Tagebuch schreiben scheint einfach und voraussetzungslos: eine Kladde und ein Stift genügen, um mit täglichen Aufzeichnungen aus dem eigenen Leben zu beginnen. Probleme scheint es allenfalls damit zu geben, wirklich regelmäßig zu schreiben. Aber stimmt dieser Eindruck? Wie schon in Ortheils „Schreiben dicht am Leben“ stellt Christian Schärf im zweiten Band der Duden-Reihe „Kreatives Schreiben“ an konkreten Beispielen Möglichkeiten des Tagebuchschreibens vor. „Täglich Schreiben“ weiterlesen
Tägliche Notizen
Notizbücher sind hip. Aber was schreibt man rein? Hanns-Josef Ortheil will mit seinem Buch „Schreiben dicht am Leben“ Hilfestellung geben. Keine Ratgeberliteratur sei die kleine Duden-Reihe zum Kreativen Schreiben, für die Ortheil zuständig ist, sondern ein „Meisterkurs“ (Verlagswerbung), der „sich an den Werkstätten der großen Schriftstellerinnen und Schriftsteller orientiert“ (S. 17). Entsprechend stellt das Buch kein Methodenkompendium dar, sondern zeigt, wie verschiedene Autoren ihre täglichen Notizen gemacht haben. „Schreibaufgaben“ vertiefen die einzelnen Kapitel durch Hinweise für eigene Notizversuche.
Dass sich die Reihe nicht nur auf Schreiben mit Stift und Papier beschränkt, sondern den Ansprüchen heutigen Schreibens gerecht werden will, zeigt sich daran, dass neben Ortheils Buch über Notizen und Skizzen auch ein Band über Journale und Tagebücher (Christian Schärf) sowie über Elektric Writing in Blogs und sozialen Netzwerken (Stephan Porombka) erschienen ist. Zum freilich handschriftlichen Ausprobieren gibt es zudem ein Notizbuch in der gleichen Aufmachung. Hier konzentriere ich mich auf Ortheils Buch.
Hanns-Josef Ortheil ist selbst manischer Notierer. In Interviews, aber auch in dem Band „Wie Romane entstehen“ (2008) hat er seinen Notiz-Zwang immer wieder reflektiert und mit der Kindheitserfahrung des Nicht-Redens sowie der Angst vor dem Verstummen in Verbindung gebracht. Die Notiz ist daher für Ortheil mehr als nur ein flüchtiges ins Unreine schreiben: Notieren ist „das ideale Stimulans der geistigen Kapazitäten und damit das literarische Koffein par excellence“ (S. 145). Eingebettet in größere Projekte gilt es, sich das tägliche Notieren anzugewöhnen: „Schon kurzfristige Unterbrechungen machen sich – wie bei einem Musiker, der einen kurzen Zeitraum nicht mehr an seinem Instrument geübt hat – sofort bemerkbar. Das Schreiben wird ungelenkt, langsam und hat wenig Frische. Das tägliche Notieren aber hält den Sprachfluss in Bewegung.“ (S. 148).
Nur am Rande interessierten Ortheil dabei technische Details. So wird von Robert Gernhardt berichtet, dass er seine „fast täglichen Aufzeichnungen in Blankoschulhefte der Firma ‚Brunnen’ im Format DIN A5“ (S. 130) vornahm und dabei gelbe Kugelschreiber der Marke BIC verwendete. Walter Benjamin verwendete dagegen Briefpapier etwa im A4-Format, das er in Mitte faltete und dann die Seiten 1 und 3 mit Füllfederhalter und Bleistift beschrieb (S. 116f), während Peter Handke Notizbücher „nie größer als DIN A6“ (S. 109) gebrauchte, die in die Jackentasche passen, so dass sie man sie auch unterwegs gebrauchen kann. Es geht Ortheil weniger um die technischen Aspekte des Notierens, als um die Notate selbst.
In neunzehn Kapiteln, die jeweils einen Autor und seine Weise des Notierens vorstellen, führt Ortheil durch ein breites Spektrum an Möglichkeiten. Diese neunzehn Weisen des Notierens sind noch einmal in vier Gruppen zusammengefasst.
Als „elementares Notieren“ stellt Ortheil Notizformen vor, die Beobachtungen möglichst direkt und ungefiltert festhalten. Ortheil findet solche Formen
1. bei Georges Perec, der seine Umgebung aus verschiedenen Perspektiven knapp registriert,
2. in der FAZ-Rubrik „Webcam“, die wie eine Webcam eine Alltagsbeobachtung aus einer Perspektive festhält,
3. bei Peter K. Wehli, der Situationen notiert wie fotografische Schnappschüsse,
4. bei Émile Zola, der wie ein Journalist Informationen sammelt und bis ins Detail recherchiert,
5. bei Rolf-Dieter Brinkmann, der seine Gedanken zu unterwegs Beobachtetem als inneren Monolog festhält.
Formen „bildlichen Notierens“ sieht Ortheil
6. bei Theophrast, der Charaktere durch besondere, prägende Kennzeichen porträtiert,
7. bei Gerard Manley Hopkins, der Eindrücke seiner Wanderungen wie ein Landschaftszeichner festhält,
8. bei Tokutomi Roka, der Beobachtungen in seiner Umwelt mit wenigen Federstrichen skizziert,
9. bei Francis Ponge, der Beobachtungen an unscheinbaren Alltagsdingen präzise registriert,
10. bei Akutagawa Ryunosuke, der eine Geschichte in drehbuchartigen Beschreibungen fixiert.
Die dritte Gruppe bündelt das Notieren von Emotionen und Passionen, stellvertretend zu finden
11. bei Sei Shonagon (der einzigen Frau im Buch), die ihre Vorlieben und Passionen z.B. in Listen sammelt,
12. bei Roland Barthes, der in der Trauer seine Erinnerungen an seine Mutter auf Zetteln festhält,
13. bei Fernando Pessoa, der innere Monologe einer erfundenen Figur in Form von Notizen formuliert,
14. bei Elias Canetti, der in seinen „Aufzeichnungen“ genannten Notizen Gedanken konzentriert und zuspitzt,
15. bei Peter Handke, der seine täglichen, poetischen Konzentrationen erfasst.
Zu Formen des „klassischen Notierens“ findet Ortheil ideale Beispiele
16. bei Walter Benjamin, der in klassischer Gelehrtenmanier notierte und exzerpierte,
17. bei Georg Christoph Lichtenberg, der seine Gedanken sammelte wie in kaufmännischen „Sudelbüchern“,
18. bei Robert Gernhardt, der Lichtenbergs Methode aufnahm und zur Feldforschung in fremder Umgebung gebrauchte,
19. bei Paul Valéry, der Morgens früh um Fünf begann, seine Gedankenkreise und Denkwege zu notieren.
Der Ansatz, jeweils einen Autor und seine Art, Notizen zu machen, ist natürlich nicht unproblematisch. Zum einen fällt so natürlich auf, dass weitere berühmte Notizbuchschreiber wie Bruce Chatwin oder Ludwig Hohl nicht einmal erwähnt werden. Das liegt sicherlich daran, dass sie unter eine der neunzehn Ansätze fallen, aber hier wäre es interessant zu lesen, wie Ortheil typologisiert. Letztlich muss man aber zugestehen, dass so ein schmales Büchlein weder Vollständigkeit erreichen kann, noch überhaupt anstreben wird.
Der zweite Einwand ist darum gewichtiger: Auch wenn das Inhaltsverzeichnis klar gegliedert ist und die Systematik über die den Rahmen gebenden Schreibprojekte durchaus funktioniert, fehlt doch ein wenig der methodische Aufbau, wie er in manchen Titeln der von Ortheil etwas despektierlich bezeichneten „Ratgeberliteratur“ zu finden ist. (Eine Bemerkung am Rande: Warum die ersten beiden Gruppierungen „Textprojekte und Schreibaufgaben“ heißen, die letzten beiden aber „Texte und Schreibaufgaben“ leuchtet nicht ein). Ich muss gestehen: Ich hatte erwartet, dass gerade jemand wie Ortheil, mehr Einblick gibt, wie er mit den Notizen weiter umgeht. In „Wie Romane entstehen“ hat Ortheil beispielsweise auf zwei Seiten (S. 40f) ein ganzes Notiz-System skizziert, über das man gerne mehr erfahren möchte. „Schreiben dicht am Leben“ hätte dazu sicher Raum gegeben.
Die Schreibaufgaben, mit denen jedes Kapitel endet, sind im Prinzip methodische Bündelungen des jeweiligen Ansatzes und helfen, den beschriebenen Notizstil zu imitieren. Es sind keine kurzen Übungen, sondern kleine Schreibprojekte über einen längeren Zeitraum. Wer sie alle umsetzen wollte, dürfe damit mehr als einige Monate beschäftigt sein, insbesondere, wenn man die Regel zu Lichtenberg umsetzen will: „Datieren Sie Ihre Aufzeichnungen nicht. Beginnen Sie einfach mit einem Heft A und nummerieren Sie dann ihre Aufzeichnungen durch. Verwechseln Sie das Sudelbuch nicht mit einem Tagebuch. Notieren Sie also nicht ihre Befindlichkeiten, sondern Details, Zusammenhänge und Geschichten, die Ihnen von außen zugetragen wurden oder auf die Sie während Ihrer Lektüren gestoßen sind. Führen Sie Ihre Aufzeichnungen bis zu Ihrem Tod.“ (S. 128f) Das entbehrt zumindest nicht eines feinen Humors.
Mir persönlich hat der Abschnitt IV über das klassische Notieren am besten gefallen, weil er meinen überwiegenden „Schreibprojekten“, nämlichen theologisch-philosophischen Arbeiten und Predigten, am nächsten kommt. Allerdings ist es eher so, dass ich den Abschnitt zum Lesen empfehlen kann – viele neue Hinweise habe ich nicht bekommen. Hier waren es eher kleine Hinweise und Entdeckungen in anderen Kapiteln, die inspirierend sind.
Fazit: Ob es die im Vorwort erwähnte Zielgruppe von Menschen tatsächlich gibt, die ein Notizbuch hat, aber nicht weiß, wozu, sei einmal dahingestellt. Trotzdem ist das Buch zu empfehlen: Zum einen Notizbuchnutzern, die ihre eigene Praxis weiter entfalten, entwickeln, ausbauen möchten, zum anderen allen, die schreiben, aber bislang kein Notizbuch verwenden – denn sie finden hier überzeugend dargelegt, dass das Notieren und Skizzieren eine unverzichtbare Grundform des Schreibens ist. Technisch-pragmatische Hinweise zum Führen eines Notizbuchs gibt es nicht. Insbesondere Predigerinnen und Prediger finden hier aber dennoch einige Anregungen dazu, Beobachtungen, Einfälle, Illustrationen für den einen eventuellen, späteren Gebrauch zu sammeln und täglich an der eigenen Sprache zu arbeiten.
Hanns-Josef Ortheil: Schreiben dicht am Leben. Notieren und Skizzieren, 1. Aufl. Bibliographisches Institut, Mannheim, 2011.
ISBN 3411749113 | 14,95 € | 159 S. [Amazon-Link]
Notizbuch in anthropologischer Betrachtung
Notizbücher können auch für Anthropologen spannend sein. Michael Taussig, australischer Anthropologe mit Lehrstuhl in den USA, hat jedenfalls einen Aufsatz über die Fazination von Notizbüchern geschrieben. Der Notizbuchschreiber Taussig kommt, nach Betrachtung der Praxis anderer Notizbuchschreiber, zu dem Schluss, dass ein Notizbuch nicht einfach ein Werkzeug und Gebrauchsgegenstand ist, sondern ein Fetisch.
Das Heftchen ist als erster Band der Reihe „100 Notes – 100 Thoughts“ als Vorbereitungsband zur Documenta XIII erschienen – und der Preis eine echte Unverschämtheit – da kann ich Christoph Zirkel vom Schreibschrift-Blog nur zustimmen: Der Aufsatz erscheint in deutsch und englisch und umfasst jeweils gerade mal 12 Seiten. Bei einem Preis von 8,- € ist das eine ganze Menge. Im Abo kosten alle Hefte der Reihe 600,- € (!).
Zumindest kann man einen kurzen Blick in das Heft auf der documenta-Seite werfen. Zur Bestellung wird man auf die Verlagsseite weitergeleitet, wo noch einmal Versandkosten ist Höhe von 4,30€ anfallen. Günstiger geht es über Amazon – gleicher Preis, aber versandkostenfrei. Sollte ich mich zum Kauf entschließen, werde ich hier mal noch meine Leseerfahrungen berichten.
Tipps zum Notizbuch
25 Tipps zum Gebrauch von Notizbüchern hat Christian Mähler vom notizbuchblog in einem kleinen, kostenlosen eBook zusammen gefasst. Das Buch steht im Blog zum Download bereit [Link zum direkten Download: http://bit.ly/nbbebook].
Mähler nennt seine Tipps „Regeln“ – das klingt für meinen Geschmack zwar ein bisschen zu sehr nach „Norm“ und „Vorschrift“, ist aber in jedem Fall lesenwert, selbst wenn man nicht jede Regel umsetzen mag. Immerhin fasst das Bändchen 15 Jahre Erfahrung im Umgang mit Notizbüchern zusammen.
Seine Erfahrungen hatte Mähler schon in seinem Blog – übrigens unter der Rubrik „Tipps“! – veröffentlicht. Sie stehen dort auch weiter zur Verfügung – glücklicherweise, denn im eBook fehlen leider die Fotos, die manche Ideen schneller nachvollziehbar machen.
Eine inspirierende Lektüre.
„Ich schreibe einfach.“
„Ich schreibe einfach“, antwortet Georg Bühren auf den Impulssatz „Ich schreibe, weil …“. Im Rahmen eines interdisziplinären Projektes wurden 36 westfälische Autorinnen und Autoren – darunter Fritz Eckenga, Wiglaf Droste und Frank Goosen – danach gefragt, warum sie schreiben, woher sie ihre Inspiration nehmen, wie sie ihren Schreiballtag organisieren oder mit Schreibblockaden umgehen. In einer Ausstellung in Haus Nottbeck werden die Ergebnisse zur Zeit (noch bis zum 9. Oktober) präsentiert.
Hintergrund der Ausstellung ist eine neue Rubrik auf der Portalseite literaturportal-westfalen.de: Das Internet-Portal, das seit 2008 online ist, bietet multimedial aufbereitete Erkundungen in die westfälische Literatur. Die neue Rubrik bietet ein Video-Portal, in dem die 36 Schriftstellerinnen und Schriftsteller in einem Standardinterview ihren Schreiballtag beschreiben. Neben dem Interview-Video ist jeweils ein weiteres Video mit einer Lesung zu sehen. Walter Gödden von der LWL-Literaturkommission und Thomas Strauch vom Zentrum für Informations- und Medientechnologien der Uni Paderborn haben das Projekt maßgeblich betrieben.
Wer die Ausstellungsräume in Haus Nottbeck kennt, weiß, dass für die wechselnden Austellungen nicht viel Raum zur Verfügung steht: im Hauptraum sind Informationstafeln zu den Autorinnen und Autoren angebracht und es gibt Würfel mit Zitaten aus den Interviews. An einem Terminal lassen sich thematische Zusammenschritte aus den Antworten zu bestimmten Fragekomplexen anhören (eigentlich ist es wohl eine Video-Installation, aber als ich dort war, lief der Beamer nicht). Im Keller läuft ein Video mit den Lesungen. Das war es. Abgesehen davon, dass ein Besuch des Museums für Westfälische Literatur in Haus Nottbeck natürlich immer lohnt, ist eine Anreise allein für die Ausstellung also wenig ratsam – zumal die Interviews ja bequem zuhause am Rechner angeschaut werden können.
Zur Ausstellung ist allerdings ein Katalog erschienen, den man für 20€ in Haus Nottbeck erstehen kann oder im dortigen Online-Shop bestellen kann (bei Amazon ist der Titel vorhanden, aber nicht lieferbar). Der Katalog enthält neben zwei Aufsätzen von Gödden und Strauch die vollständig abgedruckten Interviews und eine DVD, auf der die thematischen Zusammenschritte aus den Interviews zu hören und zu sehen sind.
Reizvoll an den Interviews ist die große Bandbreite der vier (!) Autorinnen und 32 Autoren: vom Lyriker über den Poetry-Slammer bis hin zu Kinderbuchautoren und Heftchenschreibern ist alles vertreten. Ein einzigartiges und sehr spannendes Projekt.
Notizbuchblog
Computer oder Handschrift – das ist hier die Frage? Nicht nur in diversen Produktivitätsblogs, auch bei Pastoren begegnen einem beide konträre Auffassungen. Im Rahmen von Simplify-Tendenzen wird dabei zunehmend die Stärke von Papier und Stift wieder entdeckt. Eine nicht unwichtige Sache ist dabei der Kult schönen Materials: Kolbenfüller, Moleskine-Notizbücher, elegante Papiere …
Ich selbst fahre disbezüglich auch zweigleisig: Die Grundausstattung ist ein einfaches Notizbuch mit befestigtem Stift und mein iPhone (das an die Stelle des heißgeliebten Palm getreten ist). Weil die Stifthalter oft entweder nicht dran sind oder nur für bestimmte Stifte, mache ich meinen Stifthalter selbst: ein Gummiband wird einfach festgetackert (geht natürlich nur mit einem stabilen Tacker). So kann ich im Prinzip überall Notizen und Predigteinfälle festhalten.
Was die Notizbücher angeht, bin ich nicht wählerisch. Am liebsten unliniert, aber das gibt es nicht immer. Sehr inspirierend ist da das bei Notizbuchblog von Christian Mähler – über „Notizbücher und die ganze Welt drumherum“. Exquisites Notizschreibzeug, das ohne Akku auskommt.
Für mich hat sich das Notizbuch auch als Filter und Fundgrube entwickelt: alles, was wichtig erscheint, wird abgetippt und in den Zettelkasten eingefügt. Manchmal zeigt sich da schon am Abend, dass ein Gedanke nur wenige Stunden lang wirklich interessant bleibt. Andererseits finde ich manchmal nach Monaten oder sogar Jahren in einem alten Notizbuch, das dann wie ein Tagebuch wirkt, alte Gedanken und Beobachtungen, die erst durch die zeitliche Distanz interessant werden – und manchmal Eingang finden in eine neue Predigt.
Tagebuch-Hack
In Bud Caddell’s Blog „What consumes me“ findet sich die kleine Idee eines Moleskine-Hacks: Ein Tagebuch-Eintrag enthält drei Bereiche: eine Liste der Dinge, die man am Tag getan hat, persönliche Gedanken und ein Glück-o-Meter. Vor allem die abgetrennte Ereignisliste finde ich eine gute Idee. Oft möchte ich einfach nur in einer Notiz festhalten, was war. Das unterbricht aber oft den Gedankenfluß – oder passt einfach nicht dazu.
Die Moral von der Geschicht
Jede Erzählung, so behauptet Benjamin in Der Erzähler, führt „offen oder versteckt, ihren Nutzen mit sich“ (388), und zwar in Gestalt einer Moral, einer Anweisung, eines Sprichworts oder einer Lebensregel. Der Erzähler ist „ein Mann, der dem Hörer Rat weiß“ (388). Der veraltete Stil Benjamins, der einem fast nostalgische Schwingungen beschert, lenkt schnell darüber hinweg, dass seine Analyse harsch ist: „Rat, in den Stoff gelebten Lebens eingewebt, ist Weisheit. Die Kunst des Erzählens neigt ihrem Ende zu, weil die epische Seite der Wahrheit, die Weisheit, ausstirbt.“ (388) – Ich bin mir nicht sicher, in wie weit ich dem zustimmen kann.
Zum einen ist der Punkt interesssant, dass Weisheit als „epische Seite der Wahrheit“ bestimmt wird. Heute gilt gemeinhin gerade die knappe Meldung als Wahrheit, und gerade nicht die epische Breite. Aber auch wenn es wahr ist, ist es nicht unbedingt weise: Die Evangelien sind ein wunderbares Beispiel dafür, wie die Weisheit gerade in der Erzählung seine eigentliche Form findet.
Auf der anderen Seite hat mittlerweile z.B. die Filmindustrie es wunderbar verstanden, die „epische Seite der Wahrheit“ auszubreiten und im Plot zu verdichten. Heute wird mehr Moral im Kino verkündet als von der Kanzel. Und es gelingt gerade durch moderne Formen des Erzählens, wie der Film. Vielleicht wäre Benjamin ganz platt, wenn er sehen würde, wie platt heute erzählerische Weisheit sein kann.
Erzähler als Handwerker
Walter Benjamin denkt am Werk Nikolai Lesskows entlang über den Erzähler nach (in Illuminationen). Es gibt, so Benjamins These, immer weniger Menschen, die noch erzählen können: Die Kunst des Erzählens geht zu Ende. Damit geht eine wichtige Fähigkeit verloren, nämlich die, Erfahrungen auszutauschen. Ursache dafür ist, daß die Erfahrung an Bedeutung verloren hat. Wichtig hierfür die Erfahrung des (1.) Weltkriegs, die zum verstummen führte: „nicht reicher – ärmer an mitteilbarer Erfahrung“ (386) kamen die Soldaten aus dem Krieg.
Grundlage der Erzählung ist die von Mund zu Mund weitergegebene Erfahrung. Die Erzähler lassen sich in zwei Gruppen unterteilen, die Reisenden, die aus der Ferne berichten, und die Daheimgebliebenen, die Geschichten und Überlieferungen ihrer Umgebung kennen. Personifiziert sind die Gruppen in Seeleuten einerseits, im Ackerbauern andererseits. Zusammen kommen beide Gruppen im Handwerker, den wandernden Burschen und den seßhaften Meistern, die früher selber wanderten. „Wenn Bauern und Seeleute Altmeister des Erzählens gewesen sind, so war der Handwerksstand seine hohe Schule. In ihm verband sich die Kunde von der Ferne, wie der Vielgewanderte sie nach Hause bringt, mit der Kunde aus der Vergangenheit, wie sie am liebsten dem Seßhaften sich anvertraut.“ (387)
Zettel in der Schachtel
Wittgensteins Arbeitsweise bestand darin „aus der großen Menge dessen, was er schrieb, kurze, unabhängige Stücke als relativ befriedigend auszuwählen und sie in Gruppen zusammenzuordnen“ (Anscomb und von Wright im Vorwort zu Zettel). In seinem Nachlass fand sich aber auch eine Schachtel mit überwiegend ungeordneten Zetteln, bei denen unklar geblieben ist, wozu Wittgenstein sie gesammelt hat. Es sind zum Teil Fragmente, die die Herausgeber erst ergänzen mussten. Aber das macht diese Zettel so spannend: Sie sind wie kleine Skizzen, die nicht den Wert einer großen Zeichnung haben, aber einen Gedanken erahnen lassen. – Schön ist diesem Zusammenhang das Verb „zusammenordnen“.