Wann ist eine Predigt fertig?

Kurz vor Weihnachten hat der WDR2 ein kurzes Interview gemacht, wie man als Pastor durch die Weihnachtszeit kommt und worum es z.B. in meiner Weihnachtspredigt geht. Am Ende des Gesprächs stellte Katrin Schmick fest, zumindest sei ja meine Predigt schon fertig. Der Teil wurde nicht gesendet, sondern rausgeschnitten, hat mich aber weiter beschäftigt: Waren meine Predigten (es war ja nicht nur eine, die vorzubereiten war) wirklich schon fertig?

Predigtkladde mit Änderungen
Letzte Änderungen im Predigtskript

Was sich in mir gegen die Formulierung sträubte war wahrscheinlich, dass hier das erarbeitete Predigskript mit der Predigt identifiziert wird. Aber Skript und Rede sind eben nicht identisch: „Es gilt das gesprochene Wort.“ Fertig ist eine Predigt erst, wenn die Rede zuende ist. Man kann allenfalls sagen: Ich bin mit der Vorbereitung der Predigt fertig. Denn die Predigt ist die Rede selbst, nicht das Skript – wie ausgearbeitet auch immer es ist.

Genau genommen bleibt man aber in der Vorbereitungssituation, solange nicht gepredigt wird. Denn auch auch unmittelbar vor Predigtbeginn lassen sich noch Änderungen planen, kann man noch einen Gedanken aufgreifen oder einen Zusammenhang zu etwas zuvor geschehenem herstellen. Solange ich noch darüber nachdenke, was ich gleich sage, bin ich in der Situation der Vorbereitung. Mein sonntägliches Morgenritual sieht denn auch so aus, dass ich beim Frühstück mit Rotstift bewaffnet das Skript ein (vor-)letztes Mal durchsehe. Manchmal mache ich danach sogar noch einen neuen Ausdruck, weil ich noch etwas verändert habe. Wenn ich von der Kanzel aus rede, schaue ich mir den Text dort vor dem Gottesdienst ein letztes Mal an. Wenn ich Handzettel benutze, schaue ich beim Lied vor der Predigt noch einmal über den Text und treffe letzte Entwurfsentscheidungen.

Mit dem Beginn der Predigt ist die Vorbereitung abgeschlossen. Und erst wenn ich aufhöre zu predigen, ist die Predigt fertig. Das ist tautologisch, aber so ist es. Nach dem Gottesdienst kommt zuweilen die Nachbereitung, wenn ich Änderungen nachträglich in das Skript einfüge und für eine eventuelle spätere, erneute Verwendung archviere. Nach der Predigt ist vor der Predigt. Die nächste Predigt ist dann aber noch nicht fertig, selbst wenn das Skript ordentlich abgespeichert ist.

Überarbeitung und Zeitmanagement

Die Überarbeitung ist ein unverzichtbarer, aber zeitaufwändiger Teil des Schreibens. David M. Kaplan meint: „Überarbeiten heißt: denken und überdenken, tippen und neu tippen. Es heißt: zu viel Kaffee trinken und den verzweifelten Wunsch nach irgendeiner Ablenkung verspüren – telefonieren, den Briefträger in eine Gespräch verstricken, ein Buch lesen oder dem plötzlichen Heißhunger auf Croissants nachgeben.“ (Die Überarbeitung, S. 21) Was Kaplan hier beschreibt, nennt man überlicherweise Prokrastination oder Aufschieberitis. Wahrscheinlich ist das Überarbeiten neben der Recherche der zeitintensivste Teil des Schreibens.

Es wundert daher nicht, dass Sondra Wilson Predigtüberarbeitung und Zeitmanagement in einem Kapitel diskutiert (The Write Stuff, S. 103ff), das sie doppeldeutig mit „Time to Revise“ überschreibt: Es kommt eben nicht nur irgendwann die Zeit der Überarbeitung, sondern sie braucht auch Zeit. Das muss entsprechend organisiert werden. Wilson verweist darauf, dass einige Prediger als Zeitbedarf für die Predigtvorbereitung acht Stunden angeben. Und sie erwähnt Harry Fosdick, der sogar forderte, ein Prediger müsse für jede Minute auf der Kanzel eine Stunde Vorbereitungszeit kalkulieren. Dem stehen empirische Studien gegenüber, nach denen Pfarrerinnen und Pfarrern in der Vielfalt ihrer alltäglichen Aufgaben am Ende nur rund drei Stunden übrigbleiben, die sie in die Vorbereitung einer Predigt stecken (vgl. Präsent predigen, S. 116). Predigtvorbereitung, die auf die Phase der Überarbeitung nicht verzichten mag, braucht also ein System des Zeit- und Selbstmanagements.

Leider eignen sich viele Zeitmanagement-Modelle nicht für den Pfarralltag. Viele Ansätze scheinen für Freiberufler optimiert. Wilson gibt nur ein paar Tipps, die kaum als systematisches Modell durchgehen: Große Aufgaben lassen sich in kleinen, überschaubauen Einheiten besser bearbeiten; man darf nicht alles verplanen, sondern muss auch Ruhezeiten einhalten; und bei konkreten Aufgaben kann es helfen, sich mit der Eieruhr-Methode für einen definierten Zeitbereich auf eine Aufgabe zu konzentrieren. Das war’s schon und hilft nur begrenzt weiter. Ich will mal versuchen, in den nächsten Wochen mein Zeitmanagement zu reflektieren. Dass die Predigtvorbereitung dabei nur eine Rolle neben vielen anderen wichtigen Rollen spielt, liegt in der Natur des Pfarralltags.

Täglich Schreiben

Tagebuch schreiben scheint einfach und voraussetzungslos: eine Kladde und ein Stift genügen, um mit täglichen Aufzeichnungen aus dem eigenen Leben zu beginnen. Probleme scheint es allenfalls damit zu geben, wirklich regelmäßig zu schreiben. Aber stimmt dieser Eindruck? Wie schon in Ortheils „Schreiben dicht am Leben“ stellt Christian Schärf im zweiten Band der Duden-Reihe „Kreatives Schreiben“ an konkreten Beispielen Möglichkeiten des Tagebuchschreibens vor. „Täglich Schreiben“ weiterlesen

Nicht ganz präsent

Deeg u.a. CoverKaum etwas ist schlimmer als eine vorgelesene Predigt. Wie wohltuend ist es da, wenn jemand frei predigen kann: das wirkt lebendig, dialogisch und hörerzugewand. Aber hat die freie Predigt tatsächlich nur Vorteile? Diese Frage stellen Alexander Deeg, Michael Meyer-Blanck und Christian Stäblein in ihrem Buch „Präsent predigen“. Ihre „Streitschrift wider die Ideologisierung der ‚freien’ Kanzelrede“ will eine Alternative aufzeigen zwischen vorgelesenem Manuskript und der manuskriptlosen, freien Predigt. Mit einer gemeinsamen Thesenreihe und drei Aufsätzen plädieren sie für eine Orientierung der Predigtpraxis am Begriff der homiletischen Präsenz. Aber leider verzetteln sie sich unnötigerweise dabei, eine Gegenposition aufzubauen, die so niemand vertritt, gegen die sie aber dennoch anargumentieren. Schade eigentlich, denn der Ansatz ist gar nicht so schlecht.

Predigt neu entstehen lassen

Deeg, Meyer-Blanck und Stäblein haben ein Hauptanliegen: Sie wollen zeigen, dass die schriftliche Arbeit an einem Manuskript ein unverzichtbares Element der Predigtvorbereitung ist. Sie betonen dabei: Das ausgearbeitete „Manuskript ist noch nicht die Predigt selbst“ (S. 13f). Zur Predigt wird das Manuskript erst durch den Predigtvortrag – durch die Aufführung und Inszenierung des Textes. Das schließt für die Autoren das Vorlesen des Manuskripts aus: Die Predigt muss auf der Kanzel neu entstehen – im Zusammenspiel von Schrift, Gemeinde und Prediger (S. 10f). Das klassische Memorieren bietet keine Alternative: Die Konzentration auf ein auswendig gelerntes Manuskript behindere den Prediger, präsent zu sein und in Kontakt mit den Zuhörern zu kommen (93f). Es braucht also eine Alternative zum bloßen Vorlesen und Auswendiglernen der Predigt.

Eine Alternative wäre der mehr oder minder freie Vortrag der Predigt. Aber was soll das heißen? Bereits Horst Hirschler hatte Ende der 80er Jahre vorgeschlagen, der Prediger möge zwar mit einem Manuskript auf die Kanzel gehen, er solle dort aber jeden Satz neu formulieren. Für Meyer-Blanck (S. 34) und Stäblein (S. 102) wäre das ein gangbarer Weg. Praxisorientierte Predigtbücher wie „Frei predigen“ von Arndt Elmar Schnepper und „Kein Blatt vor’m Mund“ von Volker A. Lehnert gehen noch einen Schritt weiter: Sie fordern dazu auf, sich gleich ganz ohne Manuskript auf die Kanzel zu wagen. Die moderne Vikarsausbildung ermutigt ebenfalls dazu. Das aber geht den Autoren zu weit: Präsentes Predigen braucht ihrer Meinung nach auch beim Predigtvortrag das Manuskript. Erst damit sei der Prediger wirklich in der Lage frei zu predigen.

Abgrenzung vom Sprechdenken

Das Kernproblem ist letzten Endes, wie Predigt auf der Kanzel entsteht. Der neuere Ansatz der freien Predigt greift dazu auf das so genannte „Sprechdenken“ zurück: Der Prediger durchdenkt laut sprechend den Predigtgang noch einmal. Der gesprochene Satz ist das Ergebnis dieses Neu-Durchdenkens und ist weder vorgelesen noch auswendig gelernt. Da dieser Ansatz zu dem Vorhaben der Autoren ähnelt, die Predigt beim Sprechen im Zusammenspiel von Schrift, Gemeinde und Prediger neu entstehen zu lassen, ist damit der Gegner ausgemacht: Es sind die Protagonisten des Sprechdenkens in der freien Predigt.

Im Sprechdenken, so ein erster Einwand, würden „Aufgabe und Form der Predigt [allzu schnell] zusammenfallen“ (S. 11): „Was eine Predigt ist und wie man sie macht, diese Schritte fallen hier zu früh und zu schnell unter dem Stichwort ‚freie Rede‘ zusammen“ (S. 12) – was auch immer das bedeuten mag. Es fehlt ein Argument. Man könnte genauso gut auch umgekehrt behaupten: Die Stärke der freien Predigt sei, dass Aufgabe und Form zusammen fallen. Damit wäre genauso viel und genauso wenig ausgesagt.

Ein zweiter Einwand bezieht sich darauf, die Form des Sprechdenkens eigne sicher methodisch eher für 5-8minütige Predigten wie in der katholischen Messe, nicht aber für „eine texthermeutische Predigt von 15-20 Minuten Dauer, wie sie von evangelischen Gottesdienstbesuchern erwartet wird“ (S. 12). Abgesehen davon, dass ein Beleg für die Behauptung der methodischen Unzulänglichkeit fehlt: Dass evangelische Gottesdienstbesucher a) eine texthermeutische Predigt erwarten, die b) 15-20 Minuten dauert, halte ich für eine ziemlich professoral-pastorale Perspektive. Auch wenn Stäblein die Fähigkeit zur freien Rede „für den pastoralen Alltag [als] unabdingbar“ ansieht (S. 104), möchte er dies doch nur für Andachten, Grußworte und Besuche gelten lassen, nicht für die Predigt. Die Argumentation zeigt eher, wie weit entfernt die akademische Theologie von der gemeindlichen Praxis entfernt ist.

Überzeugender erscheint da zunächst die Argumentation Meyer-Blancks (S. 50ff), der gegen die Anführung von Kleists Aufsatz „Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden“ einwendet, Kleists Ansatz sei vorwiegend der eigenen Gedankenklärung geschuldet. Dass Kleists Ansatz nicht auf die öffentliche Rede ziele, wie Meyer-Blanck nahelegt, stimmt aber nicht: Kleist schreibt sogar, dass manche große Rede aus dem unmittelbaren Kontakt mit dem Publikum entstanden ist. Meyer-Blancks Fazit, Kleists Methode eigne „sich für die Predigtvorbereitung, nicht für die Predigt selbst“ (52) stimmt daher nur begrenzt: Mit anderen über die geplante Predigt zu reden kann eine gute und wichtige Hilfe sein – hier stimmt Meyer-Blancks Hinweis – aber Kleist lässt sich sehr wohl auch für die Konzeption des Sprechdenkens als Zeuge aufrufen.

Die Einwände gegen das Sprechdenken sind letztlich nicht so stark, dass sich der Ansatz nicht als Methode eignen würde, die Predigt auf der Kanzel neu entstehen zu lassen. Zwar beklagen die Autoren zu Recht, dass eine wissenschaftliche Reflexion der freien Predigt in der gegenwärtigen Homiletik fehlt (S. 11). Die Schlussfolgerung, dass die Manuskriptorientierung in sämtlichen homiletischen Ansätzen aber die Einsicht widerspiegele, die freie Predigt entspreche eben nicht der Komplexität des Predigtgeschehens (S. 12f), ist allerdings reichlich gewagt. Deshalb versuchen die Autoren, grundsätzliche Probleme der freien Rede heraus zu arbeiten.

Gegen die freie Rede

Die Autoren drehen das Verständnis von freier Rede um: die freie Rede sei nur scheinbar frei, weil sie eine „im eigenen Gerede gefangene[..] Praxis“ (S. 9) sei, „ein unvorbereitetes und damit unfreies Herumreden“ (S. 10). Mit diesem immer wieder auftauchenden, argumentativen Zug beginnt allerdings die Verzettelung der Argumentation: Die Autoren sammeln verstreute Argumente gegen die freie Rede, verlieren dabei aber immer wieder aus dem Auge, von welcher Form freier Rede sie sprechen. Letztlich wird der Popanz einer Predigt aus dem Steggreif als Gegner aufgebaut, ungeachtet der Tatsache, dass erwähnte Gegenpositionen wie die von Schnepper und Lehnert einer solchen Praxis gerade nicht das Wort reden.

Statt den Weg zu gehen, überzeugend dazulegen wie Predigen in der „Dialektik von freiem, aktualisierendem Vortrag und präziser, bindender Vor- und Manuskriptarbeit geschieht“ (S. 11), verheddern sich die Autoren in dem Vorhaben, eine Streitschrift gegen die Ideologisierung der freien Predigt vorzulegen. Unter „Ideologie der freien Predigt“ verstehen sie die Ansicht: „nur die freie Predigt kann gute Predigt sein“ (S. 12). Abgesehen davon, dass auch diese These eine Popanzthese ist, wird der Begriff der „Ideologie“ hier falsch gebraucht. Das zeigt schon der Ausdruck „falsche Ideologisierung“ (S. 9): Ideologie ist grundsätzlich ein kritischer Begriff und Ideologisierung immer falsch. Alexander Deeg setzt „idealistisch“ und „ideologisch“ nahezu gleich (S. 60) und geht vom romantischen Idealismus ungebremst zur Ideologie des Nationalsozialismus über – ein zumindest gewagtes Manöver, das die Hochschätzung der freien Rede unter Ideologieverdacht stellen soll. Lassen wir den argumentativen Ausrutscher einmal dahingestellt, ist offenbar etwas ganz anderes gemeint: Die Autoren kritisieren nicht die Ideologisierung, sondern eine falsche Idealisierung der freien Rede.

Die Argumente sind allerdings recht dürftig. Möglicherweise wird die Analyse und Kritik an der freien Rede deshalb auch nicht systematisch vorgetragen, sondern sehr verteilt: So wird kritisiert, die freie Predigt sei unterkomplex sowie „handwerklich mäßig[…]“ (S. 9) und verfehle rhetorische Grundstandards (S. 19). Auch in exegetischer Hinsicht werden Mängel unterstellt, weil der Predigttext nicht angemessen gewürdigt würde: der Text werde, so der Einwand, zum Sprungbrett für eigene Assoziationen, der Gedankengang zerfasere, die Botschaft gerate in Gefahr zu verflachen (S. 14f). Zudem liefere die freie Rede die Predigt „ungefiltert“ der Person des Predigers aus: Die Person des Predigers dränge sich in den Vordergrund, sei verfangen in eigener Lebensgeschichte (S. 17) und seinem Habitus (S. 70), abhängig von seiner Überzeugungskraft, seiner Glaubwürdigkeit, seinem Humor und Charme (S. 73).

Einige Argumente klingen bemüht bis sogar (unfreiwillig) komisch – das sind insbesondere die Argumente, die auf die größte Stärke des freien Redens verweisen: den direkten Bezug zum Hörer. So hält etwa Meyer-Blanck „die undeutliche Artikulation“ (S. 32) für das größte Problem der freien Rede, weil sie es vor allem Nicht-Muttersprachlern schwierig mache, der Rede zu folgen. Die Autoren machen zugleich eine doppelte Missachtung der Hörer aus: Die erste Missachtung steckt im unterstellten Mangel an Komplexität, die eine „geistige und geistliche Unterforderung“ sei (S. 9). Die zweite Missachtung basiert darauf, dass der freie Prediger „sich vor allem auf seine persönliche Autorität verlässt“ und damit die Autorität der Gemeinschaft missachte (S. 10).

Auch Deegs Argument, die freie Rede stünde vor dem Problem einer „massiven Bevormundung der Hörenden“ (S. 74) wirkt bemüht und die Argumentationsgang ist in sich widersprüchlich: Die Hörerinnen und Hörer, so Deeg, würden mittels einer „bedrängenden, letztlich autoritären Rhetorik […] in ihrer Aufmerksamkeit gefesselt“ (S. 16). Hier wird das abschweifende Betrachten des welken Blumenschmucks oder Überlegungen zur Renovierungsbedürftigkeit des Fußbodens beim Hören einer langweiligen Predigt zur Tugend der Freiheit des Hörers umgedeutet, nicht zuhören zu müssen. Deeg greift sogar zu einem argumentativen Trick: Empirische Untersuchungen zur Predigtrezeption, die zeigen, wie selektiv Hörer hören, werden bei Deeg zu Belegen dafür „dass Predigthörende die eigene Freiheit im Predigtvollzug zu schätzen wissen“ (76). Das ist eine zumindest gewagte Interpretation der Rezeptionsästhetik. Schließlich fordert auch Deeg, die Predigt brauche eine Gestaltung, „die fasziniert“ (S.77): „Ein Redner muss die Zuhörer gewinnen wollen, sonst sollte er das Reden belassen.“ (S. 9)

Faulheit und Zeitmangel als Motive für die freie Predigt

Sicherlich: Die vorgebrachten Argumente können Probleme der freien Rede sein – sie sind aber fast vollständig auch auf die Manuskriptrede übertragbar. Das gilt selbst für eines der Hauptargumente gegen die Praxis der freien Rede: Die Autoren unterstellen den Pfarrerinnen und Pfarrern, dass Faulheit, und nicht theologische und homiletische Gründe das „Hauptmotiv“ (S. 13) für das freie Predigen sei. Schon Luther habe Predigten aus Zeitmangel nicht wörtlich ausgearbeitet (S. 23). In der Konzeption der freien Predigt werde der „bedauerliche Zeitmangel“ der Pfarrerschaft aber „theologisch überhöht (S. 13) und zu einem „Mäntelchen der Faulheit“ (S. 10). Insbesondere die Homilie kann für Meyer-Blanck zu einer gefährlichen „Verführung zur Faulheit“ (47) werden, weil der routinierte Prediger unvorbereitet und frei am Bibeltext entlang reden kann. Aber auch Modelle wie das lernpsychologische Schema machen es dem Prediger „sehr leicht aus dem Stegreif“ zu reden (47f).

Die schwächere Lesart des Arguments legt ihren Schwerpunkt nicht auf Faulheit, sondern auf den Zeitmangel: So rechnet Stäblein aufgrund empirischer Studien vor, dass im Pfarralltag weniger als drei Stunden Vorbereitungszeit für die Predigt übrig blieben (S. 116). Zugleich gesteht Stäblein – wenn auch nur in einer Fußnote – zu, „dass die ernsthaften Techniken zur Vorbereitung einer freien Predigt nicht weniger, sondern mehr Zeit benötigen als die manuskriptgebundene Predigt“ (S. 116). Tatsächlich könnte man Zeitmangel auch als Argument gegen die schnell herunter geschriebene und mangels merkbarer Struktur vorgelesene Predigt anführen – wenn man nicht sogar auf die aus dem Internet herunter geladene Predigt verweisen will. Die Argumente gegen die freie Rede sind sicherlich deshalb so schwach, weil die Autoren eigentlich gegen etwas anderes zielen: die schlecht vorbereitete Rede aus dem Steggreif. Dass diese in der Praxis durchaus vorkommen mag, will ich nicht bestreiten: Das Phänomen gibt es, mit all den angeführten Problemen. Aber: Der Missbrauch eines guten Konzepts widerlegt nicht das Konzept selbst (S. 10), wie die Autoren selbst am Anfang ihrer Thesenreihe feststellen. Erforderlich wäre daher, systematische Gründe für die Unangemessenheit der freien Rede als Methode der Predigt vorzulegen. Das gelingt den Autoren aber nicht.

Gute Ansätze

Die Autoren wollen eine Debatte über Sinn und Unsinn der freien Rede anstoßen – was zu begrüßen ist: Die Diskrepanz zwischen universitärer Homiletik und gemeindlicher Predigtpraxis bedarf einer Neuorientierung des theoretischen Instrumentariums. Dass Meyer-Blanck, Deeg und Stäblein mit ihrem Vorgehen scheitern, spricht nicht gegen die Notwendigkeit, die frei gehaltene Predigt homiletisch zu reflektieren. Schade ist nur, dass sich die Autoren so in der Polemik gegen die vermeintliche Ideologie der freien Rede verzetteln, dass die guten und bedenkenswerten Ansätze in den Hintergrund treten. Ich sehe drei wichtige Ansatzpunkte:

Erstens: Predigtarbeit braucht Zeit. Das ist nicht neu, aber es gilt, die aktuellen Bedingungen der Predigtarbeit in der Homiletik mit zu reflektieren. Was bedeutet es für die Predigt, wenn Pfarrerinnen und Pfarrer oft nicht mehr als drei Stunden für die Predigtvorbereitung aufwenden können? Stäblein sieht im Schreiben eine Möglichkeit, ganz bewusst aus der Vielgestalt der mündlichen Alltagskommunikation auszusteigen und sich dadurch in „Selbstdisziplin und Hingabe“ (S.11) zu üben. Auch wenn man von der Engführung auf die schreibende Vorbereitung absieht: Predigtvorbereitung setzt ein funktionierendes System von Zeit- und Selbstmanagement voraus. Das geht letztlich über die Predigtvorbereitung im engeren Sinne hinaus: So haben bereits Heribert Arens und seine Mitautoren in „Kreativität und Predigtarbeit“ Anfang der 1980er Jahre von einer „offensiven Predigtarbeit“ geredet, die eingebettet ist in eine kreative Lebenshaltung und nicht nur von der Hand in den Mund lebt, das heißt: nicht immer nur die nächste Predigt im Blick hat. Ansonsten droht, was Stäblein „Auspredigen“ nennt: „eine verengte, auf die ermüdende Reproduktion des immer Gleichen eingefahrene, für das schöpferische Moment kaum noch offene Wahrnehmung der [Predigt-]Aufgabe“ (S. 111).

Zweitens: Schreiben ist eine unverzichtbare Methode der Predigtarbeit. Man muss es ja nicht gleich mit Meyer-Blanck übertreiben und behaupten „Predigerinnen und Prediger sind Dichter“ (S. 22). Das stellt einen zu hohen sprachlichen Anspruch an die Predigt, vor dem nicht nur die freie Predigt kapitulieren muss. Aber in der Predigtarbeit auf „Poesie, Sprachkunst und Zeichenbildung“ zu setzen (S. 10), das gelingt schreibend besser. Deeg ist hier etwas nüchterner, wenn er in Predigern zwar „manchmal auch Sprachkünstler“ (87) sieht, aber in erster Linie sind Prediger Spracharbeiter und Kunsthandwerker der Sprache – wie Journalisten und Schriftsteller. In der bisherigen Homiletik und Predigerausbildung ist dieser Aspekt deutlich zu kurz gekommen. Predigen lernen heißt darum immer auch: Schreiben lernen – und zwar zu allererst als Handwerk – und manchmal sogar als Kunst.

Drittens. Die schreibende Predigtvorbereitung bietet ein starkes methodisches Instrument: die Möglichkeit der Überarbeitung. Dieses Grundelement der Schreibarbeit wird von der Autoren zwar nicht so genannt, aber wenn Deeg von der „Chance der Distanzierung“ schreibt (S. 78ff), ist genau dies gemeint. In einem kleinen Exkurs zeigt Deeg, dass schon in der antiken Rhetorik Schreiben eine wichtige Technik der Redevorbereitung war, die zwei Vorteile mit sich brachte: Wer schreibt, verlangsamt den Sprachfluss und ermöglicht die Suche nach dem besten Ausdruck. Und wer schreibt, kann kritisch auf das Geschriebene schauen und es korrigieren. Überarbeitung meint letztlich beides. Wer auf das Schreiben prinzipiell verzichtet, bringt sich um eine der stärksten Techniken der Textproduktion (vgl. S. 80).

Fazit

Meyer-Blanck, Deeg und Stäblein legen ein Buch mit guten und bedenkenswerten Ansätzen vor: den Zeitaufwand der Predigtvorbereitung im Pfarralltag zu bedenken, die Stärken des Schreibens herauszuarbeiten und großen Chancen zu sehen, die die Technik der Überarbeitung eines Manuskriptes für den Predigtvortrag bringt, das sind Punkte, die zu diskutieren sind. Leider haben sie nur am Rande etwas mit der Konzeption präsenten Predigens zu tun. Die Autoren verlieren sich zu sehr in Scheingefechten mit Ansätzen einer freien Rede, die es so nicht gibt. Statt mit einer Streitschrift gegen eine vermeintliche Ideologisierung der freien Predigt wären die Autoren mit einem Plädoyer für das Schreiben als unverzichtbarem Element der Predigtvorbereitung und der Orientierung an homiletischer Präsenz besser gefahren. So bleibt das Konzept des präsenten Predigens eigentümlich blass und auch die zentrale These, dass gerade die solide Manuskriptarbeit eine große Freiheit beim Predigtvortrag ermögliche, wird nicht ausgearbeitet. Am Ende wünscht man sich, die Autoren hätten selbst von der Möglichkeit, ihr Manuskript gründlich zu überarbeiten, mehr Gebrauch gemacht.

Deeg, Alexander, Michael Meyer-Blanck, und Christian Stäblein: Präsent predigen. Eine Streitschrift wider die Ideologisierung der „freien“ Kanzelrede. 1. Aufl. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2011. ISBN 9783525620014 | 17,95 € | 118 S. [Amazon-Link]

homilia.de wird zum Blog

Nach sieben Jahren homilia.de als konventionelle Web-Seite stelle ich die Seite jetzt um auf einen Blog-Betrieb. Nach den ersten Erfahrungen mit dem holmespeare-Blog werde ich künftig alle homiletischen und schreibspezifischen Sachen hier posten. Der Umzug wird ein paar Tage in Anspruch nehmen. Bis dahin stehen die alten Artikel erst nach und nach wieder zur Verfügung.

Kathrin Oxen leitet künftig Predigtzentrum

Das Zentrum für Predigtkultur in Wittenberg bekommt eine neue Leiterin: Pfarrerin Kathrin Oxen wird Nachfolgerin von Alexander Deeg. Das hat die EKD mitgeteilt [zur Pressemeldung]. Oxen kommt aus der evangelisch-reformierten Kirche und ist Gemeindepfarrerin in Bützow in Mecklenburg. Im Atelier Sprache e.V. der Braunschweigischen Landeskirche hatte sie den „Meisterkurs Predigt“ absolviert, kommt also gewissermaßen „aus dem Stall“ von Martin Nicol und Alexander Deeg. 2008 hat sie einen Predigtpreis zum Calvinjahr gewonnen, 2009 den Predigtpreis der Deutschen Wirtschaft in der Kategorie „Beste Predigt“.

Steve Jobs als Prediger

Steve Jobs
Steve Jobs

Kann die öffentliche Rede von evangelischer Predigtkultur wichtige Impulse erwarten? Thomas Klie hat diese Erwartung an die Predigt und die Unterrichtenden in der Homiletik durchscheinen lassen. Sein Argument: Die Kirche sei die „einzig verbliebene gesellschaftliche Großinstanz, die sich noch professionell mit der Redekunst befasst“ (Der Beitrag der Kanzelrede zur rhetorischen Kultur unserer Gesellschaft, in: Evangelische Predigtkultur, S. 33).
Angesichts der neulich von der FAZ aufgeworfenen Frage, ob nicht mittlerweile andere Instanzen die Aufgabe der Predigt in unserer Gesellschaft übernommen haben, ein interessantes Dilemma: Theologische Fakultäten und Predigerseminare befassen sich als letzte Verbliebenen um professionelles Reden – dabei wird längst außerhalb der Kirchen zuweilen eindrucksvoller gepredigt als auf den Kanzeln. Dafür bietet nicht nur das Feuilleton gute Beispiele.
Eine zweifellos spannende Rede war die Ansprache von Apple-Gründer Steve Jobs bei der Abschlußfeier der Stanford University 2005. Im Zusammenhang mit Jobs Tod wird davon wieder berichtet, weil Jobs sehr eindrucksvoll über den Umgang mit Krankheit und Sterben sprach. Natürlich ist die Rede keine Predigt. Diesen Anspruch hätte Jobs sicher selbst nicht gehabt. Aber sie zeigt auf beeindruckende Weise, wie eine Rede von 15 min Dauer elementare Fragen des Lebens und Glaubens authentisch zur Sprache bringen kann. Was könnte Predigt sein, wenn sie davon lernen und sich inspirieren lassen würde?

In der ZDF-Mediathek findet sich aktuell eine Fassung mit deutschen Text, die das Anschauen lohnt.
[Link zur Rede von Steve Jobs in der ZDF-Mediathek]

Der Text der  Rede ist auf der Homepage der Stanford University zu finden. Eine einfache, deutsche Übersetzung findet sich im Blog humanity. Eine weitere, etwas elegantere im Blog macversus.

Tägliche Notizen

Ortheil-Cover: Schreiben dicht am lebenNotizbücher sind hip. Aber was schreibt man rein? Hanns-Josef Ortheil will mit seinem Buch „Schreiben dicht am Leben“ Hilfestellung geben. Keine Ratgeberliteratur sei die kleine Duden-Reihe zum Kreativen Schreiben, für die Ortheil zuständig ist, sondern ein „Meisterkurs“ (Verlagswerbung), der „sich an den Werkstätten der großen Schriftstellerinnen und Schriftsteller orientiert“ (S. 17). Entsprechend stellt das Buch kein Methodenkompendium dar, sondern zeigt, wie verschiedene Autoren ihre täglichen Notizen gemacht haben. „Schreibaufgaben“ vertiefen die einzelnen Kapitel durch Hinweise für eigene Notizversuche.

Dass sich die Reihe nicht nur auf Schreiben mit Stift und Papier beschränkt, sondern den Ansprüchen heutigen Schreibens gerecht werden will, zeigt sich daran, dass neben Ortheils Buch über Notizen und Skizzen auch ein Band über Journale und Tagebücher (Christian Schärf) sowie über Elektric Writing in Blogs und sozialen Netzwerken (Stephan Porombka) erschienen ist. Zum freilich handschriftlichen Ausprobieren gibt es zudem ein Notizbuch in der gleichen Aufmachung. Hier konzentriere ich mich auf Ortheils Buch.

Hanns-Josef Ortheil ist selbst manischer Notierer. In Interviews, aber auch in dem Band „Wie Romane entstehen“ (2008) hat er seinen Notiz-Zwang immer wieder reflektiert und mit der Kindheitserfahrung des Nicht-Redens sowie der Angst vor dem Verstummen in Verbindung gebracht. Die Notiz ist daher für Ortheil mehr als nur ein flüchtiges ins Unreine schreiben: Notieren ist „das ideale Stimulans der geistigen Kapazitäten und damit das literarische Koffein par excellence“ (S. 145). Eingebettet in größere Projekte gilt es, sich das tägliche Notieren anzugewöhnen: „Schon kurzfristige Unterbrechungen machen sich – wie bei einem Musiker, der einen kurzen Zeitraum nicht mehr an seinem Instrument geübt hat – sofort bemerkbar. Das Schreiben wird ungelenkt, langsam und hat wenig Frische. Das tägliche Notieren aber hält den Sprachfluss in Bewegung.“ (S. 148).

Nur am Rande interessierten Ortheil dabei technische Details. So wird von Robert Gernhardt berichtet, dass er seine „fast täglichen Aufzeichnungen in Blankoschulhefte der Firma ‚Brunnen’ im Format DIN A5“ (S. 130) vornahm und dabei gelbe Kugelschreiber der Marke BIC verwendete. Walter Benjamin verwendete dagegen Briefpapier etwa im A4-Format, das er in Mitte faltete und dann die Seiten 1 und 3 mit Füllfederhalter und Bleistift beschrieb (S. 116f), während Peter Handke Notizbücher „nie größer als DIN A6“ (S. 109) gebrauchte, die in die Jackentasche passen, so dass sie man sie auch unterwegs gebrauchen kann. Es geht Ortheil weniger um die technischen Aspekte des Notierens, als um die Notate selbst.

In neunzehn Kapiteln, die jeweils einen Autor und seine Weise des Notierens vorstellen, führt Ortheil durch ein breites Spektrum an Möglichkeiten. Diese neunzehn Weisen des Notierens sind noch einmal in vier Gruppen zusammengefasst.

Als „elementares Notieren“ stellt Ortheil Notizformen vor, die Beobachtungen möglichst direkt und ungefiltert festhalten. Ortheil findet solche Formen

1. bei Georges Perec, der seine Umgebung aus verschiedenen Perspektiven knapp registriert,
2. in der FAZ-Rubrik „Webcam“, die wie eine Webcam eine Alltagsbeobachtung aus einer Perspektive festhält,
3. bei Peter K. Wehli, der Situationen notiert wie fotografische Schnappschüsse,
4. bei Émile Zola, der wie ein Journalist Informationen sammelt und bis ins Detail recherchiert,
5. bei Rolf-Dieter Brinkmann, der seine Gedanken zu unterwegs Beobachtetem als inneren Monolog festhält.

Formen „bildlichen Notierens“ sieht Ortheil

6. bei Theophrast, der Charaktere durch besondere, prägende Kennzeichen porträtiert,
7. bei Gerard Manley Hopkins, der Eindrücke seiner Wanderungen wie ein Landschaftszeichner festhält,
8. bei Tokutomi Roka, der Beobachtungen in seiner Umwelt mit wenigen Federstrichen skizziert,
9. bei Francis Ponge, der Beobachtungen an unscheinbaren Alltagsdingen präzise registriert,
10. bei Akutagawa Ryunosuke, der eine Geschichte in drehbuchartigen Beschreibungen fixiert.

Die dritte Gruppe bündelt das Notieren von Emotionen und Passionen, stellvertretend zu finden

11. bei Sei Shonagon (der einzigen Frau im Buch), die ihre Vorlieben und Passionen z.B. in Listen sammelt,
12. bei Roland Barthes, der in der Trauer seine Erinnerungen an seine Mutter auf Zetteln festhält,
13. bei Fernando Pessoa, der innere Monologe einer erfundenen Figur in Form von Notizen formuliert,
14. bei Elias Canetti, der in seinen „Aufzeichnungen“ genannten Notizen Gedanken konzentriert und zuspitzt,
15. bei Peter Handke, der seine täglichen, poetischen Konzentrationen erfasst.

Zu Formen des „klassischen Notierens“ findet Ortheil ideale Beispiele

16. bei Walter Benjamin, der in klassischer Gelehrtenmanier notierte und exzerpierte,
17. bei Georg Christoph Lichtenberg, der seine Gedanken sammelte wie in kaufmännischen „Sudelbüchern“,
18. bei Robert Gernhardt, der Lichtenbergs Methode aufnahm und zur Feldforschung in fremder Umgebung gebrauchte,
19. bei Paul Valéry, der Morgens früh um Fünf begann, seine Gedankenkreise und Denkwege zu notieren.

Der Ansatz, jeweils einen Autor und seine Art, Notizen zu machen, ist natürlich nicht unproblematisch. Zum einen fällt so natürlich auf, dass weitere berühmte Notizbuchschreiber wie Bruce Chatwin oder Ludwig Hohl nicht einmal erwähnt werden. Das liegt sicherlich daran, dass sie unter eine der neunzehn Ansätze fallen, aber hier wäre es interessant zu lesen, wie Ortheil typologisiert. Letztlich muss man aber zugestehen, dass so ein schmales Büchlein weder Vollständigkeit erreichen kann, noch überhaupt anstreben wird.

Der zweite Einwand ist darum gewichtiger: Auch wenn das Inhaltsverzeichnis klar gegliedert ist und die Systematik über die den Rahmen gebenden Schreibprojekte durchaus funktioniert, fehlt doch ein wenig der methodische Aufbau, wie er in manchen Titeln der von Ortheil etwas despektierlich bezeichneten „Ratgeberliteratur“ zu finden ist. (Eine Bemerkung am Rande: Warum die ersten beiden Gruppierungen „Textprojekte und Schreibaufgaben“ heißen, die letzten beiden aber „Texte und Schreibaufgaben“ leuchtet nicht ein). Ich muss gestehen: Ich hatte erwartet, dass gerade jemand wie Ortheil, mehr Einblick gibt, wie er mit den Notizen weiter umgeht. In „Wie Romane entstehen“ hat Ortheil beispielsweise auf zwei Seiten (S. 40f) ein ganzes Notiz-System skizziert, über das man gerne mehr erfahren möchte. „Schreiben dicht am Leben“ hätte dazu sicher Raum gegeben.

Die Schreibaufgaben, mit denen jedes Kapitel endet, sind im Prinzip methodische Bündelungen des jeweiligen Ansatzes und helfen, den beschriebenen Notizstil zu imitieren. Es sind keine kurzen Übungen, sondern kleine Schreibprojekte über einen längeren Zeitraum. Wer sie alle umsetzen wollte, dürfe damit mehr als einige Monate beschäftigt sein, insbesondere, wenn man die Regel zu Lichtenberg umsetzen will: „Datieren Sie Ihre Aufzeichnungen nicht. Beginnen Sie einfach mit einem Heft A und nummerieren Sie dann ihre Aufzeichnungen durch. Verwechseln Sie das Sudelbuch nicht mit einem Tagebuch. Notieren Sie also nicht ihre Befindlichkeiten, sondern Details, Zusammenhänge und Geschichten, die Ihnen von außen zugetragen wurden oder auf die Sie während Ihrer Lektüren gestoßen sind. Führen Sie Ihre Aufzeichnungen bis zu Ihrem Tod.“ (S. 128f) Das entbehrt zumindest nicht eines feinen Humors.

Mir persönlich hat der Abschnitt IV über das klassische Notieren am besten gefallen, weil er meinen überwiegenden „Schreibprojekten“, nämlichen theologisch-philosophischen Arbeiten und Predigten, am nächsten kommt. Allerdings ist es eher so, dass ich den Abschnitt zum Lesen empfehlen kann – viele neue Hinweise habe ich nicht bekommen. Hier waren es eher kleine Hinweise und Entdeckungen in anderen Kapiteln, die inspirierend sind.

Fazit: Ob es die im Vorwort erwähnte Zielgruppe von Menschen tatsächlich gibt, die ein Notizbuch hat, aber nicht weiß, wozu, sei einmal dahingestellt. Trotzdem ist das Buch zu empfehlen: Zum einen Notizbuchnutzern, die ihre eigene Praxis weiter entfalten, entwickeln, ausbauen möchten, zum anderen allen, die schreiben, aber bislang kein Notizbuch verwenden – denn sie finden hier überzeugend dargelegt, dass das Notieren und Skizzieren eine unverzichtbare Grundform des Schreibens ist. Technisch-pragmatische Hinweise zum Führen eines Notizbuchs gibt es nicht. Insbesondere Predigerinnen und Prediger finden hier aber dennoch einige Anregungen dazu, Beobachtungen, Einfälle, Illustrationen für den einen eventuellen, späteren Gebrauch zu sammeln und täglich an der eigenen Sprache zu arbeiten.
Hanns-Josef Ortheil: Schreiben dicht am Leben. Notieren und Skizzieren, 1. Aufl. Bibliographisches Institut, Mannheim, 2011.
ISBN 3411749113 | 14,95 € | 159 S. [Amazon-Link]

Predigt und Kanzelrede

Sind die Wörter „Predigt“ und Kanzelrede“ eigentlich Synonyme? Wer in die Untertitel der beiden in diesem Jahr erschienenen Bücher „Präsent predigen“ und „Evangelische Predigtkultur“ schaut – beide mitherausgegeben von Alexander Deeg – könnte einen entsprechenden Eindruck gewinnen. Auch in diesem Jahr erschienen ist eine Sammlung von Predigten und Kanzelreden mit Herzen, Mund und Händen (herausgegeben von Kathrin Göring-Eckardt und Gerald Hagmann). Hier wird offenbar unterschieden.

Tatsächlich war im 19. Jahrhundert der Ausdruck „Kanzelrede“ im Sinne von Predigt durchaus verbreitet – wobei der Ausdruck zum Teil auch für Ansprachen im Gottesdienst verwendet wurde, die neben der eigentlichen Predigt gehalten wurden. Soweit ich das überblicke hat es eine wirklich scharfe Trennung nie gegeben. In den letzten Jahren hat sich aber ein bestimmter Wortgebrauch etabliert. Danach sind „Kanzelreden“ Reden auf der Kanzel von nicht-ordinierten Rednern, oft Politikern oder Künstlern.

Hintergrund ist das sogenannte Kanzelrecht, das in den unterschiedlichen Gliedkirchen der EKD zwar unterschiedliche gehandgabt wird, das aber einen Kern hat: Eine eigenständig erabeitete Predigt darf grundsätzlich nur von einer dazu von der Kirche ordinierten Person vorgetragen werden – das sind Pfarrerinnen und Pfarrer, sowie Prädikantinnen und Prädikanten. Soll ein nicht-ordinierter Gast in einem Gottesdienst predigen, bedarf es dazu der Zustimmung des Pfarrers oder des Presbyteriums/Kirchenvorstands (hier sind die Regelungen uneinheitlich). Statt von Predigt wird deshalb von Kanzelrede gesprochen. Diesem Wortgebrauch folgt der Band von Göring-Eckardt und Hagmann, der auf eine besondere Predigtreihe im Rahmen der Kulturhauptstadt 2010 in Bochum zurückgeht. (Für Notfälle, also wenn kein Pfarrer zum Gottesdient erscheinen kann, gibt es sog. Lesepredigten, die z.B. von einem Presbyter vorgetragen werden können.)

„Kanzelrede“ markiert den Ort, von dem aus geredet wird. Das macht Hans Martin Müller in seiner Homiletik deutlich, wenn er – im Rückgriff auf Schleiermacher – betont, dass die (monologische) Predigt auf der Kanzel eine bloß historisch bedingte Erscheinungsform und mithin die Kanzelrede nicht identisch mit der Predigt ist (S. 182f). In vielen Gemeinden wird gar nicht mehr oder nur in besonderen Situationen von der Kanzel geredet: Moderne Kommunikationstechnik macht die ursprünglich aus akkustischen Gründen errichteten Kanzeln eigentlich überflüssig. Es gibt sogar Kirchen, in den denen die Kanzel nur noch zu „Kanzelreden“ verwendet wird – also dann, wenn ein Gastredner spricht.

Die Kanzel ist natürlich ein wichtiger symbolischer Ort. Sie ist symbolischer Ort, weil sie zusammen mit Altar und Taufstein zu den Prinzipalstücken, die seit dem 17. Jahrhundert die meisten evangelische Chorräume prägen – meist am Chorbogen anbebracht. Während die anderen beiden Prinzipalien Abendmahl und Taufe repräsentieren steht die Kanzel für das Wort Gottes. Dabei wurde unterschieden zwischen dem Ambo als Ort der Lesung und der Kanzel aus Ort der vom Prediger zu verantwortenden Auslegung. Wegen dieser symbolischen Bedeutung bleibt die Kanzel in manchen Gemeinden ausschließlich Pfarrern und Prädikanten vorbehalten – Gastredner müssen an den Ambo oder eine besondere Redestelle ausweichen. Liturgisch ist eine solche theologische Überhöhung der Kanzel aber unsinnig.
Die Kanzel ist aber auch in negativer Hinsicht symbolischer Ort für ein pfarrherrliches „von oben herab“ und für ein umgangssprachliche gewordenes „abkanzeln“. Predigerinnen und Prediger nutzen deshalb seit den 1970er Jahren andere Predigtorte, vor allem um auf Augenhöhe mit der Gemeinde zu reden. Das dürfte mit ein Grund dafür sein, dass es in vielen neueren Kirchen gar keine Kanzel mehr gibt, sondern nur noch einen Ort für Lesung und Predigt: Ambo und Kanzel verschmelzen gewissermaßen wieder, wie zur Zeit vor der Reformation.

Predigt und Kanzelrede sind also nicht synonym. „Kanzelrede“ kennzeichnet entweder eine Predigt durch den Ort, an dem sie gehalten wird oder sie kennzeichnet eine Rede auf der Kanzel von jemandem, der nicht qua Amt, sondern ausnahmsweise dazu beauftragt ist. Da sich letztes in der Vergangenheit als Sprachgebrauch etabliert hat, spricht manches dafür, den Begriff für solche Formen der Rede von Gastrednern in einer Kirche zu reservieren – selbst wenn es in der Kirche gar keine Kanzel gibt.

Notizbuch in anthropologischer Betrachtung

Notizbücher können auch für Anthropologen spannend sein. Michael Taussig, australischer Anthropologe mit Lehrstuhl in den USA, hat jedenfalls einen Aufsatz über die Fazination von Notizbüchern geschrieben. Der Notizbuchschreiber Taussig kommt, nach Betrachtung der Praxis anderer Notizbuchschreiber, zu dem Schluss, dass ein Notizbuch nicht einfach ein Werkzeug und Gebrauchsgegenstand ist, sondern ein Fetisch.
Das Heftchen ist als erster Band der Reihe „100 Notes – 100 Thoughts“ als Vorbereitungsband zur Documenta XIII erschienen – und der Preis eine echte Unverschämtheit – da kann ich Christoph Zirkel vom Schreibschrift-Blog nur zustimmen: Der Aufsatz erscheint in deutsch und englisch und umfasst jeweils gerade mal 12 Seiten. Bei einem Preis von 8,- € ist das eine ganze Menge. Im Abo kosten alle Hefte der Reihe 600,- € (!).
Zumindest kann man einen kurzen Blick in das Heft auf der documenta-Seite werfen. Zur Bestellung wird man auf die Verlagsseite weitergeleitet, wo noch einmal Versandkosten ist Höhe von 4,30€ anfallen. Günstiger geht es über Amazon – gleicher Preis, aber versandkostenfrei. Sollte ich mich zum Kauf entschließen, werde ich hier mal noch meine Leseerfahrungen berichten.