Die Angst vor’m leeren Blatt

Schreiben ist ein komplexer und damit störanfälliger Prozess. Schreiben sollen oder wollen, aber nicht wissen wie und was und womit anfangen – das ist die sprichwörtliche Angst vor dem leeren Blatt. Weil das Problem komplex ist, gibt es keine einfachen Lösungen bzw. um zu einer Lösung zu kommen, muss man erstmal das Problem analysieren. Wer z.B. keine Lust hat, einen Text zu schreiben, steht vor einem anderen Problem als jemand, der Schwierigkeiten hat, sich auszudrücken.

Schreibforscher:innen sehen eine Ursache für Schreibblockaden, dem writer‘s block, leider auch im Schulunterricht: Rechtschreibung, Grammatik und Ausdruck und Stil als bewertbare Kriterien einerseits, vermutete Erwartungen bei Lehrer:innen (bzw. Leser- und Hörer:innen) andererseits lähmen das Schreiben. Die kindlich-naive Fabulierlierlust weicht der Angst vor Kritik. Das Schreiben wird dann schnell klischeehaft, weil man sich auf bewährte Schreibmusterzurückzieht. Es kann sich sogar geradezu eine Antipathie gegen das Schreiben entwickeln.

Die Ursachen für eine Schreibblockade sind aber komplex und es wäre falsch, den schulischen Schreibunterricht einer Pauschalkritik zu unterwerfen. Schreibforscher:innen sich weitgehend einig, dass es sich bei dem Verlustprozess der naiven Fabulierlust um normale Phasen des Schreibenlernens handelt. Um der Antipathie gegen das Schreiben zu begegnen, wird allerdings für den schulischen Unterricht eine Umorientierung empfohlen: Kreative Methoden sollen schon früh den herkömmlichen Schreibunterricht ergänzen. Ihr allgemeines Ziel ist, den verinnerlichten Kritiker während des Schreibprozesses zum Verstummen zu bringen und zu einer neuen Naivität anzuleiten. Erst in der Überarbeitungsphase wird eigene und fremde Kritik am Text zugelassen. Diese Umorientierung ist auch für das Predigtschreiben ratsam.

Eine Erklärung für die Angst vor dem leeren Blatt und der damit verbundenen Schreibblockade ist die Figur des verinnerlichten Kritikers. Der meldet sich schon vor dem ersten geschriebenen Wort zu Wort und unkt: „Das wird doch nichts.“ Schriftstellerin Ronja von Rönne beschreibt in einem kleinen Text sehr anschaulich, dass der verinnerlichte Kritiker nicht nur eine Person ist, sondern ein ganzes Figuren-Ensemble: die Mutter, die Oma, der Feuilletonist, der Amazonkunde und eine ganze Reihe schreibender Kolleg:innen schauen ihr über die Schulter und kommentieren ihr Schreiben. Deshalb ist Schreiben für sie alles andere als eine einsame Tätigkeit.

Ein weiterer Grund für die blockierende Angst vor dem leeren Blatt ist die Suche nach dem perfekten Anfang. Manche Schreibbücher widmen der Frage des perfekten Textanfangs nicht nur viele Seiten, sondern behandeln das Problem gleich zu Beginn, so als müsste bereits der erste Satz perfekt sein. Schreiblehrer Sol Stein erörtert den „richtigen Anfang“ beispielsweise bereits als 2. Kapitel seines Klassikers „Über das Schreiben“ im Abschnitt „Grundlagen“, statt es im letzten Abschnitt unter den Überarbeitungsaufgaben zu behandeln. Dahin gehört nämlich die Frage nach dem richtigen Anfang.

Dazu kann der zu hohe, eigene Anspruch kommen, dass schon die erste Niederschrift perfekt sein soll. Gute Texte entstehen bei den meisten Menschen nicht dadurch, dass man mit dem Anfang anfängt und mit dem Ende aufhört. Gute Texte entstehen einerseits durch gute Vorarbeit und andererseits durch Überarbeitung des Geschriebenen. Um ins Schreiben zu kommen ist es wichtig, sich nicht an den perfekten Endversionen publizierter Texte zu orientieren, sondern die Entstehungsprozesse von Texten in den Blick zu nehmen. Hanns-Josef Ortheil weist deshalb darauf hin, dass die Literaturwissenschaft in den letzten Jahrzehnten ihren Fokus verschoben hat: Nicht nur das fertige Werk ist von Interesse, sondern auch der Blick in die Schreibwerkstatt, in die Notizen, Exzerpte, Archive. Auf dem leeren Blatt entsteht also ein Text nicht aus dem Nichts oder durch eine genialische Inspiration, sondern ist das Ergebnis von Vorarbeiten, Notizen, vorläufigen Skizze etc. Ortheils Fazit: „Indem man ‚mit dem Schreiben‚ irgendwo, in noch vorläufigem, harmlosem Gelände ‚anfängt‚, arbeitet man den Schreibsperren entgegen. Man fängt einfach an – und dann sieht man weiter.“

Aus den Überlegungen lassen sich ein paar einfache Tipps gewinnen:

Fang erstmal an. Trickse den Inneren Kritiker aus, indem du sagst: Ich schreib das erstmal nur so hin – wahrscheinlich werde ich es gar nicht benutzen. Fang an, zu dem etwas zu schreiben, was dich am meisten interessiert und wozu du am meisten Lust hast. Warte nicht darauf, dass dir ein perfekter Anfangssatz einfällt. Wer einen Anfang für sein Schreiben braucht, kann auch erstmal einen vorläufigen Anfang schreiben. Habe Mut zum Müll!

Nutze kreative Schreibmethoden und Schreibimpulse. Solche Methoden und Impulse dienen dazu, überhaupt erstmal ins Schreiben zu kommen. Für den Schreibprozess kann es insgesamt hilfreich sein, zunächst Stichwörter und Halbsätzen zu formulieren, also die Sätze nicht auszuformulieren. Aus anformulierten Sätzen, die ein Grundgerüst für eine Rohfassung bilden, ist es viel leichter, später ganze Sätze zu machen.

Vermeide alles, was den Schreibfluss bremst. Ignoriere Rechtschreibung, Grammatik, Ausdruck und Stil. Auch eine Lese-Rechtschreib-Schwäche, wie sie von Johann Wolfgang von Goethe, Ernest Hemingway oder George Bernhard Shaw bekannt ist, muss kein Hindernis sein, mit dem Schreiben groß raus zu kommen. Wenn dir ein passendes Wort oder ein gutes Beispiel fehlt, schreib erstmal weiter. Feile nicht an Formulierungen oder Formatierungen.


(Siehe dazu auch den älteren Beitrag „Das weiße Blatt“ in diesem Blog )