Himmlische Buchführung

Am Reformationstag 1985 – in einer Lebenskrise – nimmt sich Dorothee Sölle vor, Tagebuch zu schreiben. Ich weiß nicht, wie regelmäßig Dorothee Sölle schon vorher ein Tagebuch geführt hat: aus verschiedenen Notizen wird ersichtlich, dass sie zumindest als Jugendliche tägliche Notizen gemacht hat. In ihrer Zeit in New York – Sölle lehrte dort von 1975 bis 1987 am Union Theological Seminary – fängt sie mit dem Tagebuch zumindest bewusst neu an „obwohl viel dagegenspricht“, wie sie schreibt: sie hält den Akt selbst für eitel und sieht in der Notwendigkeit, auszuwählen, was sie niederschreibt, „eine Art von Lügen“. Und wagt es trotzdem:

„Ich lebe immer noch mit der alten Verrücktheit, jeden Tag drei Gründe zu finden, für die ich Gott loben kann. Eine himmlische Buchführung endlich lernen. Ein paar Regeln:
– Heute von heute schreiben, das Manna nicht aufheben, es stinkt morgen.
– Jeden Tag schreiben – das Graue, Armselige aushalten.
– Die niedrigen, demütigenden Empfindungen – die Reflexe der Bourgeoisie in mir – nicht verleugnen; das, was die ollen Mystiker die ‚Regungen des Fleisches‘ nennen – die Realität wahrhaben.
-Das Glück, auch das kleine, lieben! Nennen! Es gibt einen Punkt jenseits von Arroganz und Selbstverachtung, den ich erreichen will.“

[Dorothee Sölle, Ein New Yorker Tagebuch, in: Gesammelte Werke Bd. 9, S. 338f.]

Dinge sammeln

Über das Sammeln schreibt Walter Kröber in „Kunst und Technik der geistigen Arbeit“: „Wir sammeln Verstreutes; das bekommen wir unregelmäßig. Das wird im Großen zusammengelegt, wir verzichten fürs erste auf (genauere) Ordnung im einzelnen, bewerten auch noch nicht gleich. Denn: Systematik (Ordnung) und Auswahl (nach Bewertung) ist schon eine höhere Stufe des Sammelns“. Die Technik und das Problem sind schön beschrieben. Die meisten Dinge, die unsere Aufmerksamkeit fesseln, tauchen unregelmäßig auf: E-Mails, Telefonanrufe, ein Predigteinfall, eine Konfi-Anfrage über Facebook, eine interessante Zeitungsmeldung, jemand, der einen Lebensmittelgutschein braucht … Am liebsten möchten alle diese Dinge sofort behandelt werden. Aber dann würde man sich total verzetteln. Also gilt es, die Dinge erstmal zu sammeln. Aus den Augen, aus dem Sinn – und trotzdem sicher verwahrt.

Sammeln ist das erste der insgesamt vier grundlegenden Handlungsmuster (neben Durcharbeiten, Planen und Handeln), die Leo Babauta in Zen to Done behandelt. Seine Empfehlung ist, die Vielzahl der Dinge, die auf uns einströmen, so zu kanalisieren, dass sie in möglichst wenigen Orten aufgefangen werden. Das kann zum Beispiel bedeuten, keine diffenzierte Ablage zu benutzen, sondern nur eine einzige Ablagebox, in der alles gesammelt wird, was herein kommt: Briefe, Liedzettel, Broschüren, Taufanfragen, Rechnungen, Zeitungsartikel … Die Frage, was wohin gehört, stellt sich zunächst einmal nicht. Ordnung und Bewertung sind „höhere Stufen des Sammelns“, wie Kröber sagt, und gehören zum Durcharbeitungsschritt.

Für das Sammeln an wenigen Eingangsorten gibt es drei gute Gründe: Erstens muss man nicht dauernd Entscheidungen treffen, was wohin gehört. So bleibt mehr Zeit und Konzentration für das, was man gerade tut. Zweitens muss man sich nicht alles merken, was gerade reinkommt und noch zu tun ist: man notiert es oder legt es an einer Stelle ab, ohne dauernd das Gefühl zu haben, was wichtiges zu vergessen. Drittens muss man nicht dauernd mehrere Orte kontrollieren, ob dort noch eine vergessene Aufgabe schlummert. Es ist übersichtlicher, und das entlastet.

Ein einfaches Beispiel, das im Prinzip jeder benutzt, ist der Anrufbeantworter oder die Mailbox: Das Telefonklingeln verlangt eine sofortige Reaktion. Ist man aber gerade in einem Trauergespräch, kann man nicht einfach ans Telefon gehen. Also stellt man das Telefon stumm oder aus. Nach dem Gespräch sieht man: es haben sich zwei Anrufe gesammelt (das Abrufen und Beantworten gehört bereits zum Schritt „Durcharbeiten“). Ähnliches gilt z.B. für E-Mails und Facebook. Statt sich dauernd über aktuell eingehende Mails etc. informieren zu lassen ist es besser, E-Mails oder Infos bei Facebook erstmal zu sammeln.

E-Mails stellen ein besonderes Problem dar. Hier hat mir Babautas Vorschlag geholfen, auf einfache Weise mit den vielen E-Mails umzugehen. Während ich mich früher damit beschäftigt habe, ein möglichst effizientes Filtersystem für E-Mails aufzubauen, dass die eingehenden Mails automatisch in bestimmte Unterordner lenkt, landen sie jetzt erstmal in den Eingangsordnern. Babautas Vorschlag, möglichst nur eine E-Mail-Adresse zu verwenden, setzte ich allerdings so nicht um. Thunderbird bietet mit den gruppierten Ordnern eine gute Möglichkeit, alle eingehenden Mails in einem Ordner zusammen zu sehen und trotzdem zu differenzieren. Ein ungelöstes Problem ist die dienstliche Groupwise-Adresse, für man sich extra über ein Web-Interface einloggen muss: die Mails lassen sich nicht automatisch weiterleiten und wegen der eingeschränkten Möglichkeiten von Groupwise (im Vergleich zu Thunderbird oder Outlook) eignet sich das System auch nicht als zentrale Sammelstelle. Eine Benachrichtigungsfunktion gibt es bei Groupwise auch nicht, so dass einem nichts anderes übrig bleibt, als in regelmäßigen Abständen das Konto manuell zu checken. Wie auch immer am Ende das persönliche E-Mail-System aussieht: Es sollte vor allem einfach und übersichtlich sein.

Schreibtischkladde

Eines der mächtigsten Instrumente zum Sammeln sind Notizbücher und Kladden. Auch hier gilt letztlich: lieber nur ein Notizbuch verwenden als ein ausdifferenziertes System. Natürlich kann man eine Vielzahl von Notitzbüchern verwenden, wenn die Zwecke klar sind: ein Tagebuch für persönliche Eintragungen, Arbeitsjournale für aktuelle Projekte etc. Darum geht es aber hier nicht. Ein Notizbuch hat die Funktion, schnell zur Hand zu sein, um zu notieren, was auch immer gerade ansteht, wo auch immer man sich befindet: ein Predigteinfall, ein zu erledigendes Telefonat, Notizen für ein Memo oder etwas für die Einkaufsliste. Neben einem kleinen Notizbuch benutze ich noch eine Schreibtischkladde. Das ist ein Buch im A5-Format, das aufgeschlagen auf dem Schreibtisch liegt und in dem ich z.B. beim Telefonieren Dinge notiere. Während ich früher kleine Notizzettel und Post-its gefüllt habe (und manchmal verzweifelt nach einer Notiz suchen musste) ist so alles an einem Ort versammelt. Mittlerweile hat sich die Schreibtischkladde zum zentralen To-Do-Buch entwickelt.

Schon diese kurze Zusammenstellung zeigt, wie fundamental das Sammeln ist. Wie auch immer man es umsetzt: Entscheidend ist der Vorschlag, die Dinge, die ankommen, an so wenigen Orten wie möglich zu sammeln. Damit ist noch keine Aufgabe erledigt, aber es dafür gesorgt, dass die Dinge erstmal aus dem Blick und aus dem Kopf sind – und am Sammlungsort sicher verwahrt sind, bis sie durchgearbeitet werden. Aber das ist dann der nächste Schritt.

„Worum geht es in Ihrer Predigt?“

Predigtentwurf
Kernaussage hervorgehoben

Die Frage, worum es in der eigenen Predigt ging, überrascht einen meist kalt. Zum Beispiel, wenn jemand von der Zeitung nach einem besonderen Gottesdienst fragt, über was man denn gepredigt hat. Meistens kommen dabei bloss Allgemeinplätze heraus. Mir geht die Sache seit dem WDR2-Gespräch nicht mehr aus dem Kopf. Warum ist das so schwer, spontan aber pointiert etwas zum eigenen Text zu sagen?

Mit dem Problem stehen Predigerinnen und Prediger nicht allein. Neulich haben Giovanno di Lorenzo und Hannelore Hoger bei „3 nach 9“ über „Babettes Fest“ gesprochen. Di Lorenzo wollte eine kurze Zusammenfassung, worum es in dem Buch geht, das Hoger gerade als Hörbuch eingesprochen hatte. Hannelore Hoger hat erzählt, was ihr an der Geschichte wichtig ist. Di Lorenzo war dies zu weitschweifig. Es war ein amüsanter Dialog darüber, was an einer Geschichte wichtig ist. Interessant war vor allem, dass Hoger auch deshalb ausholen musste, weil di Lorenzo die Geschichte und die handelnden Figuren anders verstanden hat, als Hoger selbst. Knapp sagen zu können, worum es geht, setzt offenbar die Überzeugung voraus, dass der Gesprächspartner die knappen Andeutungen richtig versteht.

Oft endet die kurze Bündelung in Allgemeinplätzen. In der Zeitung liest man dann Sätze wie „Bischof ruft zu Frieden und Mitmenschlichkeit auf“ – auch wenn der Schwerpunkt der Predigt ein ganz anderer war. Als ich neulich gefragt wurde, worum es in meiner Weihnachtspredigt ginge, fing ich an von Licht und Dunkelheit zu erzählen. Das war zwar nicht verkehrt, aber darum ging es nicht. Es war nur die Leitmetapher für den Gedanken: „Es gibt in der Weltgeschichte und im eigenen Leben genug Gründe dafür, dass es Gott nicht geben kann. Weihnachten bedeutet, mitten in diesen Gründen zu entdecken: Gott ist da – mitten in dieser Welt, die voll ist von Gründen, warum es Gott nicht geben kann.“ Weil der Gedanke paradox ist, schien er mir vielleicht zu komplex, um ihn direkt sagen. Also folgte die Flucht in die Metapher vom Gott als Licht mitten in der Dunkelheit – eine Metapher, die alles und nichts sagt. Ein Allgemeinplatz eben.

Bekanntlich sagt eine Bild mehr als tausend Worte. Für die Predigtarbeit ist es aber wichtig, die bildhaften Allgemeinplätze und abgegriffenen Metaphern zu reflektieren und ihre Aussagemöglichkeiten zu reduzieren. Ich habe eine zeitlang versucht, über jedes Predigtmanuskript meine Hauptaussage zu formulieren – und zwar so, dass sie eine interessante Spannung enthält. Vergleichen kann man das vielleicht mit den Untertiteln in manchen Zeitungen. In der ZEIT z.B., steht unter der Überschrift in der Regel in ein oder zwei Sätzen beschrieben, worum es im Artikel geht. Diese Beschreibung macht das Lesen das Artikels nicht überflüssig. Im Gegenteil: Wenn die Beschreibung gut formuliert ist, weckt sie das Interesse für die Lektüre. Mein Versuch, solche Predigt-Unterüberschriften für meine Predigtentwürfe zu formulieren, zielten allerdings nicht auf die Predigthörer, sondern auf mich als Prediger: So habe ich mir vor der Predigt noch einmal in Erinnerung gerufen, worum es mir beim Vorbereiten ging.

Predigtvorbereitung kann insgesamt als Arbeit an solch einer Aussage verstanden werden. Es ist wie die Arbeit an einer These in einem wissenschaftlichen Aufsatz: Man schreibt dieses These nicht einmal auf und hat sie dann, sondern schreibt die These dauernd um und weiter, bis sie möglichst pointiert die Antwort auf eine Frage oder ein Problem liefert. So beschreibt z.B. Frank Cioffi das Vorgehen beim Schreiben eines Essay. Es hilft dabei, die Linie für die eigene Arbeit zu halten. Bei der Predigt ist es nicht anders, auch wenn die Predigt auf andere Form- und Stilelemente zurückgreift als der wissenschaftliche Aufsatz. Ich habe in meiner Weihnachtspredigt z.B. auf eine Geschichte von Margret Rettich zurückgegriffen. Und als ich beschrieben habe, was Dunkelheit alles konkret bedeuten kann, ging das Licht in der Kirche für eine Zeit aus. Techniken der Inszenierung meiner zentralen Predigtidee. Aber es ging in der Predigt weder um Licht und Dunkelheit noch um die Rettich-Geschichte vom Herrn Probst, sondern um meine Interpretation der Weihnachtsbotschaft. Vielleicht – wenn ich mir wieder angewöhne, meine Hauptaussage über das Predigtmanuskript zu schreiben – kann ich beim nächsten Interview auch pointierter sagen, worum es in meiner Predigt geht.

 

Die Dinge händeln

Notizbücher
Notizbücher als Basis

Es ist eine berechtigte Frage, ob man Zeit managen kann. Vor einiger Zeit hieß es, es gehe eigentlich eher um Selbstmanagement. Und jüngst hat Zeitmanagement-Guru Lothar Seiwert sogar das Ende des Zeitmanagements ausgerufen. Seit Vikariatszeiten sehe ich die Zeitmanagement-Tipp-Produktion zwar kritisch, habe aber trotzdem versucht, für meinen Alltag davon zu lernen. Obwohl oft belächelt: Lothar Seiwert und Tiki Küstenmacher hatten mit ihrem Simplify-Konzept manche guten Ratschlag für mich parat. Aber es war kein funktionierendes System, sondern eine Sammlung guter Einzelhinweise.

Einen wirklich hilfreichen, systematischen Ansatz habe ich bei „Zen to done“ gefunden, ein Modell von Leo Babauta, das wiederum auf „Getting things done“ von David Allen beruht.

Die Vorteile von Zen to done (ZTD) sind:

  • es ist leicht zu verstehen
  • es ist kostengünstig
  • es lässt sich einfach an eigene Bedürfnisse anpassen

ZTD ist leicht zu verstehen: Es geht im Kern (Minimal ZTD) darum, sich vier Handlungsmuster anzugewöhnen, die so zusammenarbeiten, dass man seine Dinge gut händeln kann. Diese vier Handlungsmuster heißen Sammeln, Durcharbeiten, Planen und Handeln. Ich sammle Dinge u.a. in einem Notizbuch: Aufgaben, Einfälle, Besprechungsergebnisse. Zuhause arbeite ich die Notizen durch, in dem ich schaue, ob z.B. aus einem Eintrag eine Aufgabe für mich folgt, die zu erledigen ist. Sofern ich sie nicht gleich erledigen und abhaken kann, plane ich im Kalender, wann ich die Aufgabe angehe. Wenn es soweit ist, versuche ich, so konzentriert wie möglich mich nur dieser Aufgabe zu widmen und sie zügig zu erledigen.

ZTD ist kostengünstig: Das eBook „Zen to done“ kann man sich kostenlos bei imgriff.com in einer deutschen Übersetzung runterladen. Spezielle Werkzeug wie Mappen, Ordner oder spezielle Kalender braucht man nicht. Ich habe mit den Sachen, die ich Zuhause hatte, angefangen.

ZTD lässt sich leicht an eigene Bedürfnisse anpassen: Ich hatte eigentlich immer das Gefühl, dass die Zeitmanagement-Ideen nicht meinem Arbeitsalltag entsprachen. Sie waren entweder sehr auf Büroabläufe fixiert oder auf die Bedürfnisse von Freiberuflern. Mit der pastoralen Praxis hat das oft wenig zu tun. Dazu kommen persönliche Vorlieben: Manche Sachen erledige ich am PC oder per PDA (mittlerweile Smartphone), manche Sachen handschriftlich. Es hängt von der Situation und manchmal auch nur von der Stimmung ab. Ich brauche da eine gewissen Flexibilität.

In meinen nächsten Posts, werde ich das System etwas detailiierter darstellen. Als nächstes stelle ich das Sammeln vor.

 

Wann ist eine Predigt fertig?

Kurz vor Weihnachten hat der WDR2 ein kurzes Interview gemacht, wie man als Pastor durch die Weihnachtszeit kommt und worum es z.B. in meiner Weihnachtspredigt geht. Am Ende des Gesprächs stellte Katrin Schmick fest, zumindest sei ja meine Predigt schon fertig. Der Teil wurde nicht gesendet, sondern rausgeschnitten, hat mich aber weiter beschäftigt: Waren meine Predigten (es war ja nicht nur eine, die vorzubereiten war) wirklich schon fertig?

Predigtkladde mit Änderungen
Letzte Änderungen im Predigtskript

Was sich in mir gegen die Formulierung sträubte war wahrscheinlich, dass hier das erarbeitete Predigskript mit der Predigt identifiziert wird. Aber Skript und Rede sind eben nicht identisch: „Es gilt das gesprochene Wort.“ Fertig ist eine Predigt erst, wenn die Rede zuende ist. Man kann allenfalls sagen: Ich bin mit der Vorbereitung der Predigt fertig. Denn die Predigt ist die Rede selbst, nicht das Skript – wie ausgearbeitet auch immer es ist.

Genau genommen bleibt man aber in der Vorbereitungssituation, solange nicht gepredigt wird. Denn auch auch unmittelbar vor Predigtbeginn lassen sich noch Änderungen planen, kann man noch einen Gedanken aufgreifen oder einen Zusammenhang zu etwas zuvor geschehenem herstellen. Solange ich noch darüber nachdenke, was ich gleich sage, bin ich in der Situation der Vorbereitung. Mein sonntägliches Morgenritual sieht denn auch so aus, dass ich beim Frühstück mit Rotstift bewaffnet das Skript ein (vor-)letztes Mal durchsehe. Manchmal mache ich danach sogar noch einen neuen Ausdruck, weil ich noch etwas verändert habe. Wenn ich von der Kanzel aus rede, schaue ich mir den Text dort vor dem Gottesdienst ein letztes Mal an. Wenn ich Handzettel benutze, schaue ich beim Lied vor der Predigt noch einmal über den Text und treffe letzte Entwurfsentscheidungen.

Mit dem Beginn der Predigt ist die Vorbereitung abgeschlossen. Und erst wenn ich aufhöre zu predigen, ist die Predigt fertig. Das ist tautologisch, aber so ist es. Nach dem Gottesdienst kommt zuweilen die Nachbereitung, wenn ich Änderungen nachträglich in das Skript einfüge und für eine eventuelle spätere, erneute Verwendung archviere. Nach der Predigt ist vor der Predigt. Die nächste Predigt ist dann aber noch nicht fertig, selbst wenn das Skript ordentlich abgespeichert ist.

Überarbeitung und Zeitmanagement

Die Überarbeitung ist ein unverzichtbarer, aber zeitaufwändiger Teil des Schreibens. David M. Kaplan meint: „Überarbeiten heißt: denken und überdenken, tippen und neu tippen. Es heißt: zu viel Kaffee trinken und den verzweifelten Wunsch nach irgendeiner Ablenkung verspüren – telefonieren, den Briefträger in eine Gespräch verstricken, ein Buch lesen oder dem plötzlichen Heißhunger auf Croissants nachgeben.“ (Die Überarbeitung, S. 21) Was Kaplan hier beschreibt, nennt man überlicherweise Prokrastination oder Aufschieberitis. Wahrscheinlich ist das Überarbeiten neben der Recherche der zeitintensivste Teil des Schreibens.

Es wundert daher nicht, dass Sondra Wilson Predigtüberarbeitung und Zeitmanagement in einem Kapitel diskutiert (The Write Stuff, S. 103ff), das sie doppeldeutig mit „Time to Revise“ überschreibt: Es kommt eben nicht nur irgendwann die Zeit der Überarbeitung, sondern sie braucht auch Zeit. Das muss entsprechend organisiert werden. Wilson verweist darauf, dass einige Prediger als Zeitbedarf für die Predigtvorbereitung acht Stunden angeben. Und sie erwähnt Harry Fosdick, der sogar forderte, ein Prediger müsse für jede Minute auf der Kanzel eine Stunde Vorbereitungszeit kalkulieren. Dem stehen empirische Studien gegenüber, nach denen Pfarrerinnen und Pfarrern in der Vielfalt ihrer alltäglichen Aufgaben am Ende nur rund drei Stunden übrigbleiben, die sie in die Vorbereitung einer Predigt stecken (vgl. Präsent predigen, S. 116). Predigtvorbereitung, die auf die Phase der Überarbeitung nicht verzichten mag, braucht also ein System des Zeit- und Selbstmanagements.

Leider eignen sich viele Zeitmanagement-Modelle nicht für den Pfarralltag. Viele Ansätze scheinen für Freiberufler optimiert. Wilson gibt nur ein paar Tipps, die kaum als systematisches Modell durchgehen: Große Aufgaben lassen sich in kleinen, überschaubauen Einheiten besser bearbeiten; man darf nicht alles verplanen, sondern muss auch Ruhezeiten einhalten; und bei konkreten Aufgaben kann es helfen, sich mit der Eieruhr-Methode für einen definierten Zeitbereich auf eine Aufgabe zu konzentrieren. Das war’s schon und hilft nur begrenzt weiter. Ich will mal versuchen, in den nächsten Wochen mein Zeitmanagement zu reflektieren. Dass die Predigtvorbereitung dabei nur eine Rolle neben vielen anderen wichtigen Rollen spielt, liegt in der Natur des Pfarralltags.

Täglich Schreiben

Tagebuch schreiben scheint einfach und voraussetzungslos: eine Kladde und ein Stift genügen, um mit täglichen Aufzeichnungen aus dem eigenen Leben zu beginnen. Probleme scheint es allenfalls damit zu geben, wirklich regelmäßig zu schreiben. Aber stimmt dieser Eindruck? Wie schon in Ortheils „Schreiben dicht am Leben“ stellt Christian Schärf im zweiten Band der Duden-Reihe „Kreatives Schreiben“ an konkreten Beispielen Möglichkeiten des Tagebuchschreibens vor. „Täglich Schreiben“ weiterlesen

Nicht ganz präsent

Deeg u.a. CoverKaum etwas ist schlimmer als eine vorgelesene Predigt. Wie wohltuend ist es da, wenn jemand frei predigen kann: das wirkt lebendig, dialogisch und hörerzugewand. Aber hat die freie Predigt tatsächlich nur Vorteile? Diese Frage stellen Alexander Deeg, Michael Meyer-Blanck und Christian Stäblein in ihrem Buch „Präsent predigen“. Ihre „Streitschrift wider die Ideologisierung der ‚freien’ Kanzelrede“ will eine Alternative aufzeigen zwischen vorgelesenem Manuskript und der manuskriptlosen, freien Predigt. Mit einer gemeinsamen Thesenreihe und drei Aufsätzen plädieren sie für eine Orientierung der Predigtpraxis am Begriff der homiletischen Präsenz. Aber leider verzetteln sie sich unnötigerweise dabei, eine Gegenposition aufzubauen, die so niemand vertritt, gegen die sie aber dennoch anargumentieren. Schade eigentlich, denn der Ansatz ist gar nicht so schlecht.

Predigt neu entstehen lassen

Deeg, Meyer-Blanck und Stäblein haben ein Hauptanliegen: Sie wollen zeigen, dass die schriftliche Arbeit an einem Manuskript ein unverzichtbares Element der Predigtvorbereitung ist. Sie betonen dabei: Das ausgearbeitete „Manuskript ist noch nicht die Predigt selbst“ (S. 13f). Zur Predigt wird das Manuskript erst durch den Predigtvortrag – durch die Aufführung und Inszenierung des Textes. Das schließt für die Autoren das Vorlesen des Manuskripts aus: Die Predigt muss auf der Kanzel neu entstehen – im Zusammenspiel von Schrift, Gemeinde und Prediger (S. 10f). Das klassische Memorieren bietet keine Alternative: Die Konzentration auf ein auswendig gelerntes Manuskript behindere den Prediger, präsent zu sein und in Kontakt mit den Zuhörern zu kommen (93f). Es braucht also eine Alternative zum bloßen Vorlesen und Auswendiglernen der Predigt.

Eine Alternative wäre der mehr oder minder freie Vortrag der Predigt. Aber was soll das heißen? Bereits Horst Hirschler hatte Ende der 80er Jahre vorgeschlagen, der Prediger möge zwar mit einem Manuskript auf die Kanzel gehen, er solle dort aber jeden Satz neu formulieren. Für Meyer-Blanck (S. 34) und Stäblein (S. 102) wäre das ein gangbarer Weg. Praxisorientierte Predigtbücher wie „Frei predigen“ von Arndt Elmar Schnepper und „Kein Blatt vor’m Mund“ von Volker A. Lehnert gehen noch einen Schritt weiter: Sie fordern dazu auf, sich gleich ganz ohne Manuskript auf die Kanzel zu wagen. Die moderne Vikarsausbildung ermutigt ebenfalls dazu. Das aber geht den Autoren zu weit: Präsentes Predigen braucht ihrer Meinung nach auch beim Predigtvortrag das Manuskript. Erst damit sei der Prediger wirklich in der Lage frei zu predigen.

Abgrenzung vom Sprechdenken

Das Kernproblem ist letzten Endes, wie Predigt auf der Kanzel entsteht. Der neuere Ansatz der freien Predigt greift dazu auf das so genannte „Sprechdenken“ zurück: Der Prediger durchdenkt laut sprechend den Predigtgang noch einmal. Der gesprochene Satz ist das Ergebnis dieses Neu-Durchdenkens und ist weder vorgelesen noch auswendig gelernt. Da dieser Ansatz zu dem Vorhaben der Autoren ähnelt, die Predigt beim Sprechen im Zusammenspiel von Schrift, Gemeinde und Prediger neu entstehen zu lassen, ist damit der Gegner ausgemacht: Es sind die Protagonisten des Sprechdenkens in der freien Predigt.

Im Sprechdenken, so ein erster Einwand, würden „Aufgabe und Form der Predigt [allzu schnell] zusammenfallen“ (S. 11): „Was eine Predigt ist und wie man sie macht, diese Schritte fallen hier zu früh und zu schnell unter dem Stichwort ‚freie Rede‘ zusammen“ (S. 12) – was auch immer das bedeuten mag. Es fehlt ein Argument. Man könnte genauso gut auch umgekehrt behaupten: Die Stärke der freien Predigt sei, dass Aufgabe und Form zusammen fallen. Damit wäre genauso viel und genauso wenig ausgesagt.

Ein zweiter Einwand bezieht sich darauf, die Form des Sprechdenkens eigne sicher methodisch eher für 5-8minütige Predigten wie in der katholischen Messe, nicht aber für „eine texthermeutische Predigt von 15-20 Minuten Dauer, wie sie von evangelischen Gottesdienstbesuchern erwartet wird“ (S. 12). Abgesehen davon, dass ein Beleg für die Behauptung der methodischen Unzulänglichkeit fehlt: Dass evangelische Gottesdienstbesucher a) eine texthermeutische Predigt erwarten, die b) 15-20 Minuten dauert, halte ich für eine ziemlich professoral-pastorale Perspektive. Auch wenn Stäblein die Fähigkeit zur freien Rede „für den pastoralen Alltag [als] unabdingbar“ ansieht (S. 104), möchte er dies doch nur für Andachten, Grußworte und Besuche gelten lassen, nicht für die Predigt. Die Argumentation zeigt eher, wie weit entfernt die akademische Theologie von der gemeindlichen Praxis entfernt ist.

Überzeugender erscheint da zunächst die Argumentation Meyer-Blancks (S. 50ff), der gegen die Anführung von Kleists Aufsatz „Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden“ einwendet, Kleists Ansatz sei vorwiegend der eigenen Gedankenklärung geschuldet. Dass Kleists Ansatz nicht auf die öffentliche Rede ziele, wie Meyer-Blanck nahelegt, stimmt aber nicht: Kleist schreibt sogar, dass manche große Rede aus dem unmittelbaren Kontakt mit dem Publikum entstanden ist. Meyer-Blancks Fazit, Kleists Methode eigne „sich für die Predigtvorbereitung, nicht für die Predigt selbst“ (52) stimmt daher nur begrenzt: Mit anderen über die geplante Predigt zu reden kann eine gute und wichtige Hilfe sein – hier stimmt Meyer-Blancks Hinweis – aber Kleist lässt sich sehr wohl auch für die Konzeption des Sprechdenkens als Zeuge aufrufen.

Die Einwände gegen das Sprechdenken sind letztlich nicht so stark, dass sich der Ansatz nicht als Methode eignen würde, die Predigt auf der Kanzel neu entstehen zu lassen. Zwar beklagen die Autoren zu Recht, dass eine wissenschaftliche Reflexion der freien Predigt in der gegenwärtigen Homiletik fehlt (S. 11). Die Schlussfolgerung, dass die Manuskriptorientierung in sämtlichen homiletischen Ansätzen aber die Einsicht widerspiegele, die freie Predigt entspreche eben nicht der Komplexität des Predigtgeschehens (S. 12f), ist allerdings reichlich gewagt. Deshalb versuchen die Autoren, grundsätzliche Probleme der freien Rede heraus zu arbeiten.

Gegen die freie Rede

Die Autoren drehen das Verständnis von freier Rede um: die freie Rede sei nur scheinbar frei, weil sie eine „im eigenen Gerede gefangene[..] Praxis“ (S. 9) sei, „ein unvorbereitetes und damit unfreies Herumreden“ (S. 10). Mit diesem immer wieder auftauchenden, argumentativen Zug beginnt allerdings die Verzettelung der Argumentation: Die Autoren sammeln verstreute Argumente gegen die freie Rede, verlieren dabei aber immer wieder aus dem Auge, von welcher Form freier Rede sie sprechen. Letztlich wird der Popanz einer Predigt aus dem Steggreif als Gegner aufgebaut, ungeachtet der Tatsache, dass erwähnte Gegenpositionen wie die von Schnepper und Lehnert einer solchen Praxis gerade nicht das Wort reden.

Statt den Weg zu gehen, überzeugend dazulegen wie Predigen in der „Dialektik von freiem, aktualisierendem Vortrag und präziser, bindender Vor- und Manuskriptarbeit geschieht“ (S. 11), verheddern sich die Autoren in dem Vorhaben, eine Streitschrift gegen die Ideologisierung der freien Predigt vorzulegen. Unter „Ideologie der freien Predigt“ verstehen sie die Ansicht: „nur die freie Predigt kann gute Predigt sein“ (S. 12). Abgesehen davon, dass auch diese These eine Popanzthese ist, wird der Begriff der „Ideologie“ hier falsch gebraucht. Das zeigt schon der Ausdruck „falsche Ideologisierung“ (S. 9): Ideologie ist grundsätzlich ein kritischer Begriff und Ideologisierung immer falsch. Alexander Deeg setzt „idealistisch“ und „ideologisch“ nahezu gleich (S. 60) und geht vom romantischen Idealismus ungebremst zur Ideologie des Nationalsozialismus über – ein zumindest gewagtes Manöver, das die Hochschätzung der freien Rede unter Ideologieverdacht stellen soll. Lassen wir den argumentativen Ausrutscher einmal dahingestellt, ist offenbar etwas ganz anderes gemeint: Die Autoren kritisieren nicht die Ideologisierung, sondern eine falsche Idealisierung der freien Rede.

Die Argumente sind allerdings recht dürftig. Möglicherweise wird die Analyse und Kritik an der freien Rede deshalb auch nicht systematisch vorgetragen, sondern sehr verteilt: So wird kritisiert, die freie Predigt sei unterkomplex sowie „handwerklich mäßig[…]“ (S. 9) und verfehle rhetorische Grundstandards (S. 19). Auch in exegetischer Hinsicht werden Mängel unterstellt, weil der Predigttext nicht angemessen gewürdigt würde: der Text werde, so der Einwand, zum Sprungbrett für eigene Assoziationen, der Gedankengang zerfasere, die Botschaft gerate in Gefahr zu verflachen (S. 14f). Zudem liefere die freie Rede die Predigt „ungefiltert“ der Person des Predigers aus: Die Person des Predigers dränge sich in den Vordergrund, sei verfangen in eigener Lebensgeschichte (S. 17) und seinem Habitus (S. 70), abhängig von seiner Überzeugungskraft, seiner Glaubwürdigkeit, seinem Humor und Charme (S. 73).

Einige Argumente klingen bemüht bis sogar (unfreiwillig) komisch – das sind insbesondere die Argumente, die auf die größte Stärke des freien Redens verweisen: den direkten Bezug zum Hörer. So hält etwa Meyer-Blanck „die undeutliche Artikulation“ (S. 32) für das größte Problem der freien Rede, weil sie es vor allem Nicht-Muttersprachlern schwierig mache, der Rede zu folgen. Die Autoren machen zugleich eine doppelte Missachtung der Hörer aus: Die erste Missachtung steckt im unterstellten Mangel an Komplexität, die eine „geistige und geistliche Unterforderung“ sei (S. 9). Die zweite Missachtung basiert darauf, dass der freie Prediger „sich vor allem auf seine persönliche Autorität verlässt“ und damit die Autorität der Gemeinschaft missachte (S. 10).

Auch Deegs Argument, die freie Rede stünde vor dem Problem einer „massiven Bevormundung der Hörenden“ (S. 74) wirkt bemüht und die Argumentationsgang ist in sich widersprüchlich: Die Hörerinnen und Hörer, so Deeg, würden mittels einer „bedrängenden, letztlich autoritären Rhetorik […] in ihrer Aufmerksamkeit gefesselt“ (S. 16). Hier wird das abschweifende Betrachten des welken Blumenschmucks oder Überlegungen zur Renovierungsbedürftigkeit des Fußbodens beim Hören einer langweiligen Predigt zur Tugend der Freiheit des Hörers umgedeutet, nicht zuhören zu müssen. Deeg greift sogar zu einem argumentativen Trick: Empirische Untersuchungen zur Predigtrezeption, die zeigen, wie selektiv Hörer hören, werden bei Deeg zu Belegen dafür „dass Predigthörende die eigene Freiheit im Predigtvollzug zu schätzen wissen“ (76). Das ist eine zumindest gewagte Interpretation der Rezeptionsästhetik. Schließlich fordert auch Deeg, die Predigt brauche eine Gestaltung, „die fasziniert“ (S.77): „Ein Redner muss die Zuhörer gewinnen wollen, sonst sollte er das Reden belassen.“ (S. 9)

Faulheit und Zeitmangel als Motive für die freie Predigt

Sicherlich: Die vorgebrachten Argumente können Probleme der freien Rede sein – sie sind aber fast vollständig auch auf die Manuskriptrede übertragbar. Das gilt selbst für eines der Hauptargumente gegen die Praxis der freien Rede: Die Autoren unterstellen den Pfarrerinnen und Pfarrern, dass Faulheit, und nicht theologische und homiletische Gründe das „Hauptmotiv“ (S. 13) für das freie Predigen sei. Schon Luther habe Predigten aus Zeitmangel nicht wörtlich ausgearbeitet (S. 23). In der Konzeption der freien Predigt werde der „bedauerliche Zeitmangel“ der Pfarrerschaft aber „theologisch überhöht (S. 13) und zu einem „Mäntelchen der Faulheit“ (S. 10). Insbesondere die Homilie kann für Meyer-Blanck zu einer gefährlichen „Verführung zur Faulheit“ (47) werden, weil der routinierte Prediger unvorbereitet und frei am Bibeltext entlang reden kann. Aber auch Modelle wie das lernpsychologische Schema machen es dem Prediger „sehr leicht aus dem Stegreif“ zu reden (47f).

Die schwächere Lesart des Arguments legt ihren Schwerpunkt nicht auf Faulheit, sondern auf den Zeitmangel: So rechnet Stäblein aufgrund empirischer Studien vor, dass im Pfarralltag weniger als drei Stunden Vorbereitungszeit für die Predigt übrig blieben (S. 116). Zugleich gesteht Stäblein – wenn auch nur in einer Fußnote – zu, „dass die ernsthaften Techniken zur Vorbereitung einer freien Predigt nicht weniger, sondern mehr Zeit benötigen als die manuskriptgebundene Predigt“ (S. 116). Tatsächlich könnte man Zeitmangel auch als Argument gegen die schnell herunter geschriebene und mangels merkbarer Struktur vorgelesene Predigt anführen – wenn man nicht sogar auf die aus dem Internet herunter geladene Predigt verweisen will. Die Argumente gegen die freie Rede sind sicherlich deshalb so schwach, weil die Autoren eigentlich gegen etwas anderes zielen: die schlecht vorbereitete Rede aus dem Steggreif. Dass diese in der Praxis durchaus vorkommen mag, will ich nicht bestreiten: Das Phänomen gibt es, mit all den angeführten Problemen. Aber: Der Missbrauch eines guten Konzepts widerlegt nicht das Konzept selbst (S. 10), wie die Autoren selbst am Anfang ihrer Thesenreihe feststellen. Erforderlich wäre daher, systematische Gründe für die Unangemessenheit der freien Rede als Methode der Predigt vorzulegen. Das gelingt den Autoren aber nicht.

Gute Ansätze

Die Autoren wollen eine Debatte über Sinn und Unsinn der freien Rede anstoßen – was zu begrüßen ist: Die Diskrepanz zwischen universitärer Homiletik und gemeindlicher Predigtpraxis bedarf einer Neuorientierung des theoretischen Instrumentariums. Dass Meyer-Blanck, Deeg und Stäblein mit ihrem Vorgehen scheitern, spricht nicht gegen die Notwendigkeit, die frei gehaltene Predigt homiletisch zu reflektieren. Schade ist nur, dass sich die Autoren so in der Polemik gegen die vermeintliche Ideologie der freien Rede verzetteln, dass die guten und bedenkenswerten Ansätze in den Hintergrund treten. Ich sehe drei wichtige Ansatzpunkte:

Erstens: Predigtarbeit braucht Zeit. Das ist nicht neu, aber es gilt, die aktuellen Bedingungen der Predigtarbeit in der Homiletik mit zu reflektieren. Was bedeutet es für die Predigt, wenn Pfarrerinnen und Pfarrer oft nicht mehr als drei Stunden für die Predigtvorbereitung aufwenden können? Stäblein sieht im Schreiben eine Möglichkeit, ganz bewusst aus der Vielgestalt der mündlichen Alltagskommunikation auszusteigen und sich dadurch in „Selbstdisziplin und Hingabe“ (S.11) zu üben. Auch wenn man von der Engführung auf die schreibende Vorbereitung absieht: Predigtvorbereitung setzt ein funktionierendes System von Zeit- und Selbstmanagement voraus. Das geht letztlich über die Predigtvorbereitung im engeren Sinne hinaus: So haben bereits Heribert Arens und seine Mitautoren in „Kreativität und Predigtarbeit“ Anfang der 1980er Jahre von einer „offensiven Predigtarbeit“ geredet, die eingebettet ist in eine kreative Lebenshaltung und nicht nur von der Hand in den Mund lebt, das heißt: nicht immer nur die nächste Predigt im Blick hat. Ansonsten droht, was Stäblein „Auspredigen“ nennt: „eine verengte, auf die ermüdende Reproduktion des immer Gleichen eingefahrene, für das schöpferische Moment kaum noch offene Wahrnehmung der [Predigt-]Aufgabe“ (S. 111).

Zweitens: Schreiben ist eine unverzichtbare Methode der Predigtarbeit. Man muss es ja nicht gleich mit Meyer-Blanck übertreiben und behaupten „Predigerinnen und Prediger sind Dichter“ (S. 22). Das stellt einen zu hohen sprachlichen Anspruch an die Predigt, vor dem nicht nur die freie Predigt kapitulieren muss. Aber in der Predigtarbeit auf „Poesie, Sprachkunst und Zeichenbildung“ zu setzen (S. 10), das gelingt schreibend besser. Deeg ist hier etwas nüchterner, wenn er in Predigern zwar „manchmal auch Sprachkünstler“ (87) sieht, aber in erster Linie sind Prediger Spracharbeiter und Kunsthandwerker der Sprache – wie Journalisten und Schriftsteller. In der bisherigen Homiletik und Predigerausbildung ist dieser Aspekt deutlich zu kurz gekommen. Predigen lernen heißt darum immer auch: Schreiben lernen – und zwar zu allererst als Handwerk – und manchmal sogar als Kunst.

Drittens. Die schreibende Predigtvorbereitung bietet ein starkes methodisches Instrument: die Möglichkeit der Überarbeitung. Dieses Grundelement der Schreibarbeit wird von der Autoren zwar nicht so genannt, aber wenn Deeg von der „Chance der Distanzierung“ schreibt (S. 78ff), ist genau dies gemeint. In einem kleinen Exkurs zeigt Deeg, dass schon in der antiken Rhetorik Schreiben eine wichtige Technik der Redevorbereitung war, die zwei Vorteile mit sich brachte: Wer schreibt, verlangsamt den Sprachfluss und ermöglicht die Suche nach dem besten Ausdruck. Und wer schreibt, kann kritisch auf das Geschriebene schauen und es korrigieren. Überarbeitung meint letztlich beides. Wer auf das Schreiben prinzipiell verzichtet, bringt sich um eine der stärksten Techniken der Textproduktion (vgl. S. 80).

Fazit

Meyer-Blanck, Deeg und Stäblein legen ein Buch mit guten und bedenkenswerten Ansätzen vor: den Zeitaufwand der Predigtvorbereitung im Pfarralltag zu bedenken, die Stärken des Schreibens herauszuarbeiten und großen Chancen zu sehen, die die Technik der Überarbeitung eines Manuskriptes für den Predigtvortrag bringt, das sind Punkte, die zu diskutieren sind. Leider haben sie nur am Rande etwas mit der Konzeption präsenten Predigens zu tun. Die Autoren verlieren sich zu sehr in Scheingefechten mit Ansätzen einer freien Rede, die es so nicht gibt. Statt mit einer Streitschrift gegen eine vermeintliche Ideologisierung der freien Predigt wären die Autoren mit einem Plädoyer für das Schreiben als unverzichtbarem Element der Predigtvorbereitung und der Orientierung an homiletischer Präsenz besser gefahren. So bleibt das Konzept des präsenten Predigens eigentümlich blass und auch die zentrale These, dass gerade die solide Manuskriptarbeit eine große Freiheit beim Predigtvortrag ermögliche, wird nicht ausgearbeitet. Am Ende wünscht man sich, die Autoren hätten selbst von der Möglichkeit, ihr Manuskript gründlich zu überarbeiten, mehr Gebrauch gemacht.

Deeg, Alexander, Michael Meyer-Blanck, und Christian Stäblein: Präsent predigen. Eine Streitschrift wider die Ideologisierung der „freien“ Kanzelrede. 1. Aufl. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2011. ISBN 9783525620014 | 17,95 € | 118 S. [Amazon-Link]

homilia.de wird zum Blog

Nach sieben Jahren homilia.de als konventionelle Web-Seite stelle ich die Seite jetzt um auf einen Blog-Betrieb. Nach den ersten Erfahrungen mit dem holmespeare-Blog werde ich künftig alle homiletischen und schreibspezifischen Sachen hier posten. Der Umzug wird ein paar Tage in Anspruch nehmen. Bis dahin stehen die alten Artikel erst nach und nach wieder zur Verfügung.

Kathrin Oxen leitet künftig Predigtzentrum

Das Zentrum für Predigtkultur in Wittenberg bekommt eine neue Leiterin: Pfarrerin Kathrin Oxen wird Nachfolgerin von Alexander Deeg. Das hat die EKD mitgeteilt [zur Pressemeldung]. Oxen kommt aus der evangelisch-reformierten Kirche und ist Gemeindepfarrerin in Bützow in Mecklenburg. Im Atelier Sprache e.V. der Braunschweigischen Landeskirche hatte sie den „Meisterkurs Predigt“ absolviert, kommt also gewissermaßen „aus dem Stall“ von Martin Nicol und Alexander Deeg. 2008 hat sie einen Predigtpreis zum Calvinjahr gewonnen, 2009 den Predigtpreis der Deutschen Wirtschaft in der Kategorie „Beste Predigt“.