handlungsgeschehen“ zu realisieren, das „die Erscheinungsweisen des Reiches Gottes im Alltag“ wahrnehmbar macht: „Predigt fungiert als Medium für ‚neues Sehen‘.“ Die Predigt hat dabei eine „zweifache Wahrnehmungsaufgabe“:

  1. Wahrnehmung des Evangeliums im Alltag und
  2. Wahrnehmung des biblischen Textes.

Diese doppelte Aufgabe ist aber zu erweitern, dass nicht nur Text wahrgenommen und im Blick auf die Hörenden kommuniziert wird, sondern auch eine „Exegese des Hörers“ erforderlich ist, die den Kontext und die Wahrnehmung der Hörenden mit in den Blick nimmt. In der Formulierung klingt Rudolf Bohren an. In der neueren Homiletik ist das zwar in Ansätzen für Heimbrock schon erkennbar (bei Gerd Theissen, Michael Meyer-Blanck und Albrecht Grözinger), aber noch immer zu defizitär.

Heimbrock gründet sein Verständnis auf die Phänomenologie Edmund Husserls und ihrer Weiterentwicklung durch Maurice Merleau-Ponty und Bernhard Waldenfels. Von der sog. Neuen Phänomenologie Hermann Schmitz‘ und dessen Rezeption durch Manfred Josuttis grenzt Heimbrock sich ausdrücklich ab. Es geht ihm um die sinnliche Wahrnehmung der Welt durch ein intentional wahrnehmendes Subjekt, das die Welt „in subjekthaft begrenzten Feldern oder unter subjektiven Wahrnehmungshorizonten“ perspektivisch und „von bestimmten unverwechselbaren Standpunkten aus“ wahrnimmt. Weltwahrnehmung beginnt daher nicht erst mit dem Benennen, sondern sinnlich „in vorsprachlichen Gestaltwahrnehmungen“. Die sinnliche Wahrnehmung wird von Heimbrock stärker betont als von Buttrick, der bei dem Benennen ansetzt.

Zugleich ist Sprache aber etwas, das selbst sinnlich wahrgenommen wird, und zwar in doppelter Hinsicht als Wahrnehmung im Sprechen und Hören und als Geste, die sich intentional auf Welt bezieht. Über die sensualistische Wahrnehmung hinaus macht Sprache in der Beschreibung aber auch mit Worten sichtbar, was ohne Worte unsichtbar bliebe. Eine Auseinandersetzung mit Buttrick findet – zumindest in „Spuren Gottes wahrnehmen“, nicht statt; nur an einer Stelle wird Buttrick kurz gestreift.

Literatur: Hans Günter Heimbrock: Spuren Gottes wahrnehmen. Phänomenologisch inspirierte Predigten und Texte zum Gottesdienst, Stuttgart: Kohlhammer 2003.